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Mordkommission Köln

Stille Vergeltung
Kriminalroman von Andreas Schnurbusch

Dla Romualda

Impressum

Math. Lempertz GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus zu vervielfältigen oder auf Datenträger aufzuzeichnen.

1. Auflage – November 2016

Text: Andreas Schnurbusch

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Umschlaggestaltung: Ralph Handmann

ISBN: 978-3-945152-35-5

Andreas Schnurbusch wurde 1960 in Herzberg am Harz geboren. Nach dem Abitur ließ er sich zum Schutzpolizisten ausbilden und arbeitete bis 1986 im Streifendienst der Kölner Polizei. Nach seinem Fachhochschulstudium mit Schwerpunkt Kriminalistik und Kriminologie wechselte er zur Kriminalpolizei, arbeitete zehn Jahre als Rauschgiftfahnder und sporadisch in Mordkommissionen, ab 1999 als Kommissionsleiter für den Bereich gewerbs- und bandenmäßige Schleusungsdelikte, Falschgeld, Glückspiel und Urkundsdelikte und seit November 2015 im Bereich der Analyse und Auswertung der allgemeinen Kriminalität.

Rache ist ein Geständnis des Schmerzes.

Lucius Annaeus Seneca

Inhalt

Sommer 1998

Zwei Wochen später

Sommer 2016

Ausblick…

Danksagung

Weitere e-books in der Edition Lempertz

Sommer 1998

Rumms! Doktor Milashi wurde in seinem Geländewagen kräftig durchgeschüttelt; das linke Vorderrad war plötzlich in ein Schlagloch eingesackt. Er drosselte die Geschwindigkeit und versuchte jetzt, im Schritttempo vorsichtig die riesigen Straßenlöcher zu umfahren. Der aufgewirbelte Staub versperrte ihm die Sicht, die Stoßdämpfer des Mitsubishis schlugen ständig auf dem steinigen Weg durch.

Alte Steinmale säumten den Weg zum Dorf Ljubo am Rande des Šar Planina-Gebirgszuges. Es war eine ärmliche Gegend, die Straßen weder asphaltiert noch beleuchtet. Weit und breit gab es weder Geschäfte noch andere Dienstleistungsbetriebe. Luxus dieser Art kannten die hiesigen Bewohner nicht. Hier lebten überwiegend Bauern, Hirten und Waldarbeiter, die mehr als zwölf Stunden am Tag arbeiten mussten, um ihre Familien zu ernähren.

Auf den Feldern links und rechts wurde der Winterweizen ausgesät. Die Männer lachten freundlich und winkten, als sie den Wagen ihres Doktors sahen.

Der Weg wurde etwas besser, je näher Doktor Milashi dem Dorf kam. Doch hinter der letzten Kurve musste er wieder langsamer fahren, weil vor ihm ein alter Mann einen Karren zog und trotz mehrfachen Hupens nicht zur Seite auswich. Resigniert nahm er es hin und fuhr im Schritttempo hinterher. Erst am Ortseingang konnte Doktor Milashi endlich vorbeifahren und erkannte jetzt den alten Mavrim, der schon seit seiner Geburt gehörlos war.

Na ja, der heutige Freitag wird sowieso noch lang werden.

Tarek Milashi war in diesem Land groß geworden. Er liebte sein Kosovo. Ihm war jedoch auch bewusst, wie viel Glück er bisher im Leben gehabt hatte. Nur wenige Eltern in diesem Land konnten ihren Kindern ein Studium ermöglichen und ihnen Vermögenswerte vererben. Er hatte diese Privilegien gehabt. Dafür wollte er seinen Landsleuten etwas zurückgeben, selbst wenn es nur sein medizinisches Wissen war.

Er parkte seinen Wagen vor dem Haus des Hufschmieds. Man hatte Doktor Milashi in der alten Schmiede auf der Rückseite des Gebäudes einen Raum zur Verfügung gestellt, in dem er Patienten empfangen konnte. Milena, die Tochter des Schmieds, stand ihm bei seiner Arbeit zur Seite. Insbesondere beim Anlegen von Verbänden und Schienen war sie ihm eine große Unterstützung.

Hier, im ärmsten Land Europas, gab es keine allgemeine Krankenversicherung. Gerade in den abgelegenen, ländlichen Gegenden litten die Menschen besondere Not und hatten kaum Geld für eine medizinische Versorgung. Dennoch haderten sie nicht mit ihrer Situation: Wenn die Verletzungen oder Krankheiten so schwer waren, dass jemand in ein Krankenhaus musste, dann finanzierte die Dorfgemeinschaft den Aufenthalt.

Als Tarek Milashi um die Ecke bog, sah er schon die Schlange, die sich jeden Freitag bildete. Heute musste er aber zum Glück nur Routineuntersuchungen vornehmen oder kleinere Wunden versorgen.

Am späten Abend machte er sich auf den Heimweg und war anderthalb Stunden später zurück in Kazarnik, wo er mit seiner Frau und den beiden Kindern am Stadtrand gegenüber vom Friedhof wohnte. Jeden Freitagabend, wenn er auf sein Grundstück fuhr und sein großes graugelbes Bruchsteinhaus sah, beschlich ihn ein sorgenvolles Gefühl. Als Arzt hatte er in dieser Kleinstadt viele Vergünstigungen. Ihm und seiner Familie ging es als Angehörige der Oberschicht recht gut – der totale Gegensatz zu den Menschen in Ljubo, die er noch diesen Nachmittag gesehen hatte. Doch es war letztlich nur eine Frage der Zeit, bis die serbischen Truppen auch in der Stadt des Doktors einfielen. Die Situation im Kosovo verschlechterte sich von Tag zu Tag.

Wie lange noch? Die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen der kosovarischen Untergrund-Organisation UCK und der jugoslawischen Regierung in der Provinz Kosovo war nichts anderes als ein Bürgerkrieg. Müssen so viele Menschen sterben? Ist ein eigenständiger Staat Kosovo, in dem Frieden herrscht, nur ein Traum?

