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Der Glücksbringer von Porz

V. Band der Peter-Merzenich-Reihe

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Ein Kriminalroman von Gereon A. Thelen

Nach Motiven von Andreas Krückeberg und Sonja Thelen

Impressum

Math. Lempertz GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus zu vervielfältigen oder auf Datenträger aufzuzeichnen.

1. Auflage – November 2016

Text: Gereon A. Thelen

Umschlaggestaltung: Ralph Handmann

ISBN: 978-3-945152-34-8

Inhalt

Prolog

1. Kapitel: Der Anruf

2. Kapitel: Das Leben des Axel Ückesdorf

3. Kapitel: Die Kollegen

4. Kapitel: Die Gläubiger

5. Kapitel: Ein verwirrter „Lebenskünstler“ und Hausbefragungen

6. Kapitel: Spuren eines alten Bekannten

7. Kapitel: Der Überfall (Erinnerungen – Teil I)

8. Kapitel: Martin Szukala

9. Kapitel: Die Vernehmung (Erinnerungen – Teil II)

10. Kapitel: Die Beerdigung und ein brandheißer Tipp

11. Kapitel: Unter Verdacht

12. Kapitel: Der Einfall

Epilog

Danksagung

Weitere e-books in der Edition Lempertz

Prolog

Die trommelfellzerreißenden Detonationen erschütterten die gesamte Stadt. Binnen Sekunden kam der Verkehr zum Erliegen. Im ersten Moment konnte niemand das ganze Ausmaß der Katastrophe erahnen. Überall waren Schreie hörbar, die von Angst und Schrecken erfüllt waren. Sirenen und Hupen sorgten für ein makabres Konzert.

Die Bilder, die ich mir vor meinem geistigen Auge ausmalte, ließen mich erschauern.

Ich schüttelte den Kopf und stellte das kleine Radio auf meiner Fensterbank leiser. An jenem denkwürdigen Morgen des 11. März 2004 überschlug sich Radio Köln bei seinen Livereportagen vom Ort des Geschehens, der spanischen Hauptstadt Madrid. Islamistische Terroristen hatten in mehreren Zügen fast zeitgleich zehn Sprengsätze gezündet und damit für den schwersten Anschlag auf die westliche Zivilisation seit der Zerstörung der „Twin Towers“ am 11. September 2001 gesorgt. Auch die Homepages der großen Nachrichtensender und Tageszeitungen widmeten sich mit Tickermeldungen dieses unfassbaren Verbrechens. An vernünftiges Arbeiten war nicht zu denken. Der wolkenverhangene Himmel über Köln schien sich jeden Moment seiner Wut und Trauer mit einem heftigen Regenschauer Ausdruck verleihen zu wollen.

Wortlos sah ich Dario an, der mir in unserem gemeinsamen Büro gegenübersaß. Er blickte starr auf seinen Schreibtisch und nippte an seinem Kaffeebecher.

Seit nunmehr drei Stunden saß ich über der Ermittlungsakte und versuchte, letzte Vermerke und Berichte einzubauen, bevor ich die Akte letztendlich kopieren und meinem MK-Leiter Theo, der zeitgleich über dem Ermittlungsbericht saß, übergeben konnte. Aber ich kam kein Stück weiter. Dabei waren wir froh, dass wir diesen Fall abschließen konnten:

Eine Altenpflegerin hatte einer demenzkranken 83-jährigen Heimbewohnerin aus Bocklemünd/Mengenich eine Überdosis Tabletten gegeben – weil sie sich von der hilflosen Frau „genervt“ fühlte.

Als mir diese aufgetakelte Schlampe im Rahmen ihrer Beschuldigtenvernehmung mit einer unvorstellbaren Eiseskälte davon berichtet hatte, wie sie der bemitleidenswerten alten Dame eine Handvoll Pillen in den Mund gesteckt und die Frau mittels eingeflößtem Wasser gezwungen hatte, die Medikamente herunterzuschlucken, hätte ich sie am liebsten grün und blau geschlagen.

„Ich hab der Alten doch nur ’nen Gefallen getan! Die konnte sich ja noch nicht mal mehr selbst den Arsch abputzen. Wissen Sie eigentlich, was das für ’n Scheißjob ist? Tag für Tag diese hilflosen Scheintoten, die dahinsiechen und nur rumnörgeln? Und das alles für ’n Taschengeld! Da kann man doch mal durchdrehen, oder?! Das müssen Sie doch verstehen!“

Sie hatte von ihren Schutzbefohlenen wie von lästigen, unbedeutenden Eintagsfliegen gesprochen, die es nicht wert waren, zu leben. Ich konnte ihre Anwesenheit nicht mehr ertragen und ließ sie von Nina und Dario umgehend abführen.

Inzwischen hatten Theo, Dario, Andríkos, Nina, die beiden helfenden Kaderkräfte und ich die Ermittlungen der Mordkommission „Heim“ abgeschlossen.

