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Alexa Thiesmeyer

Brandmord

Kriminalroman

Inhalt

Im Morgengrauen

1 SONNTAG

2 MONTAG

3 DIENSTAG

4 DONNERSTAG

5 FREITAG

6 SAMSTAG

7 SONNTAG

8 DIENSTAG

9 MITTWOCH

10 MITTWOCHNACHMITTAG

Ausklang

Anmerkungen der Autorin

Mein herzlicher Dank gilt …

Die wichtigsten Personen des Romans

Im Morgengrauen

„Schlimme Träume sterben nicht.“

„Liebe Frau Rüttelfalk –“

„Tosen, Bersten, Höllenlärm, Hitze, Qualm. Verkohlte und geschrumpfte Leichen überall …“

„Sie sprechen vom Krieg, von den Brandbomben. Das war furchtbar, ich verstehe. Doch jetzt ist nur wichtig, was heute Nacht –“

„Wohin entkommen durch meterhohe Feuerwände, wohin? Solche Todesangst, wir waren Kinder!“

„Frau Rüttelfalk, bitte …“

„Wir haben überlebt, weiß der Himmel, wie. Aber Gott danken? Das schafften wir nicht. Unsere kleine Schwester war tot, mein Bruder Konrad verletzt, Mutter dem Wahnsinn nah und Herbert, ihr Großer, in Russland an der Front, Vater seit Stalingrad vermisst.“

„Bitte, versuchen Sie, sich zu konzentrieren.“

„Die Jungs in den englischen Bombern waren blutjung, nicht viel älter als Konrad, etwa so wie Herbert. Alt genug zum Töten. Das kann offenbar jeder, wenn er meint, er muss.“

„Frau Rüttelfalk, wie war das heute Nacht?“

„Schreien Sie nicht so, ich bin nicht schwerhörig. Also gegen halb vier wurde ich wach. Ich glaubte, ein Geräusch gehört zu haben, und zog meinen Morgenmantel über. Konrad schlief im Zimmer nebenan und schnarchte so gleichmäßig wie selten. Im Haus war es sonst still. Einen Moment lang dachte ich, unten ist der Kaminofen an. Es roch danach, und ich meinte, die Wärme zu spüren. Da hörte ich draußen was krachen. Dann Knistern und Brodeln. Heller Schein fiel durchs Flurfenster, das zum Nachbarhaus hinausgeht. Dort leckten Flammen übers Dach, und aus den Fenstern quoll dichter Qualm. Und ich schrie, ich schrie! Konrad wachte auf, war aber zu nichts zu gebrauchen. Ich lief zum Telefon. 112, die Nummer hat man ja im Kopf. Gottlob ist das Paar von drüben übers Wochenende weggefahren, wenigstens das, dem Herrn sei gedankt.“

„Frau Rüttelfalk …“

„Weshalb schauen Sie mich so an? War … War doch jemand im Haus?“

(Gudrun Rüttelfalk, 84, Zeugin, im Gespräch mit Kriminalhauptkommissarin Sabine Ahrbrück)

1

SONNTAG

Peter

Jede Veränderung in seinem Leben löste eine seltsame Unruhe in ihm aus, als geriete der Boden unter ihm ins Wanken. Als wäre da nichts mehr zum Festhalten und jegliche Sicherheit in Frage gestellt.

„Stell dich nicht an“, erklärte Peter seinem mürrischen Gesicht, bevor er den Flurspiegel von der Wand nahm und in eine Wolldecke wickelte, um den vergoldeten Stuck des alten Rahmens zu schützen. „Das wird keine Überquerung des Atlantiks, sondern ein Umzug in die Eifel.“

Allerdings der erste Umzug nach achtzehn Jahren, und beim letzten hatte die räumliche Entfernung keine zweihundert Meter innerhalb der Bonner Südstadt betragen, von der Königin die Kaiserstraße, von einem gelben Gründerzeithaus in ein braunes. Und nun Eifel. Randlage zwar, aber dennoch Eifel mit Wind und Wetter. Die Gegend gehöre fast noch zu Bonn, hieß es immer, mit dem Auto ein Katzensprung ins Zentrum, trotzdem würde das Leben dort draußen ein anderes sein. Weit weg von den gewohnten Läden, Museen und Kneipen, die er bisher zu Fuß erreicht hatte.