***

Zlatko war ein Mensch ohne Moral und Anstand; gesetzliche oder gesellschaftliche Regeln akzeptierte er nicht. Ohne Vater war er mit acht jüngeren Geschwistern bei seiner völlig überforderten Mutter aufgewachsen. Schon früh hatte er die Rolle des Familienoberhauptes übernommen und versucht, mit kleineren Diebstählen seinen Anteil zum Lebensunterhalt beizutragen. Schnell hatte er gelernt, sich auf der Straße durchzusetzen. Zahlreiche Jugendstrafen hatten ihn nicht resozialisiert, ganz im Gegenteil, er sank immer tiefer in das kriminelle Milieu. Die Schule besuchte er höchstens sporadisch und auch dann nur, um dort Drogen zu verkaufen. Als ihn ein Lehrer einmal bei einem Deal erwischte und anzeigen wollte, schlug Zlatko ihn krankenhausreif. Daraufhin wurde Zlatko während des neunten Schuljahres ohne Abschluss von der Schule verwiesen.

Die Armut seiner Familie war ihm zuwider. Er ertrug dieses armselige Betteln nach Sozialleistungen nicht. Als 16-Jähriger verließ er seine Heimat, zog Richtung Hauptstadt und schloss sich sogleich der Hooliganszene von Roter Stern Belgrad an. Für seinen abgrundtiefen Hass gegen jegliche Autorität waren die gewalttätigen Auseinandersetzungen mit gegnerischen Fans ein gutes Ventil. Er etablierte sich schnell in der Gruppe und war innerhalb weniger Monate einer ihrer Wortführer. Nach und nach festigte er seine Position und manipulierte einige Hooligans für seine Zwecke. Zunächst verübten sie kleinere Raubüberfälle und veranstalteten verbotenes Glücksspiel. Später fanden sie eine lukrativere Einnahmequelle: Schutzgelderpressungen.

1991 begannen die Kämpfe der serbischen gegen die kroatische Armee. Zlatko war ein Waffennarr, außerdem hasste er die Kroaten. Er überlegte ernsthaft, sich freiwillig für die Armee zu melden, entschied sich dann jedoch dagegen. Zu lukrativ waren seine kriminellen Machenschaften, zudem hätte er bei einer längeren Abwesenheit um seine Stellung im Milieu gefürchtet.

Am 01.04.1992, wenige Tage vor seinem 19. Geburtstag, erfuhr Zlatko vom Tod seiner Mutter. Sie war gerade vom Markt gekommen, als serbische Polizisten eine kroatische Polizeistation überfielen. Noch bevor sie in Deckung gehen konnte, wurde sie von einem Querschläger getroffen. Viel zu spät kam ärztliche Hilfe. Sie verstarb auf dem Weg ins Krankenhaus.

Die Nachricht traf ihn wie ein Schlag. Tagsüber steigerte er sich in eine aggressive Angriffslust hinein, am Abend ging er zum Spiel Roter Stern Belgrad gegen Sampdoria Genua. Es war das Halbfinale im Europapokal der Landesmeister, das Stadion entsprechend ausverkauft. Nach dem Spiel trafen er und seine Freunde auf eine Gruppe italienischer Fans. Sofort kam es zu einer Massenschlägerei und er prügelte seine ganze Wut auf den Gegner ein. Wie im Wahn schlug er immer weiter und hörte erst auf, als seine Kumpels ihn wegzerrten. Das war des Italieners Glück – weitere Schläge und Tritte hätte er wahrscheinlich nicht überlebt.

Drei Jahre später hatte ein anderer Kontrahent Zlatkos bei einem Streit dieses Glück leider nicht gehabt. Er erlag seinen schweren Kopfverletzungen. Die Polizei vermutete den Täter im Rotlichtmilieu, doch keiner traute sich, gegen Zlatko auszusagen. Trotzdem formierte sich innerhalb der Bande eine Gruppe, die sich gegen ihn stellte, weil sie mit Mord und Totschlag nichts zu tun haben wollte. Auch Zlatko distanzierte sich immer mehr von seinen Kumpels und suchte nach einer neuen Herausforderung.

Eigentlich hätte er nach dem Tod seiner Mutter gerade Polizisten hassen müssen, doch Zlatko tickte anders.

1996, zu Beginn der Auseinandersetzungen der Serben mit den Albanern im Kosovo, bewarb er sich bei der serbischen Polizei. Es war in der Zeit, wo viele seiner serbischen Landsleute aus Kroatien vertrieben und gegen ihren Willen im Kosovo angesiedelt oder in Flüchtlingslagern untergebracht wurden. Als die Widerstände sich intensivierten und es zu Bombenattentaten in den Lagern kam, schickte Serbien Polizeitruppen und Sondereinheiten in den Kosovo, unterstützt von der Armee und Paramilitärs. Die serbische Polizei stellte fast jeden ein, der sich bewarb, unabhängig von einem Führungszeugnis. Zlatko kam in eine Spezialeinheit, die ausschließlich gegen die albanische Zivilbevölkerung eingesetzt wurde. Als Mitglied einer solchen Truppe hatte er eine Machtposition. Jetzt konnte er seine Aggressionen und kriminellen Neigungen ungestraft ausleben.

***

Beim Unkrautjäten im Garten nahm Sara das laute Motorengeräusch aus der Ferne wahr. Sie drehte den Kopf und konzentrierte sich einen Moment auf den satten, dröhnenden Klang des Dieselmotors. Dann war sie sich sicher: Das konnte nur der Jeep ihres Vaters sein! Der Auspuff war schon mehrfach geschweißt worden, doch immer wieder entstanden auf den vielen unbefestigten Schotterpisten in Kazarnik neue Löcher, die diese unverkennbaren Geräusche erzeugten. Sie ließ die Harke fallen und lief um das Haus herum zur Einfahrt. Wie fast jeden Freitag kam der Papa mit einem Korb voller Lebensmittel nach Hause. Sie hoffte auf ihr Lieblingsobst.