Wie sehr ich meinen Job doch manchmal hasste! Ich hatte es nur mit dem „Ausschuss der Gesellschaft“ zu tun. Egal, aus welchem Grund meine „Kunden“ zu Mördern wurden - für mich waren sie fast allesamt verachtenswerte Kreaturen. Je länger ich in diesem Beruf arbeitete, umso mehr wurde ich selbst zum Menschenfeind. Der letzte Rest meines Glaubens an die Liebe war mir vor gut einem halben Jahr genommen worden – dem Tag im September des Vorjahres, als meine Exfrau Maria auf der Geburtstagsparty meines besten Freundes Marcel aufgetaucht war und freudestrahlend von ihrem neuen Lebensgefährten Stefan berichtet hatte – den ich zu allem Überfluss auch noch kennenlernen musste, als er sie abholte. Dieser Tag hatte mein Leben grundlegend verändert. Und das nicht gerade im positiven Sinne …

Inzwischen war es bereits halb zwölf. Vor mir lag immer noch diese verdammt umfangreiche Akte …

„Hey, Sie Idiot, lassen Sie mich gefälligst los! Was fällt Ihnen überhaupt ein? Sie wissen wohl nicht, mit wem Sie es hier zu tun haben?! Ich werde Sie alle verklagen!“

Ich blickte Dario erstaunt an. „Was ist denn das für ’n Schreihals?“, wollte ich von meinem Bürogenossen wissen.

„Keine Ahnung, Pitter.“

Wie abgesprochen standen wir zeitgleich auf und gingen auf den Flur, wo sich uns ein belustigendes Schauspiel bot. Ein feister Mann Ende dreißig, der sich vor Fettleibigkeit kaum bewegen konnte, versuchte, die Kollegen Marco Dyck und Arnim Böll wie lästige Fliegen abzuwehren. Der Typ sah nicht nur auf Grund seiner riesigen Wampe, der kleinen Schweinsaugen hinter einer Hornbrille, der Kreolen-Ohrringen und den ungekämmten Haaren mit hohem Ansatz abstoßend aus – die hautenge Lederjeans, der seltsame Designer-Gehrock aus Schlangenleder und das viel zu klein geratene Leinenhemd trugen ihr Übriges zu dem negativen Gesamteindruck bei.

Arnim, ein sehr kräftiger Kollege, packte den dicken Paradiesvogel schließlich unsanft am Handgelenk und führte ihn unter heftigstem verbalen Protest in das Büro von Kriminalhauptkommissar Karl-Heinz Schütz, dem Leiter der Mordkommission 2 unseres Kommissariats. Aber auch dort angekommen, gab er das Zetern nicht auf.

Ich lehnte neben Dario im Türrahmen unseres Zimmers und hörte den Flüchen des dicken Elton-John-Verschnitts zu.

„Ihr verdammten Schweine! Das gibt richtigen Ärger für euch alle! Das schwör ich beim Leben meiner Mutter!“

Ein kräftiger, großer Mann Mitte dreißig mit nackenlangen dunklen Haaren, kantigem Kinn, Adlernase und Ohrring kam aus dem Büro des MK-Leiters Schütz und schüttelte entnervt den Kopf.

„Hey, Jung, was ist denn los?“, fragte ich Kriminaloberkommissar Thorsten Herberts, den wir alle nur den „Düsseldoofen“ nannten.

Thorsten winkte ab. „Hör bloß auf! Dieser Typ ist doch nicht ganz richtig im Kopf! Ich brauch jetzt erst mal ’nen Kaffee“, sagte er und holte sich eine Tasse des grässlichen Gebräus in unserer Teeküche, bevor er in unser Büro kam und Platz nahm.

„Wer ist der Typ denn überhaupt?“, fragte ich.

„Na, dieser Olaf Gymnich. Der Sohn vom ollen Willibald Gymnich.“

„Diesem stinkreichen Baufirmenfuzzy und Kunstmäzen, der letztes Jahr gestorben ist?“

„Genau.“

„Und wieso ist der hier?“

„Der ist heute Morgen am Frankfurter Flughafen vom BGS festgenommen worden – hatte ’n One-Way-Ticket nach Rio gebucht.“

„Davon habt ihr in der Frühbesprechung ja gar nix erzählt. Dann klär uns mal auf. Warum hat man den denn überhaupt hopsgenommen?“, wollte Kriminalkommissar Dario Zimmermann von unserem genervten Kollegen wissen.

„Erzähl mir nicht, wir würden euch bei der Frühbesprechung was verheimlichen. Denn wenn ihr heute Morgen aufgepasst hättet, würdet ihr mir diese Frage gar nicht stellen.“

Thorsten hatte leider recht. Sowohl Dario als auch ich hatten den Kopf mit unseren Ermittlungen voll und uns daher in den vergangenen Tagen bei der allmorgendlichen Besprechung unseres Kommissariats nicht so recht auf die Berichte der anderen konzentriert.

Thorsten lächelte versöhnlich und nahm einen Schluck Kaffee. „Also gut, dann will ich euch halt alles noch mal erzählen. Ihr wisst doch, dass unsere MK und ein paar Kaderkollegen den Fall der erwürgten Witwe von Willibald Gymnich bearbeitet?!“

„Ja klar. Das haben wir schon mitgekriegt. Diese junge Thailänderin namens Sunisa, die fast vierzig Jahre jünger war als er und für die er seine erste Frau verlassen hat. Dafür ist der in der Lokalpresse damals regelrecht zerrissen worden. Die ist doch letzte Woche in ihrer Penthousewohnung in Riehl tot aufgefunden worden?!“

„Da hast du ja mal richtig gut aufgepasst, Pitter.“

„Aber hattest du uns nicht gesagt, dass dieser Olaf Gymnich seine Stiefmutter gefunden und sogar die Polizei alarmiert hat?“

„Tja, das war seine Aussage - stimmt. Aber gestern früh haben wir ein anonymes Schreiben bekommen, dem ein Bild beigefügt war. Und auf der Aufnahme war gut zu erkennen, wie er seine Stiefmutter höchstpersönlich erwürgt hat. Gestern Vormittag haben wir uns vom Ermittlungsrichter direkt ’nen Haftbefehl ausstellen lassen und sind in die In-Kneipe von dem Heini in die Südstadt gefahren. Aber als wir ankamen, war da nur so ’n Performancekünstler, der vor so ’n paar Möchtegern-Hirnis auf Altölfässern rumgetrommelt hat. Total bescheuert. Dieser Gymnich hatte wohl Wind von seiner bevorstehenden Festnahme gekriegt und sich verdünnisiert. Gott sei Dank haben die Jungs vom BGS aufgepasst und ihn festgenommen. Der hatte seine Flucht gut geplant und sich sogar ’nen gefälschten Pass besorgt.“

Der Düsseldoofe nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Tasse und sah auf die Uhr, die 11:59 Uhr anzeigte.