Morgen in der Frühe sollte der Möbelwagen anrollen. Schränke, Kommoden, Regale und Schreibtische waren ausgeräumt, die Sachen in Kisten verpackt, die Bilder abgehängt. Nur ihre Orchideen wollte Birte selbst befördern. Heute noch.

Sie sammelte die Pflanzen, deren zarte Blüten an langen Stängeln wippten, von den Fensterbänken ein und stellte sie auf dem Terrazzoboden des Hausflurs zusammen. Peter half ihr, die Töpfe behutsam in Körbe und Wannen zu verstauen, nach draußen zu tragen und in den Volvo zu laden. Doch seine Bewegungen wurden zögernder, als spiele er ernsthaft mit dem Gedanken, alles rückgängig zu machen. Als wäre das noch möglich.

„Was hast du?“, fragte Birte.

Das Haus war gekauft. Mit Unterschrift und Siegel des Notars. Hatte er es zuletzt nicht ebenso gewollt wie sie? Grundsätzlich jedenfalls, wenn auch nicht in diesem Tempo. Bessere Luft, weniger Lärm, Blick auf Felder und Waldränder, mal einen Reiher sehen, Rehe, einen Bussard. Im Garten sitzen, den Duft von Wiesen riechen, Stille erleben. Nein, nicht Einsamkeit, man war dort nicht allein. Man hatte Nachbarn. An den Wochenenden würden Freunde aus Bonn und Köln zu Besuch kommen, und der Sohn, der ein Studium in Berlin begonnen hatte, konnte sich dort vom Großstadtstress erholen. War doch alles bestens, oder?

Zunächst hatte es Peter maßlos überrascht, dass Birte, die sich stets als Stadtmensch bezeichnet hatte, plötzlich den Wunsch äußerte, auf dem Land zu leben und in die Eifel zu ziehen. Sie schien es kaum erwarten zu können, die 30 Kilometer zwischen Wohnort und Arbeitsplatz täglich zweimal zurückzulegen, fünf Tage die Woche. Und dieses eine Nest musste es sein, ohne Laden, ohne Kneipe, die schläfrige kurze Sackgasse, das nichtssagende Häuschen, mitten in der Idylle, wie sie sagte. Womöglich waren die Nachbarn spießig, vielleicht blieb der Besuch aus und wahrscheinlich vergaß der Sohn sie da draußen gänzlich, abgesehen davon, dass einem das geballte Grün mit der Zeit auf den Wecker gehen konnte. Birte besaß nicht mal das richtige Schuhwerk für so viel Natur, und mit Geduld hätte sich ein besseres Objekt gefunden. Das Interessanteste an dem Haus war noch das seitliche Küchenfenster, durch das man auf das Nachbarhaus mit dem runden Turm blickte, der wie ein dicker Pilz aus dem Parterre herauswuchs, mit Fenstersimsen aus bunter Keramik, ein ungewöhnliches, originelles Bauwerk. Ausgerechnet das fantasielose graue Ding daneben, dieser peinliche Kontrast, hatte es Birte angetan. Doch Peter war ein lieber Mann und hatte die Zweifel zum Schweigen gebracht. Nun wurden sie wieder laut. Als hätten sie hinterhältig auf den Zeitpunkt gewartet, an dem es kein Zurück gab.

Anscheinend erwartete Birte keine Antwort auf ihre Frage. Sie rückte die Orchideentöpfe in der Wanne zurecht und warf die Heckklappe zu. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen blitzten.