„Papa, hast du Erdbeeren dabei?“, rief sie voller Vorfreude und griff schon in den Korb, noch bevor ihr Vater ganz ausgestiegen war.

„Du hast Glück, anscheinend haben die netten Leute aus dem Dorf geahnt, dass ich so einen Erdbeervielfraß zu Hause habe.“ Er hielt ihr den Korb hin und dachte an seine Patienten in Ljubo, die ihm aus Dankbarkeit Obst, Gemüse, Milch und manchmal auch ein Stück Butter mitgaben. Er wollte im Grunde weder Geld noch Geschenke für die Behandlung, wusste aber, dass es den stolzen Menschen gut tat, ihren Doktor so zu entlohnen.

Sara hatte sich aus der ersten Schale bereits eine Handvoll von den Früchten genommen und aß sie genüsslich, während sie gemeinsam ins Haus gingen.

„Das Obst erst waschen“, mahnte Fatime ihre Tochter, während sie durch die Terrassentür das Wohnzimmer betrat und ihren Mann liebevoll begrüßte.

Müde und erschöpft ließ Tarek sich in den Kaminsessel fallen und beobachtete seine Frau und seine Tochter, die mit dem Korb in die Küche gingen. Die Familie war sein Ein und Alles, sie galt es in dieser gefährlichen, unruhigen Zeit zu beschützen. Der Bürgerkrieg breitete sich immer weiter aus und würde über kurz oder lang auch Kazarnik erreichen. Sollte er hier alles aufgeben, nach Albanien gehen und dort von vorne anfangen? Und sein Sohn Ervin – würde er mitkommen? Tarek wusste, dass Ervin abends zu heimlichen Versammlungen der UCK ging.

Zwei Wochen später

Auf diesen Befehl hatte er schon lange gewartet. Das Leben in der Kaserne, jeden Tag nur Drill und Training, das war nicht sein Ding. Er brauchte echte Herausforderungen, persönliche Konfrontationen. Ihn interessierte weder Politik noch Religion, er hatte auch nichts gegen Kosovo-Albaner. Aber wohlhabende Albaner hasste er – genauso wie alle reichen Leute.

„Reich bleibt reich, weil Geld zum Geld geht. Wir dagegen sind arm und müssen uns mit unserem Schicksal abfinden“, hatte seine Mutter einmal auf die Frage geantwortet, warum andere Familien in so großen Häusern wohnen durften. Zlatko wollte sich aber nicht damit abfinden. Er nahm sich einfach, was ihm seiner Auffassung nach zustand.

Der heutige Auftrag lautete, in Kazarnik für Ordnung zu sorgen. Grund war das Bombenattentat auf eine serbische Polizeistation im Kosovo. Nachdem sich die UCK zu dem Attentat bekannt hatte, wurden Einheiten der serbischen Spezialpolizei in die Dörfer und Städte geschickt, um UCK-Sympathisanten ausfindig zu machen und festzunehmen. Man wollte über die Gefangenen Informationen zu den Hintermännern bekommen; für die restliche Zivilbevölkerung sollte es eine Art Ordnungsmaßnahme sein.

Es ist an der Zeit, den Albanern mal deutlich einen Denkzettel zu verpassen. Mit diesen einleitenden Worten wurden die Aufträge erteilt. Was sein Vorgesetzter unter „Denkzettel“ verstand, hatte er in der Einsatzbesprechung vor 250 Beamten der Sondereinheit nicht näher erläutert.

Zlatko erhielt den Befehl, das Privathaus des Allgemeinmediziners Milashi aufzusuchen. Ein Informant habe den Hinweis auf den Sohn der Familie gegeben, der Verbindungen zur UCK haben sollte. „Sie wissen schon, was zu tun ist“, hatte der Leiter der Sondereinheit am Ende mit fester Stimme verkündet, bevor er dann begleitet von seinen beiden Adjutanten den Saal verließ.

Fünfzig Objekte sollten gleichzeitig aufgesucht werden – Wohn- und Arbeitsorte von angesehenen Persönlichkeiten, aber auch öffentliche Orte in Kazarnik standen auf der Liste.

Zlatkos Vorstellung von dem Begriff „Denkzettel verpassen“ war eindeutig. Er würde seinen Chef mit Sicherheit nicht enttäuschen.

In seiner Gruppe befanden sich außerdem Dragoslav und die Zwillingsbrüder Mirko und Luka.

Dragoslav, von allen nur Drago genannt, stellte mit seiner Körpergröße von knapp zwei Metern und einem Gewicht von 130 Kilogramm ein riesiges Kraftpaket dar, mit dem man nicht unbedingt Streit haben wollte. Er war gemeinsam mit Zlatko in den Polizeidienst eingetreten und sie hatten schnell zueinander gefunden. Zlatko ging es dabei weniger um Freundschaft als um den praktischen Nutzen, so einen Muskelprotz zum Freund zu haben. Drago stammte aus einer einfachen Bauernfamilie; er hatte nie eine Schule besucht und konnte weder schreiben noch lesen. Den Hof seiner Eltern hatte er verlassen müssen, da der Ertrag die Familie nicht mehr ernähren konnte. Bei der Spezialpolizei legte man keinen großen Wert auf Bildung – im Krieg gegen die UCK wurden Kämpfer und keine Bürokraten gebraucht. Zlatko nahm Drago während der Ausbildung unter seine Fittiche und hatte ihn schnell in seinem Sinne manipuliert. Drago merkte es nicht. Im Gegenteil, er war stolz, einen Menschen wie Zlatko, zum Freund zu haben. Für Zlatko würde er durchs Feuer gehen.