„So, Männer, dann will ich mal wieder dem Karl-Heinz helfen. Macht’s gut – und danke für den Kaffee!“

Thorsten stand auf und ging. Ich versuchte, mich endlich auf meine Akte zu konzentrieren. Aber die immer neuen Schreckensmeldungen aus Madrid lenkten meine Aufmerksamkeit immer wieder ab …

1. Kapitel: Der Anruf

Polizeipräsidium Köln, Abteilung Gefahrenabwehr/Strafverfolgung, Zentrale Kriminalitätsbekämpfung, Kriminalgruppe 1, Kriminalkommissariat 11, Mordkommission 3, Walter-Pauli-Ring 2–4, 51103 Köln-Kalk, Dienstag, 30. März 2004, 08:35 Uhr

Fast drei Wochen später. In unser Kommissariat war wieder Ruhe eingekehrt. Nachdem ich mit Theo mehrere Tage bis spätabends im Büro geblieben war, hatten wir es doch noch geschafft, die Akte zusammen- und den Ermittlungsbericht fertigzustellen.

Die Kollegen der Mordkommission „Hilde“ hatten Olaf Gymnich in einer stundenlangen Vernehmung ein umfassendes Geständnis entlocken können. Der Sohn des vermögenden Gründers der renommierten Gymnich Hoch- und Tiefbau KG saß mittlerweile in Ossendorf in U-Haft.

Auch Radio Köln war zum Alltagsgeschehen zurückgekehrt. Momentan schickte der Lokalsender die Black Eyed Peas mit ihrem aktuellen Hit „Shut Up“ über den Äther.

Ich schaute in den sonnigen Himmel und betrachtete die wenigen Wolken, die vorbeizogen. Dario telefonierte mit seiner „Dauerverlobten“ Beate und diskutierte über die Gestaltung des Abends.

„Also von mir aus können wir auch ins Kino gehen. Heute ist schließlich ‚Kinotag‘ im Cinedom. Da sparen wir richtig Geld … Keine Lust?! Ja gut, dann weiß ich auch nicht. Vielleicht doch lieber fernsehen? … Gut, bis später!“

Genervt legte mein Kollege Zimmermann auf und las das mehrere Seiten umfassende Bundeskriminalblatt durch, in dem bundesweite Täterfahndungen abgedruckt waren.

***

Zeitgleich saßen KHK Bernd Marquardt, der Leiter der Mordkommission 5, und seine Stellvertreterin, KHK’in Martina Mielewski, ein paar Büros weiter und blätterten sich kaffeeschlürfend durch die aktuellen Ausgaben von General-Anzeiger und Rhein-Sieg Rundschau. Die beiden Beamten der Mordkommission 5 ließen es momentan eher ruhig angehen, sie waren in der letzten Zeit von MK-Alarmierungen verschont geblieben. Außerdem wollten sie den Tag möglichst stressfrei beginnen, schließlich versahen sie als Zweierteam den aktuellen Tagesdienst des KK 11 und würden „Leichen fahren“, wenn sie denn zu einem Fundort gerufen würden. Sie konnten also nicht wissen, was unter Umständen noch alles auf sie zukäme. KHK Marquardt, der mit seiner relativ geringen Körpergröße und der spitzen Nase Napoleon alle Ehre gemacht hätte, wollte sich gerade dem Sportteil widmen, als Erster Kriminalhauptkommissar Michael „Micha“ Götz, der Leiter des KK 11, in ihr Büro gestürmt kam.

„Hallo ihr zwei, ihr müsst leider raus, ’ne Leiche fahren. Die Leitstelle hat sich gerade gemeldet. Im Niehler Hafen ist einer im Hafenbecken gefunden worden. Seht euch das mal an.“

Seufzend packten Bernd und Martina ihren Kram zusammen und machten sich in dem alten Zivilwagen, einem dunkelroten Golf III, auf den Weg nach Niehl. Als sie dort ankamen, wurden sie bereits von den Pressevertretern, den uniformierten Kollegen und der Feuerwehr erwartet.

Ohne auf die Presseleute zu achten, schritten Bernd und Martina auf einen jungen Uniformierten zu, von dem sie begrüßt wurden.

„’n Morgen Kollege, was ist denn hier passiert?“, fragte Bernd den Polizeiobermeister. Der deutete mit dem Kopf auf ein Pärchen, das am Rande des Platzes stand. Die hübsche Blondine in den Vierzigern hatte eine Jacke um ihre Schultern gelegt. Ihr dunkelhaariger, etwas jüngerer Begleiter schien beruhigend auf sie einzureden.

Während das Löschfahrzeug der Berufsfeuerwehr abrückte, klärte sie der Kollege über den Fall auf.