Mirko und Luka hingegen waren eher klein und schmächtig, aufgrund ihres aggressiven Charakters jedoch keineswegs weniger gefährlich.

***

Dichter Nebel hing in der feuchten Luft. Es roch nach Moos, Laub und verwittertem Holz. Die Sicht betrug gerade einmal zehn Meter. Am frühen Abend war es still im Wald, geradezu gespenstisch still, ohne das laute Gezwitscher der Vögel und die anderen Tierlaute, die man tagsüber vernahm.

Sara dachte an die Geschichte vom Wachwechsel während der Zeit der Dämmerung. Die Tiere mussten sich während dieser Zeit in ihre Höhlen, Nester oder sonstige Unterschlüpfe verkriechen, weil nachts andere Geschöpfe das Kommando übernahmen. Es war die Zeit der Dämonen und Waldgeister. Das jedenfalls hatte ihr Ervin als Gutenacht-Geschichte häufiger erzählt. Die Angst, dass diese unheimlichen Kreaturen in ihr Zimmer kommen würden, hatte sie oftmals nicht einschlafen lassen. Dann war sie ins Schlafzimmer ihrer Eltern gelaufen und hatte sich ganz eng an Mama herangekuschelt. Eines Tages bekam sie mit, wie ihr Papa mit Ervin schimpfte, er solle seiner kleinen Schwester nicht solche Phantasiegeschichten über Geister im Wald erzählen. Sie konnte zunächst nicht glauben, dass es die Dämonen und Waldgeister gar nicht geben sollte, hatten diese doch in ihrer Vorstellung schon eindeutige Gesichter und Konturen. Mama hatte ihr dann anhand von Bildern in einem Kinderbuch alle heimischen Waldbewohner gezeigt und ihr erklärt, welche Geräusche welche Tiere machten. Sara erfuhr auch, dass manche Tiere tagsüber schliefen und nachts durch die Wälder streunten. Sie würden aber niemals Kindern etwas antun.

Bei dem Gedanken an diese Geschichte musste Sara lächeln. Ervin gestand ihr später, dass er ihr nur Angst hatte machen wollen, damit er das Kinderzimmer für sich alleine hatte.

Danjel zog sie bei ihren Spaziergängen durch den Wald mit dieser Geschichte gerne auf. Manchmal versteckte er sich bei einer günstigen Gelegenheit, um sie dann zu erschrecken; ein anderes Mal warf er heimlich Steine in den Wald und sagte, er habe in dieser Richtung ein unheimliches Wesen gesehen. Seine Phantasie kannte keine Grenzen – auch wenn er wusste, dass er Sara mit seinem Schabernack nur zum Lachen brachte. Er wohnte in der unmittelbaren Nachbarschaft, daher kannten die beiden sich seit ihrer Kindheit und hingen ständig zusammen. Damals in der Grundschule hatten sie sich gegenseitig sogar versprochen zu heiraten, sobald sie erwachsen seien. Daran erinnerte sich Danjel jedes Mal, wenn er sie heimlich beobachtete. Er war zwei Jahre älter als Sara und ihm fiel immer mehr auf, wie sich ihr Körper verändert hatte. Mit ihren vierzehn Jahren wurde sie so langsam zur Frau.

Heute wollten sie eigentlich bis zum Sumpfgebiet gehen, doch der Nebel war so dicht wie selten an einem dieser Spätsommertage.

„Danjel, lass uns lieber zurückgehen.“

„Hast du etwa Angst vor den Nebelungeheuern?“, fragte Danjel und fügte theatralisch noch ein langgezogenes „Huuhuu“ hinzu.

Sara antwortete nicht, stattdessen blieb sie plötzlich wie angewurzelt stehen und sah ihn mit großen Augen an. Verwundert erwiderte er ihren Blick und wollte gerade fragen, was mit ihr los sei, als sie „Psst, nicht bewegen“ zu ihm flüsterte. Sie hob ihren Kopf in den Nacken und sah mit offenem Mund über ihn hinweg. Danjel erstarrte und glaubte über sich ein Geräusch zu hören. Vielleicht eine Baumschlange, dachte er und überlegte ernsthaft, sich mit einem Hechtsprung in Sicherheit zu bringen, blieb jedoch wie zur Salzsäule erstarrt mit hochgezogenen Schultern auf einer Stelle stehen.

Dann schrie seine Freundin „Buuhh“ und lachte lauthals. „Reingelegt, du Angsthase!“

„Das bekommst du zurück und zwar doppelt. Aber du hast recht, wir kehren besser um.“

***

Zlatko erwartete keinen Widerstand seitens der Arztfamilie. Er kannte diese gebildeten, hochnäsigen Akademiker, die nur reden und mit ihrem Geld winken konnten. Die Kinder wurden verwöhnt und verhätschelt, besuchten höhere Schulen unter Gleichgesinnten und traten dann in die Fußstapfen ihrer Eltern. In dem Punkt hatte seine Mutter Recht: Die Reichen wurden immer reicher, die Armen blieben arm.

Der Gedanke, gleich in das Haus dieser eingebildeten Wohlstandsfamilie einzudringen, erfüllte ihn mit Genugtuung. Er würde diese Menschen ebenso herablassend behandeln, wie sie normalerweise mit seinesgleichen umgingen. Diesmal hatte er die Macht. Er kam im Auftrag der serbischen Regierung, sein Handeln war somit legitimiert. Sie konnten gleich noch so kleinlaut betteln und jammern, er würde sie in jedem Fall bestrafen, egal wie sie zur UCK standen.

Schon bei der Anfahrt steigerte sich sein Hass. Links und rechts sah er die aus Stein gemauerten freistehenden Einfamilienhäuser und die gepflegten Vorgärten. Das Haus der Familie Milashi stand am Ende einer Sackgasse, dahinter ging es über einen kleinen Trampelpfad zum Friedhof, anschließend in den Wald. Die Dämmerung setzte ein und dünne Nebelschwaden zogen über die Gräber. Zlatko hatte absichtlich den frühen Abend für seinen „Besuch“ gewählt, um möglichst alle Familienmitglieder anzutreffen. Im Haus brannte auf beiden Etagen Licht, das war schon einmal ein gutes Zeichen. Zlatko gab den Zwillingen Mirko und Luka die Anweisung, sich hinter das Haus zu schleichen, während er und Drago an die Haustür gingen.

Fatime Milashi bereitete gerade das Abendessen zu, als es an ihrer Haustür klingelte. Wer konnte das sein? Sie wusch sich schnell die Hände und zog ihre Schürze aus. Wahrscheinlich hatte Sara ihren Schlüssel vergessen, das würde zu ihr passen. Sie entwickelte sich so langsam zu einer jungen Frau und hatte in letzter Zeit viele andere Dinge im Kopf.

Es klingelte erneut und gleichzeitig wurde heftig gegen die Tür geklopft. Nein, das war nicht Sara! Fatime beschlich ein ungutes Gefühl. Sie entschied sich, ihren Mann zu holen und ging mit leisen Schritten in den Flur. Es klingelte erneut, das Klopfen wurde heftiger. Von oben hörte sie fernes Rauschen. Verflucht, ausgerechnet jetzt musste er unter der Dusche stehen!

Rumms! Die Eingangstür schlug ihr mit einem lauten Krachen entgegen. Ein riesiger Mann stand gebückt auf der Schwelle und starrte sie von oben herab an. Ein anderer, kleinerer Mann schob sich an ihm vorbei und baute sich vor ihr auf.

„Wer ist noch im Haus?“ Zlatko hielt ihr seine Pistole, eine Zastava M57 aus alten Armeebeständen, an die Stirn.

Fatime Milashi zitterte am ganzen Leib, ihre Stimme versagte. Diese Männer sahen wild entschlossen aus und Fatime war überzeugt, dass ihr Gegenüber jeden Moment abdrücken würde, wenn sie nicht sofort antwortete. Doch der Schock saß so tief, dass sie keinen Laut herausbrachte.

„Ich frage nicht noch einmal!“ Diesmal drückte er ihr die Pistole an die Wange und schob Fatime zur Seite, bis sie an die Wand stieß. Dann erhöhte er den Druck. Der Lauf bohrte sich immer tiefer zwischen ihren Unter- und Oberkiefer in die Mundhöhle.

„Mein Mann“, nuschelte Fatime Milashi. Tränen liefen ihr übers Gesicht.

„Wo?“

„Oben.“

„Wer noch?“

***

Schon von weitem hörten sie Gebrüll und Geschrei. Laute Befehle wurden erteilt, Schüsse fielen. Sie ahnten Schlimmes und beschleunigten ihre Schritte.

Am Friedhof machten sie kurz halt. Die Kommandos waren immer noch zu hören, kamen aber mehr aus Richtung Zentrum.

„Der Lärm kommt vom Marktplatz. In den letzten Wochen sind immer wieder serbische Polizeieinheiten durch die Stadt gefahren, das werden die sein. Lass uns schnell nach Hause gehen, unsere Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen.“

„Warte mal, Danjel. Vor unserem Haus steht ein fremdes Auto. Was hat das zu bedeuten?“ Sara zeigte auf einen grauen Kleinbus, der neben dem Jeep ihres Vaters stand.

„Besuch?“

„Nein, glaube ich nicht. Das hätte Mama mir gesagt.“

„Vielleicht ein Patient von deinem Vater?“

„Nee, der empfängt zu Hause keine Patienten und außerdem arbeitet er samstags nicht. Ich habe so einen Wagen auch noch nie vor unserem Haus gesehen.“

„Lass uns hingehen, wird schon alles in Ordnung sein.“

„Ich habe so ein komisches Gefühl.“

„Jetzt bist du aber ein Angsthase. Komm, ich bringe dich bis zur Tür und dann wird sich alles aufklären.“ Danjel nahm Sara an der Hand und zog sie schnellen Schrittes hinter sich her.

***

Mirko sah die beiden Teenager kommen, gab seinem Bruder Luka ein Zeichen und schlich sich dann geduckt die Hecke entlang bis zur Vorderseite des Hauses. Er beobachtete, wie die Jugendlichen kurz in den VW-Bus schauten und dann zur Eingangstür gingen. Das war der Moment, in dem Mirko aus der Deckung trat. Den Revolver hatte er hinten im Hosenbund stecken.

„Ey, ihr da!“

Sara und Danjel blieben vor der Außentreppe stehen und drehten sich erschrocken um.

„Wohnt ihr hier?“

„Ich, ich, meine Eltern …“, stotterte Sara.

Danjel kam ihr zu Hilfe. „Sie wohnt hier, ich wohne dahinten.“ Er zeigte die Straße entlang, einige Häuser weiter.

Mirko interessierte das nicht, die anderen Häuser sahen sowieso alle ähnlich aus. Das Haus der Familie Milashi war eindeutig von allen im besten Zustand.

Langsam ging er auf die beiden Jugendlichen zu. „Du bist also eine von den Milashis.“ Er spuckte verächtlich vor dem jungen Mädchen aus.

Sara drehte sich angewidert zur Seite und wollte die Stufen hoch zur Haustür gehen, als sie den beschädigten Türrahmen und die angelehnte Tür sah. Panik breitete sich in ihr aus. Auf einmal wurde sie an der Schulter zurückgezogen.

„Moment, kleines Fräulein, ich bin mit dir noch nicht fertig!“ Mirko zog sie die Treppe herunter, hielt sie mit festem Griff am Oberarm und drehte sie zu sich.