„Also, das Paar da vorne hat die Leiche eben gefunden, das war so gegen halb acht. Sind zwei Schweizer Binnenschiffer, Helga und Adrian Blümli. Die wollten sich mit ihrem Kahn heute wieder auf den Weg Richtung Basel machen. Tja, und dann haben die halt den Toten im Hafenbecken treiben sehen. Der Typ ist ganz schön zugerichtet, das könnt ihr mir glauben. Die arme Frau Blümli hat bei dem Anblick ’nen leichten Schock erlitten. Die Kollegen der Feuerwehr haben den eben geborgen.“

„Wo ist die Leiche gefunden worden?“, fragte Bernd.

„Ich zeig’s euch“, sagte er und machte sich auf den Weg.

Sie passierten Lagerhäuser und ein hohes Raiffeisen-Silogebäude zu ihrer Linken. Am Ende des Wendehammers, unmittelbar an der Kaimauer, war ein rot-weiß gestreiftes Trassierband gespannt. Eine junge Kollegin in Uniform grüßte sie freundlich und hob das Absperrband an, damit sie sich darunter hindurchducken konnten.

Der Polizeiobermeister verharrte indes außerhalb der Absperrung und deutete mit dem Zeigefinger auf den linken Rand des Platzes, an den sich das hohe Silogebäude anschloss. Er zeigte auf die Signalboje, die unmittelbar hinter dem Heck des Schweizer Frachtkahns Piz Palü, der vor dem Silogebäude geankert hatte, aus dem Hafenwasser ragte.

„Da, wo die Kollegen der Wasserschutzpolizei die Boje positioniert haben, hat diese Frau Blümli den Leichnam entdeckt.“

„Habt ihr die schon vernommen?“

„Nee, nur kurz mit ihr gesprochen.“

„Gut, dann werden wir das nachher erledigen.“

Martina und Bernd zogen Einmalhandschuhe über und nahmen die Leiche in Augenschein.

„Ach, du Scheiße“, murmelte Martina. „Ich glaube, wir sollten die Bereitschafts-MK rausrufen. Freiwillig wird der jedenfalls nicht in den Rhein gesprungen sein.“ Sie deutete auf die Fesselung des Toten.

„Warum haben das die Kollegen eben nicht durchgegeben? Dann hätte direkt die MK rauskommen können“, meinte Bernd kopfschüttelnd und griff nach seinem Handy.

***

Der Morgen zog sich hin und sorgte für Langeweile – bis gegen zwanzig vor zehn ein hagerer großer Mann mit hellblonden Haaren, abstehenden Ohren, furchigem Gesicht und Brille unser Büro betrat: Kriminalhauptkommissar Theo Voß, der Leiter der Mordkommission 3, der neben ihm auch Andríkos, Dario, Nina und ich angehörten. Hektisch wedelte er mit den Armen und nahm einen kräftigen Zug an seiner Zigarette. Dario, ein fast schon krankhafter Raucherfeind, wäre ihm am liebsten an die Gurgel gesprungen …

„Hallo, Männer. Pitter, da du mit Nina und mir Bereitschaft hast, müsst ihr los. Micha hat gerade ’nen Anruf von Bernd und Martina gekriegt, die ja heute mit dem Tagesdienst dran sind. Im Niehler Hafen ist ’ne Wasserleiche gefunden worden! Dabei hat sich der Verdacht auf Fremdverschulden ergeben. Der Erkennungsdienst fährt mit euch.“ Mein Vorgesetzter deutete Richtung Flur. „Ich bleibe hier. Wenn was ist, ruft mich sofort an!“ So schnell er gekommen war, war er auch wieder verschwunden.

Perplex blickte ich Dario an. „Was ist denn mit dem los? Der wirkt ja noch verbissener als sonst.“

Aber Kollege Zimmermann grinste mich nur überlegen an und lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. „Na, hast du das noch nicht mitgekriegt? Unser Theo und die olle Hansen haben sich getrennt. Im Personalrat haben wir gestern über ihr Versetzungsersuchen diskutiert. Die hat sich auf ’nen freien Posten beim Wach- und Wechseldienst des PP Bonn beworben!“

„Und das sagst du Jeck mir erst jetzt?! Ich hab gedacht, wir wären Kumpels.“

„’tschuldigung, aber was wir auf unseren Sitzungen besprechen, sind eigentlich vertrauliche Personalangelegenheiten. Die gehen nun mal KEINEN was an!“

Genervt und leicht angesäuert winkte ich ab, während ich unser Büro verließ.

Tja, so spielt das Leben. Erst vor knapp einem halben Jahr hatte sich Theo von seiner Frau für seine langjährige Freundin, diese bekloppte Polizeiobermeisterin Silvia Hansen, endgültig getrennt. Und jetzt war diese Beziehung auch schon wieder vorbei.

Ich war froh, dass uns diese unsympathische und hochnäsige Göre, die beim Wach- und Wechseldienst der Wache Porz arbeitete, mit ihren bescheuerten Besuchen in unserem Kommissariat nicht länger auf den Nerv fallen würde.

Ich schnappte mir Fahrzeugpapiere und Schlüssel, holte meine P6 aus dem Waffenfach und ging zusammen mit Nina in die Tiefgarage, wo wir in eines unserer alten Dienstfahrzeuge – einen elf Jahre alten silbernen Scorpio - stiegen.

Ich startete den Motor des großen Ford und brachte die Reifen mit einem filmreifen Kavaliersstart zum Quietschen. Auf dem Hof trafen wir auf den Tatortwagen des Erkennungsdienstes, einen weißen Mercedes Sprinter, in dem ein zweiköpfiges Spurensicherungsteam mitsamt dem Tatortfotografen saß.