Sara schrie auf. „Aua, Sie tun mir weh, lassen Sie mich sofort los!“

Danjel nahm seinen ganzen Mut zusammen und trat dazwischen. „Lassen Sie meine Freundin in Ruhe oder …“

Weiter kam er nicht. Ein kräftiger Ellbogenschlag gegen seinen Unterkiefer ließ ihn abrupt verstummen. Benommen sank er zu Boden. Blut und Speichel vermischten sich in seinem Mund und mit der Zunge ertastete er mehrere lockere Zähne. Beim Versuch, aufzustehen, wurde ihm sofort schwindelig.

Mirko hatte Sara inzwischen am Nacken gepackt und schob sie die Außentreppe hoch. Sie schrie laut um Hilfe und wollte sich wehren, hatte gegen den fremden Mann jedoch keine Chance.

Plötzlich fiel ein Schuss.

***

Auf ein Zeichen Zlatkos hin ging Drago die Treppenstufen hinauf zum ersten Stock. Tarek Milashi war gerade aus der Dusche gestiegen und hatte sich einen Bademantel übergeworfen, als er die Schritte vor seiner Tür hörte.

„Schatz, ich bin gleich fertig …“

Die Badezimmertür flog auf und ein riesiger Mann stand im Türrahmen. Tareks Herz pochte, als er am Kragen gepackt und die Treppe hinunter in den Flur gezerrt wurde. Dort sah er einen weiteren Mann, der seiner Frau eine Pistole an den Kopf drückte.

„Was wollen Sie von uns?“ Tarek sah die Todesangst in Fatimes Augen. „Bitte, tun Sie meiner Frau nichts!“

Der Mann mit der Pistole grinste nur.

„Wollen Sie Geld? Ich habe zwar nicht viel im Haus, aber …“

„Ihr immer mit eurem Geld! Ihr glaubt wohl, ihr könnt euch alles kaufen. Wenn ich dein Geld wollte, würde ich es mir nehmen.“

Zlatko dirigierte die Milashis ins Wohnzimmer, setzte sich mit Fatime auf die Couch und platzierte Tarek gegenüber auf einen Fußhocker. Drago blieb mit verschränkten Armen dahinter stehen. Währenddessen kam Luka durch die offenstehende Terrassentür hinein.

„Meine kleine Freundin hier hat gesagt, sie sei mit ihrem Mann alleine im Haus. Ich glaube ihr sogar. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es wagen würde, mich anzulügen. Oder?“

Zlatko zog Fatimes Kopf zu sich heran und drückte mit dem Lauf der Waffe ihre Nase nach oben. Fatime tränten vor Schmerzen die Augen, als sie den Kopf schüttelte.

„Drago, sieh dich trotzdem mal im Haus um.“

Ohne ein Wort zu verlieren, verließ der Riese den Raum und ging ins Obergeschoss.

„So, meine Süße, jetzt erzähl mal, wo denn euer Sohn und eure Tochter sind.“

„Die sind bei Freunden und kommen heute nicht nach Hause“, log Tarek anstelle seiner Frau.

„Dich hab ich nicht gefragt.“

„Draußen sind zwei Kinder, die zum Haus wollten. Mirko kümmert sich gerade darum”, mischte Luka sich ein und nahm in dem Sessel hinter Tarek Platz.

„Kinder?“

„Ein Junge, ein Mädchen, so circa 15 Jahre alt.“

„Der Milashi-Sohn müsste etwas älter sein. Mirko soll die Kinder reinbringen.“

„Nein, nein!“, rief Tarek und sprang auf.

Luka fasste ihn blitzschnell am Kragen des Bademantels und zog ihn zurück.

Zlatko richtete die Waffe auf ihn. „So, deine Kinder kommen heute also nicht nach Hause. Du hättest Zlatko nicht anlügen sollen.“

Dann drückte er ab.

***

Als der Schuss fiel, war Danjel von einer Sekunde auf die andere wieder Herr seiner Sinne. Er rappelte sich hoch und sah, wie der Mann Sara am Nacken in Richtung Haustür schob. Sie standen bereits auf der kleinen Veranda vor der Haustür. Erst jetzt nahm Danjel den Schaden an der Tür wahr. Er musste seiner Freundin zu Hilfe eilen, das war sein einziger Gedanke. So schnellte er die fünf Treppenstufen hoch, sprang auf den Mann zu und rammte ihm seine rechte Schulter in den Rücken. Während dieser ins Straucheln geriet, versuchte Danjel, an die Waffe im Hosenbund des Mannes zu kommen.

Mirko war überrascht, hatte aber gute Reflexe. Er ließ Sara los und drehte sich im Fallen um seine eigene Achse, wobei ihm der Revolver aus der Hose rutschte und zu Boden fiel. Im Liegen packte Mirko sich den körperlich unterlegenen Danjel und nahm ihn in den Schwitzkasten.

Sara reagierte nun ebenfalls instinktiv. Sie trat dem Mann mit voller Wucht gegen die Kniescheibe, der laut aufschrie und Danjel losließ. Danjel nutzte den Moment, um sich komplett zu befreien und zog Sara die Treppe herunter.

„Wir müssen hier weg! Lauf, so schnell du kannst!“, rief er ihr zu.

Ohne sich umzudrehen, liefen sie über den Parkplatz in Richtung Friedhof.

Mirko krümmte sich vor Schmerz. Die Kleine hatte ihm wahrscheinlich mit ihren klobigen Schuhen die Kniescheibe zertrümmert! Vergeblich versuchte er, sich aufzurichten, Dann entdeckte er seinen Revolver auf der untersten Treppenstufe. Er robbte dorthin, nahm die Waffe in die Hand und schoss hinter den weglaufenden Jugendlichen her.

Sie hatten die kleine Friedhofsmauer beinahe erreicht, als Danjel in den Rücken getroffen zu Boden fiel. Obwohl der Mann weiter schoss, blieb Sara sofort stehen und fiel neben ihrem Freund auf die Knie. Sie sah die blutende Einschusswunde zwischen seinen Schultern und drehte ihn auf den Rücken.

„Danjel, Danjel! Bitte steh auf! Bitte, Danjel!“, flehte Sara unter Tränen.

Seine Augen wurden glasig, seine Lider fielen langsam zu.

„Du darfst nicht sterben! Bitte, bitte wach auf!“

***

Tarek drückte mit den Händen auf die Wunde an seinem Oberschenkel. Als Arzt wusste er, dass es keine lebensgefährliche Verletzung war. Die Arterie hatte der Schuss um einige Zentimeter verfehlt. Er nickte seiner Frau beruhigend zu. Tareks zweiter Gedanke galt den Kindern. Vor der Tür konnten nur Sara und Danjel sein.

„Der nächste Schuss wird dich eine Etage höher treffen.“ Zlatko zielte auf Tareks Brustkorb. „Wo ist euer Sohn? Ich will, dass du antwortest.“ Er richtete die Waffe wieder auf Fatime.

„Bei Freunden“, stammelte sie leise.

„Bei welchen Freunden? Wann kommt er zurück?“

„Weiß nicht.“

„Jetzt reicht es mir langsam! Wir wissen, dass euer Sohn sich der UCK angeschlossen hat und an Aktionen gegen den serbischen Staat beteiligt ist. Raus mit der Sprache oder ich schieße deinem Mann in den Kopf!“

Fatime spürte die Entschlossenheit des Mannes. Zitternd antwortete sie: „Der ist auf einer Versammlung, ich weiß nicht wo. Bitte glauben Sie mir, die Versammlungen sind immer an einem anderen, geheimen Ort. Niemand außer den Beteiligten erfährt davon.“

„Wann kommt er sonst von den Versammlungen zurück?“

„So gegen Mitternacht, wenn er nicht bei Freunden übernachtet. Bitte tun Sie unseren Kindern nichts! Wir werden ihn zur Vernunft bringen, ich verspreche es. Wir werden alles tun, was sie verlangen. Bitte!“

Während sie um Gnade flehte, hörte sie den Schrei ihrer Tochter. Fatime und Tarek zuckten zusammen und schauten zur Eingangstür. Zlatko gab Luka ein Zeichen, nach dem Rechten zu sehen. Unmittelbar danach hörten sie die Schüsse.

***

Sara kniete vor ihrem toten Freund, strich ihm liebevoll durchs Haar und schluchzte. Dass seit einiger Zeit keine Schüsse mehr fielen, hatte sie gar nicht bemerkt. Sie bekam auch nicht mit, dass sich zwei Männer ihr bis auf wenige Meter genähert hatten.

„Da ist ja die kleine Göre. Steh auf und komm mit! Oder willst du so enden wie dein Freund?“

Sara drehte sich wie in Trance um und erblickte die beiden Männer. Der kleinere, der sie angesprochen hatte, packte sie und zerrte sie hoch. Sein fester Griff holte sie wieder in die Realität zurück. Sie wehrte sich mit Händen und Füßen, worauf ihr der Mann eine schallende Ohrfeige verpasste.

„Ihr Mörder, ich hasse euch!“, schrie sie und wehrte sich nach Leibeskräften.

Der große Mann trat näher und schob seinen Kollegen zur Seite.

„Lass mich mal mit ihr alleine reden“, sagte er und wandte sich Sara zu. Mit ängstlichen Augen schaute sie hinauf zu dem Riesen. Er kniete sich vor ihr hin und fragte sie mit einer sanften Stimme, die gar nicht zu seiner monströsen Körperstatur passte.: „Wie ist dein Name?“

„Sara“, antwortete sie zögernd.

Der Mann lächelte ihr aufmunternd zu. „Es tut mir leid, was passiert ist. Du musst aber jetzt mit uns ins Haus gehen, zu deinen Eltern. Dir wird nichts passieren.“

Bei dem Gedanken an ihre Eltern begann Sara erneut zu weinen. Sie hatte vorhin den Schuss gehört. Was hatten diese Männer mit ihrer Mama und ihrem Papa gemacht?

„Habt ihr sie auch getötet?“

„Nein.“

„Ich habe den Schuss gehört!“

„Es ist niemand getötet worden, deine Eltern sind wohlauf.“

Sara war irritiert. Obwohl er einer von ihnen war, glaubte sie ihm. In seinen Augen erkannte sie etwas Gutmütiges.

***

Mirko hatte den Platz seines Zwillingsbruders eingenommen. Er saß mit ausgestrecktem Bein in dem Sessel, sah das geschwollene Knie und schimpfte über die Jugendlichen.

Fatime hielt sich verzweifelt die Hände vors Gesicht und wiederholte immer wieder das gleiche Gebet.

Tarek hatte sich mittlerweile mit dem Bademantelgürtel den Oberschenkel abgebunden. „Darf ich die Wunde desinfizieren?“

„Einen Scheißdreck darfst du. Und deine Frau hört gefälligst auf zu beten! Ich kann dieses Gejammer nicht mehr ertragen!“ Zlatko musste sich konzentrieren. Er wollte der Familie eine Lehre erteilen, vor allen Dingen aber musste er diesen UCK-Terroristen Ervin zu fassen bekommen. Hier untätig herumsitzen und warten? Nein, er war alles andere als ein geduldiger Mensch. Zlatko dachte an seine serbischen Kollegen, die in den anderen Objekten die Familienmitglieder nicht verschonen würden. Das hatten sie nach der Besprechung schon angekündigt.

Als Luka und Drago mit dem Mädchen am Arm das Wohnzimmer betraten, wären Fatime und Tarek vor Erleichterung um ein Haar gleichzeitig aufgesprungen. Zlatkos Waffe hielt sie davon jedoch ab.

„Was ist mit Danjel?“, fragte Tarek, der hoffte, dass der Junge den Männern hatte entkommen können.

„Habe ich nicht gesagt, du sollst die Fresse halten? Luka, leg diesen vorlauten Arzt mal an die Kette und verpass ihm einen Knebel.“

Luka fand an der Flurgarderobe zwei Schals, die er für seine Zwecke nutzen konnte.