Im Konvoi machten wir uns auf den Weg.

So fuhren wir auf das große Hafengelände im Stadtteil Niehl, das einer der größten Umschlagplätze der Rheinschifffahrt war. Überall sah man schwere Lastzüge, Gabelstapler und Container. Als wir auf den Lagerhauskai einbogen, der direkt an das Hafenbecken 1 grenzte, musste ich laut gähnen.

Auf dem Wendehammer am Ende des Kais konnte ich einen Funkstreifenwagen und unseren alten Golf ausmachen. Ich hielt an. Nina und ich stiegen aus und gingen zu dem weißen Mercedes Sprinter, der direkt hinter uns geparkt hatte. Am Heck des „Tatortwagens“ machte sich ein großer und äußerst korpulenter Mann zu schaffen: Markus Büttgen, ein junger Regierungsangestellter. Ich tippte ihm auf die Schulter. Der Kollege, der sich in den viel zu kleinen weißen Schutzanzug zwängte, drehte sich um und lächelte mich freundlich an. Der Pony seiner ansonsten kurzen Haare war viel zu lang und reichte inzwischen fast bis in die Augen.

„Hallo Pitter. Wie geht’s dir, Kollege?“

„Kann nicht klagen.“

Kollege Büttgen, der Tatortfotograf des FZL1, holte eine riesige Digital-Spiegelreflexkamera aus dem Wageninneren.

Ein Mann Ende dreißig mit etwas längeren, wuscheligen Haaren, Nickelbrille und schmalem Bartstreifen zwischen Unterlippe und Kinn stieg aus der Fahrerkabine des Sprinters. Es war Kriminalhauptkommissar Thomas Schwadorf, ein erfahrener Spurensucher und -sicherer des Erkennungsdienstes, der uns auch freundlich begrüßte und einen Schutzanzug überzog, bevor er sich zu Fuß auf den Weg machte. In seiner Begleitung war ein graumelierter Mittvierziger mit exakt gestutztem Schnäuzer. Alwin Scheunemann, der zwischenzeitlich auch zum Kriminalhauptkommissar befördert worden war, komplettierte das Spusiteam des Erkennungsdienstes. Auch wir zogen uns jetzt die Schutzanzüge über.

„Guten Morgen, können Sie uns schon Genaueres zu dem Fall sagen? Wer ist der Tote?“, fragte eine nervige weibliche Stimme, die mich das Schlimmste erahnen ließ.

„Pitter, mein Freund, was ist hier passiert?“, fragte ihr männliches Pendant.

Ich drehte mich um und sah das nervigste Pärchen der Kölner Presseszene. Wie immer wurden sie von ihren wie treudoofe Dackel hinterhertrottenden Fotografen begleitet.

Da war zunächst „Der Schnelle Schäng“, der BILD-Lokalredakteur Hannes Lüssem, ein untersetzter Mann meines Alters, der zu Jeanshemd und -hose eine schwarze Lederweste trug. Sein strähniges, nackenlanges, schwarzes Haar mit grauen Koteletten hielt er mit einer Sonnenbrille im Zaum, die er wie einen Haarreif auf dem Kopf trug. Das entschlossen dreinblickende Gesicht des Polizeireporters war mit Pockennarben übersät.

Seine Gegenspielerin vom EXPRESS, die rothaarige Gaby Möltgen, von allen nur „Die Rote Zora“ genannt, folgte ihm auf den Fuß und lächelte uns vielsagend an. Wahrscheinlich wollte sie wieder ihre Femme-Fatale-Nummer abziehen und mit ihren weiblichen Reizen spielen, um an Informationen aus erster Hand zu kommen.

Diese beiden Schmierfinken hatten die Bezeichnung „Journalisten“ nun weiß Gott nicht verdient. Ihre Schlagzeilen waren reißerisch, ihre Berichte entbehrten jeglichen Funken Wahrheit.

Ich machte einen Satz auf die beiden Reporter zu. „Wenn ihr Fragen habt, wendet euch an die Pressestelle! Außerdem ist das Hafengelände Sperrgebiet! Ihr dürft euch hier unbefugt gar nicht aufhalten! Seht zu, dass ihr sofort verschwindet!“

„Aber …“, warf Hannes ein.

„Seien Sie doch nicht so grob zu uns, Herr Merzenich“, versuchte Frau Möltgen, mich einzulullen.

„Haut endlich ab!“, fuhr Nina jetzt dazwischen. Nachdem die beiden mit ihren Fotografen Matze und Manni endlich abgezogen waren, gingen wir zu KHK Marquardt, der uns begrüßte.

„Hallo Bernd, was ist denn hier passiert?“, fragte ich den Leiter der MK 5.

Bernd erzählte uns die Einzelheiten. „Ich würde vorschlagen, dass wir die beiden Zeugen zur Dienststelle mitnehmen und vernehmen. Die haben jetzt schon lange genug darauf gewartet, ihre Aussage zu Protokoll zu geben.“

„Ist okay, Bernd“, entgegnete ich.

In der kleinen „Sperrzone“ knieten zwischenzeitlich unsere Kollegen Thomas Schwadorf und Alwin Scheunemann, die sich mit dem Tatortfotografen schon vor uns auf den Weg gemacht hatten, als wir noch die beiden Reporter abwimmelten. Konzentriert machte sich Alwin auf seinem Klemmbrett Notizen, während Markus Büttgen die Leiche aus allen erdenklichen Perspektiven fotografierte, bevor Thomas sie äußerst vorsichtig durchsuchte, um keine Spuren zu vernichten.