„Die Frau und das Mädchen auch?“, fragte er, nachdem er Tarek gefesselt und geknebelt hatte.

„Solange sie sich benehmen, erst mal nicht. Um die Frau hier kümmere ich mich selbst.“ Zlatko drehte mit der Waffe Fatimes Gesicht in seine Richtung. „Wie ist dein Name?“

„Fatime.“ Sie versuchte vor ihrer Tochter keine Angst zu zeigen.

„Fatime. Ein schöner Name.“ Zlatko führte den Lauf der Waffe hinab bis an die Knopfleiste ihrer Bluse. Die Angst in ihren Augen erregte ihn.

„Wie alt bist du?“

„41.“

„Dafür siehst du noch recht knackig aus.“

Mit einem Ruck zog er den Revolver hoch, so dass die obersten beiden Knöpfe der Bluse abrissen und ein verwaschener, zart rosafarbener BH zum Vorschein kam.

Während Fatime diese Demütigung fast stoisch über sich ergehen ließ, schrie Sara entsetzt auf. „Finger weg von meiner Mutter, ihr barbarischen Schweine!“

Sie wollte ihrer Mutter zu Hilfe eilen, doch Luka hielt sie mit beiden Armen zurück. Tarek wälzte sich in seinen Fesseln hin und her und gab unverständliche Laute durch seinen Knebel von sich.

„Schaff die Kleine nach oben“, befahl Zlatko.

„Aber gerne doch.“ Luka zerrte Sara an dem wütend dreinblickenden Drago vorbei aus dem Wohnzimmer.

„Zlatko, das Mädchen ist doch noch …“

„Drago, sie ist eine von ihnen, eine dreckige Albanerin“, unterbrach Zlatko ihn. „Sie muss ebenfalls bestraft werden. Irgendwann wirst du das verstehen.”

Drago verstand nichts. Für das Vaterland kämpfen, Mann gegen Mann, das war okay. Aber hier war niemand bewaffnet. Hatte der Junge da draußen sterben müssen? Warum hatte Mirko die beiden nicht einfach weglaufen lassen? Die Albaner breiteten sich in diesem Land immer weiter aus. Sie mussten vertrieben werden. So hatte man es ihm immer wieder eingetrichtert und das sah er auch ein. Trotzdem tat ihm insbesondere das Mädchen leid.

Zlatko ahnte, worüber Drago nachdachte. Er war eigentlich für diesen Job viel zu weich. Das konnte er jetzt überhaupt nicht gebrauchen. „Drago, geh vor die Tür und halt die Augen offen. Der Sohn der Familie kann jeden Moment von der UCK-Versammlung kommen.“

Widerwillig stapfte Drago aus dem Haus. Mirko, der gerade mit einem nassen Lappen aus der Küche gehumpelt kam, grinste ihm hinterher. „Viel Spaß, Riesenbaby!“

„Lass ihn in Ruhe, Mirko. Komm her und fessel den Arzt an die Heizung. Ich möchte ihm was zeigen.“

***

Sie hatten sich diesmal in einem alten Gewölbekeller unter dem Standesamt getroffen. Vierzig zu allem entschlossene junge Männer, die bereit waren, für ihre Freiheit und ihre Rechte zu kämpfen. Einige von ihnen waren kampfunerfahren und erst in den letzten Monaten ausgebildet worden. Zu dieser Gruppe gehörte Ervin, der übermorgen bei einem Anschlag auf eine serbische Polizeistation zum ersten Mal eingesetzt werden sollte. Er war aufgeregt, aber auch stolz. Konzentriert hörte er dem Hauptmann zu, der ihnen die Details schilderte. Nachdem alle in ihre Aufgaben eingewiesen waren, wurde Boza getrunken. Es war bei der UCK mittlerweile Tradition, nach den Einsatzbesprechungen mit diesem süß-prickelnden, aus Hirse hergestellten Bier anzustoßen. Nicht zuletzt aufgrund der Erfolge der letzten Wochen im Kampf gegen die serbische Regierung war die Stimmung gut. Sie waren eine verschworene Gemeinschaft, die alle für die gleiche Sache kämpften.

„Gëzuar!“, prosteten sie sich zu und hielten die Flaschen in die Höhe.

Plötzlich stürmte ein Mann, der im Erdgeschoß hinter einem Fenster Wache geschoben hatte, in den Raum und brüllte panisch: „Verschwindet, serbische Milizen sind in der Stadt! Sie durchsuchen Gebäude und schießen wild um sich! Eine Gruppe ist auf dem Weg hierhin!“

In Windeseile wurde die Versammlung aufgelöst. Durch einen unterirdischen Gang gelangten die Teilnehmer in das Nachbargebäude, eine ehemalige Textilfabrik, die seit einigen Jahren leer stand.

Ervin war in dieser Stadt, in diesen Straßen und Gassen aufgewachsen. Das war ein entscheidender Vorteil. Die serbischen Milizen fuhren mit ihren Fahrzeugen überwiegend auf den Hauptwegen und schossen immer wieder wild in die Luft. Die wenigen Passanten, die noch auf der Straße waren, flüchteten in die nächstgelegenen Häuser. Ervin blieb konsequent auf kleinen Wegen und versteckte sich in Häusernischen, wenn er Motorengeräusche hörte.

Seine Gedanken waren bei seiner Familie. Sie wohnten etwas außerhalb des Zentrums. Er hoffte, dass es dort noch keine Auseinandersetzungen gab.

***

Luka zerrte Sara in das Schlafzimmer ihrer Eltern, schloss hinter sich die Tür ab und schmiss sie auf das Ehebett. Sie kroch sofort ans Kopfende, zog die Beine an und schlang die Arme um ihre Knie. In dieser Körperhaltung hatte sie ihr Zittern etwas unter Kontrolle.