Der zu ihren Füßen liegende Tote war ein schwarz gekleideter Mann, der bäuchlings auf einer weißen Plane lag.

Das, was ich in den nächsten Minuten zu sehen bekommen sollte, war tatsächlich mehr als heftig …

Thomas blickte kurz auf und warf uns ein flüchtiges wortloses Lächeln zu, während sich Alwin weiter Notizen machte. Niemand schien angesichts dieser Situation reden zu wollen. Ich schaute über den Platz des Wendehammers und die Kaimauer auf das angrenzende Hafenbecken. Das winzige Rettungsboot „Ursula“ der Kölner Feuerwehr, das achtern eine Heckklappe zur Aufnahme lebloser Personen oder Schiffbrüchiger aufwies, und eines der großen Feuerlöschboote waren zu sehen.

Langsam wurde mir unter dem weißen Schutzanzug warm. Die Latexhandschuhe klebten an meinen Fingern. Da es mir unerträglich wurde, den Gestank, der der gasgeblähten Leiche entströmte, zu ertragen, setzte ich meinen Mundschutz auf. Dieser Geruch verfaulten Fleisches, den ich kaum in Worte zu fassen vermag, ließ mir jedes Mal einen Schauer über den Rücken fahren. Obwohl ich mich nach den Jahren im KK 11 an den „Duft des Todes“ eigentlich gewöhnt hätte haben müssen, sorgte er immer wieder aufs Neue für aufkommenden Brechreiz.

Während die Spusikollegen die Fingerabdrücke des Leichnams sicherten, nahmen Nina und ich die Leiche genauer in Augenschein.

„Tja, das scheint ein ganz schön heftiger Fall zu sein, Nina“, sagte ich und deutete auf die Hände des Toten, die mit dicken Seilen auf dem Rücken gefesselt waren. Die Ärmel seiner schwarzen Jacke hingen in Fetzen herab und schienen nur noch durch wenige Fäden gehalten zu werden.

„Wie du siehst, ist er gefesselt worden.“

„Hast du genug Bilder von der Bauchlage gemacht?“

„Logisch. Ihr könnt den Kerl umdrehen. Aber seid bloß vorsichtig! Nicht, dass der Kerl uns hier noch platzt!“

Vorsichtig packten Thomas und Alwin den Leichnam an der Schulter und brachten ihn in die Rückenlage. Das aufgedunsene schwarz-grüne Gesicht unseres Todesopfers versetzte mir einen erneuten Würgereiz. Eigentlich konnte man zu dieser haarlosen, verfaulten Masse kaum noch Gesicht sagen.

„Mein Gott!“, entfuhr es Nina, die sich zwischenzeitlich ebenfalls ein grandioses Wissen über Tötungsdelikte angeeignet hatte – obwohl sie keine gelernte Kriminalbeamtin war.

Akribisch begutachtete ich das zermatschte Gesicht des Toten. „Schwer zu sagen, ob der geschlagen wurde. Die Verletzungen könnten auch von einer Schiffsschraube stammen.“

Ich griff nach meinem Handy, um Theo anzurufen. „Die Rechtsmedizin wird mit der Obduktion zeitnah beginnen müssen. Die Autolyse, also die Selbstauflösung abgestorbener Körperzellen, wird durch Sauerstoffzufuhr ja bekanntermaßen rasant beschleunigt.“

„Dann ruf ich noch mal unseren Staatsanwalt an. Der wollte nicht mehr zu euch rauskommen. Ich informiere auch direkt den Bestatter.“

„Habt ihr den Toten schon identifizieren können?“, wollte ich von Thomas Schwadorf und Alwin Scheunemann wissen. Aber sie schüttelten synchron den Kopf. „Leider nicht. Ich habe seine Taschen komplett durchsucht – und weder Papiere noch Portemonnaie gefunden. Das Einzige, was er bei sich trug, war ein Ring am rechten Ringfinger.“

Alwin reichte mir den goldenen Ring, der in einem Klarsichtbeutel steckte. Vorsichtig holte ich das Schmuckstück heraus und betrachtete die Gravur auf der Innenseite:

KATJA 9.8.96

„Wenn ihr nichts dagegen habt, werden wir den Ring mitnehmen. Könnte ein Hinweis auf die Identität des Toten sein. Der Kleidung nach zu urteilen, scheint er Schornsteinfeger gewesen zu sein“, warf ich ein.

„Hast Recht. Die tragen ja so seltsame Klamotten mit diesen Halstüchern.“

„Das sind keine seltsamen Klamotten. Es ist die traditionelle Zunfttracht der Schornsteinfeger. Und das, was ihr als Halstuch bezeichnet, ist ein Mundtuch. Bei der Kaminreinigung ziehen sie das über Mund und Nase, um keinen Ruß und keine Abgase einzuatmen.“

Erstaunt schaute ich Nina an. „Woher weißt du das alles?“

„Tja, mein Opa war Bezirksschornsteinfegermeister in der Eifel, bevor er vor ’n paar Jahren in Rente gegangen ist. Der hat mich oft mitgenommen und mir alles darüber erzählt.“

„Die Kleidung der Leiche werden wir erst später abkleben, wenn sie getrocknet ist“, sagte Thomas. Ich nickte.

Wir verließen das abgesperrte Gelände. Nachdem wir uns der grässlichen Schutzanzüge entledigt hatten, informierte mich Theo, dass der Staatsanwalt die Obduktion angeordnet hatte.

***

Bernd und Martina waren mit den beiden Zeugen zum Präsidium gefahren. Mit ihren Designerklamotten sahen die beiden nun wirklich nicht wie hart arbeitende Binnenschiffer aus.

Während Frau Blümli von Martina befragt wurde – wobei sie so fertig war, dass sie der Beamtin nur sagen konnte, dass sie die Leiche im Hafenbecken treiben gesehen hatte –, wurde Adrian Blümli, dessen dunkler Teint ihn wie einen Südeuropäer aussehen ließ, von Bernd vernommen.

„Also: Was ist heute Morgen genau passiert?“

Adrian Blümli, ein hochgewachsener und durchtrainierter Mann, begann mit seinem Bericht: „Also ich wollte mich so gegen halb acht auf den Weg zum Zollamt im Hafen machen, um die Ausfuhrformalitäten zu erledigen. Wir sind gestern aus Rotterdam nach Köln gekommen, um mehrere Tonnen Getreide zu laden. Heute wollten wir uns auf den Rückweg nach Basel machen. Und als ich schon auf der Kaimauer war, hörte ich, wie meine Frau schrie. Sie wollte das Schiffsheck saubermachen und hat die Leiche im Wasser treiben sehen. Das war eigentlich alles. Wir haben dann die Kollegen gerufen.“

„Wieso Kollegen?, fragte Bernd.

„Die Piz Palü gehört meinen Eltern. Aber da mein Vater eine schlimme Grippe hat und das Bett hüten muss, sind meine Frau und ich für diese Tour eingesprungen. Ich bin zwar auch gelernter Binnenschiffer - aber inzwischen arbeite ich als Wachtmeister bei der Kantonspolizei Basel-Stadt.“

Bernd nickte nur. „Gut, Herr Kollege. Dann bringen wir Sie jetzt zurück zum Niehler Hafen.“

„Merci vielmal!“

***

Der Bestatter transportierte die Leiche ab, um sie in die Rechtsmedizin zu überführen. Ich brachte Nina zurück ins Präsidium und fuhr dann zur Rechtsmedizin. Theo hatte mich telefonisch informiert, dass die Obduktion zeitnah erfolgen sollte und mich gebeten, daran teilzunehmen.

Gemeinsam mit Thomas Schwadorf und Staatsanwalt Dr. Müller begrüßte ich den Rechtsmediziner Dr. Pfeiffer sowie seinen Präparator im kalten Keller des Instituts für Rechtsmedizin am Rande des Melatenfriedhofs.

Thomas Schwadorf öffnete das goldene Koppelschloss des schweren Ledergürtels sowie die darunterliegenden, in Doppelreihen angeordneten Goldknöpfe der kurzen schwarzen Jacke mit Stehkragen und hob das schwarze T-Shirt an. Als ich die schwarz-grün verfärbte, verfaulte Bauchdecke des Toten sah, die mit blutblasenähnlichen Gasblasen übersät war und deren Gestank nun noch beißender und unerträglicher wurde, überkam mich erneut ein Würgereiz.

Dr. Pfeiffer, der „Fettsack“, beugte sich angestrengt herab und nahm die Leiche genauestens in Augenschein.

„Also wie Sie alle selbst sehen können, ist der Fäulnisprozess eingetreten. Dadurch ist die Leiche ja erst an die Wasseroberfläche gekommen.“ Der Fettsack betrachtete die Hände des Toten. „Die Waschhaut an den Händen hat sich teilweise bereits abgelöst. Der Tod muss schon vor Wochen eingetreten sein.“

Thomas schnitt das vom dreckigen Hafenwasser verschmutzte, ehemals weiße Halstuch des Toten am Rande durch, um den Knoten zu erhalten, der vielleicht eine Besonderheit darstellte und daher auf einen bestimmten Täter deuten könnte. Dr. Pfeiffer betrachtete den darunterliegenden Hals. Mehrere Minuten war es totenstill.

Bevor Dr. Pfeiffer letztendlich seinen Kollegen Dr. Büxel rief, um mit ihm gemeinsam die Obduktion durchzuführen, schnitt Thomas die Kleidung des Toten spurenschonend durch, um sie einzutüten und auf der Dienststelle trocknen zu lassen.

***

Theo hatte Nina gebeten, sich um die Klärung der Identität des Opfers zu kümmern. So machte sie sich zunächst an die Recherche in unseren EDV-Systemen.

Theo legte derweil die Akten an. Eine langweilige Arbeit, die der MK-Leiter dankenswerterweise in der Regel selbst übernahm.

Um Viertel nach eins betrat Nina aufgeregt Theos Büro. „Chef, es gibt Neuigkeiten“, sagte sie.

„Bei der Vermisstenstelle liegt eine interessante Vermisstenmeldung vor. Als Sachbearbeiterin ist Dagmar Thiele genannt. Also: Am 15. März hat eine Frau namens Katja Ückesdorf auf der Wache in Porz ihren Ehemann Axel als vermisst gemeldet. Diese Frau Ückesdorf gab gegenüber den Kollegen zu Protokoll, dass sie fürchtete, ihr Mann sei einem Verbrechen zum Opfer gefallen.“

„Ist ja alles sehr interessant - aber wie kommst du drauf, dass er unser Mann ist?“

Nina räusperte sich und las aus der Personenbeschreibung des Vermissten vor. „Axel Ückesdorf, geboren am 14. Februar 1970 in Porz, einssechsundachtzig groß, korpulent, kurze hellblonde Haare mit Stirnglatze, Grübchen am Kinn. Beruf: Schornsteinfegermeister. - Und dann denk mal an die Ringinschrift. Das passt doch nun wirklich.“

„Hast du Dagmar gefragt, wie Frau Ückesdorf darauf kam, dass ihr Mann das Opfer eines Verbrechens wurde?“, wollte Theo wissen.

„Das kannst du sie selbst fragen. Ich hab sie gebeten, gleich vorbeizukommen.“

Nina hatte ihren Satz kaum zu Ende gesprochen, als die Erste Kriminalhauptkommissarin Dagmar Thiele, Leiterin des KK 12, gemeinsam mit Kriminalhauptkommissar Ralf Brambach, einem jungenhaften Mittvierziger mit leicht lockigen Haaren und strohblonden Augenbrauen, Theos Büro betrat. Seit September des Vorjahres arbeitete er für die Vermisstenstelle des KK 12.

Dagmar, eine sympathische Blondine Ende vierzig, begrüßte sie mit einem freudigen Lächeln. „Tach, die Herrschaften. Also: Was können wir für euch tun? Nina sagte eben, ihr hättet einen toten Schornsteinfeger im Rhein gefunden?!“

Während Theo den Charmeur raushängen ließ und Dagmar galant einen Stuhl holte, umriss er kurz den Fall der unbekannten Wasserleiche aus dem Niehler Hafenbecken.

„Scheint ’ne vielversprechende Spur zu sein“, sagte Kollegin Thiele und entledigte sich ihres eleganten Seidenschals, der perfekt zu ihrem grauen Blazer und der dunklen Stoffhose passte. Ihr Begleiter Ralf nickte wortlos.

„Ihr gestattet?“, fragte sie, während sie sich eine Zigarette anzündete. „Aber sicher“, entgegnete Theo, der selbst leidenschaftlicher Raucher war.

„Hier. Nina hat uns gebeten, euch die Vorgangsakte mitzubringen“, sagte Ralf und legte die Mappe auf den Tisch. Sofort blätterte Theo sich durch den Vorgang. Das Passbild, das Frau Ückesdorf den Kollegen zur Verfügung gestellt hatte, zeigte einen freundlich lächelnden Mann.

„Was meinte Frau Ückesdorf denn mit ihrem Verdacht, ihr Mann könnte das Opfer einer Straftat geworden sein?“

„Tja, sie zögerte sehr, mit der Sprache rauszurücken – hatte wohl selbst Angst. Aber sie sagte, dass sie in letzter Zeit mehrere Drohanrufe und auch Besuche von ziemlich zwielichtigen Typen bekommen habe. In dem Zusammenhang erwähnte sie einen unbekannten Griechen namens Stefanos, der eines Abends vor ihrer Tür stand und sie unter Druck setzte. Und einen Autohändler, der Karl-Otto Rühmann heißt und endlich das Geld für das von Ückesdorf gekaufte Auto haben wollte. Wir sind allen Spuren nachgegangen.

Diesen Rühmann haben wir befragt, er konnte sich Ückesdorfs Verschwinden nicht erklären. Aber diesen ominösen Stefanos haben wir leider nicht identifizieren können. Ückesdorfs Chef haben wir vorletzte Woche erst angetroffen. Der war im Urlaub. Er hat uns erzählt, dass sich Ückesdorf am 10. März nach einer sogenannten ‚Abgaswegeprüfung‘ im Agnesviertel noch bei ihm gemeldet habe, kurz nach fünf Uhr nachmittags.

Danach ist er dann spurlos verschwunden. Speyer hat uns noch das Kennzeichen des Firmenwagens genannt, mit dem Ückesdorf unterwegs war. Aber die Fahndung nach dem Wagen war bislang erfolglos. Wir haben die Anwohner in der Weißenburgstraße befragt. Dort hatte niemand Ückesdorf, eine mögliche Kontaktperson oder etwas Verdächtiges beobachtet.

Unter Umständen könnte für euch noch interessant sein, dass Ückesdorf am Morgen jenes Tages eine Handynummer angerufen hat. Laut Auskunft des Netzanbieters ist dieses von Ückesdorf angewählte Prepaidhandy auf eine Holly Golightly, wohnhaft Am Westpark 8 in 81373 München, registriert …“

„Holly Golightly?“, fragte Nina. „So hieß doch Audrey Hepburn in ‚Frühstück bei Tiffany‘. ’n super romantischer Filmklassiker.“

„Ganz genau. Respekt, Nina – dass du junge Kollegin den alten Film kennst“, meinte Dagmar anerkennend.

„Und die angegebene Adresse dürfte den meisten Autofahrern auch bekannt sein“, sagte Ralf und zückte sein Portemonnaie, aus dem er seine ADAC-Mitgliedskarte holte. Am Westpark 8, 81373 München war darauf als Zentrale des ADAC vermerkt.

„Diese Nummer hat Ückesdorf in der letzten Zeit wiederholt angewählt. Sie scheint jemandem zu gehören, der anonym bleiben möchte. Frau Ückesdorf konnte mit dieser Nummer auch nichts anfangen. Wie gesagt: Alle Anhaltspunkte, die wir hatten, sind im Sande verlaufen.“

„Dann wird es wohl höchste Zeit, nochmal mit Frau Ückesdorf zu sprechen. Wir werden uns gleich auf den Weg machen, Nina“, sagte Theo.

Dagmar nickte. „Wenn du nichts dagegen hast, werde ich Nina begleiten. Schließlich bin ich die zuständige Sachbearbeiterin in dem Vermisstenfall und Frau Ückesdorf kennt mich schon. Oder hast du etwas dagegen, Ralf? Ist ja jetzt schließlich dein Fall.“