„Fahren wir.“

Peter hielt den Seufzer zurück, der aus seiner Brust ins Freie drängte, nahm hinterm Lenkrad Platz und startete den Volvo. Über die Reuterstraße gelangten sie zur Autobahn 565. Die Häuser der Stadt verschwanden rasch hinter ihnen, sie durchquerten den Kottenforst. Bald breiteten sich die Felder und Ortschaften der Voreifel vor ihnen aus. Birte saß auf dem Beifahrersitz und summte eine Melodie, irgendwas Flottes, Fröhliches. Peter hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sich nicht so freute wie sie. Doch als die Eifelberge näher rückten, glimmte auch in ihm ein Funken Vorfreude auf. Der Himmel spannte sich über die Landschaft wie ein blauseidenes Tuch, das Laub der Büsche und Bäume leuchtete rot und golden im Licht der tief stehenden Sonne. Jeder Strauch am Straßenrand schien eigens dafür angestrahlt, ihm den Umzug schmackhaft zu machen. Es würde alles gut werden. Wunderschön. Bestimmt.

Auf einer der vorderen Höhen, auf die sie zuhielten, lag das Dorf. Am Ortsausgang von Altendorf stieg das Gelände bereits an. Obstplantagen links und rechts der Landstraße, Weideland und herbstlich bunter Wald. Nun fuhren sie durch Hilberath, das wie ihr Dorf zu den verstreuten Höhenorten der Stadt Rheinbach zählte, dann durch grünes Hügelland. Der Volvo glitt am Parkplatz „Tor zur Eifel“ vorbei, wo Menschen mit Rucksäcken und Wanderstöcken vor geöffneten Kofferräumen standen. Birte summte lauter. Peter pfiff dazu und ließ sein Fenster herunter. Ja, wirklich, hier fühlte man sich frei, hier ließ sich durchatmen, fernab von Hektik und Stress.

Die Straße schlängelte sich in weichen Bögen durch die Wiesen und bot einen Ausblick über die rheinische Bucht bis zum fernen Horizont, an dem Peter die Stadt Köln vermutete. In einer Kurve ging es abwärts, dort standen die ersten Fachwerkhäuser des Dorfs. Hier bogen sie rechts ein, passierten ältere Häuser, die neugotische Kapelle aus Backstein und freistehende Einfamilienhäuser aus neuerer Zeit. Schließlich erreichten sie die kurze Stichstraße, den Pappelweg. Das zweite Haus rechts, das graue, unscheinbare mit den knorrigen Apfelbäumen drum herum, war das ihre.

„Nein!“, schrie Birte gellend.

Peter zuckte zusammen. „Was ist?“

„Hier zieh ich nicht hin! Lass uns umkehren! Sofort!“

Er lachte laut auf, so verblüfft war er. Die Wende kam zu plötzlich.

„Du lachst? Siehst du das nicht?“

Er war schon dabei, den Wagen rückwärts in die Parkbucht zu bugsieren. Nun blickte er nach vorn, wo sieben oder acht Menschen zusammenstanden, jüngere und ältere.

„Die Leute sind Nachbarn, denen wir uns gleich vorstellen können.“

Die Leute? Bist du blind?“

Zuerst fiel ihm der Geruch auf, dann sah er es auch: verkohlte Dachsparren, leere Fensterhöhlen, rußgeschwärzte Mauern. Das schicke Nachbarhaus glich einer Ruine. Der obere Teil des Turms war vollständig ausgebrannt.

Ella

An einem solchen Tag konnte man nicht ins Haus gehen und irgendwelchen Kram erledigen. Ella Borke, die in der Nummer 1 auf der anderen Straßenseite wohnte, nahm an, dass alle, die vor dem Unglückshaus standen, das die einen als Pappelburg, die anderen als Zumutung bezeichnet hatten, genauso fassungslos waren wie sie selbst, kaum in der Lage, das Geschehene zu begreifen:

Ihr Ehemann Mattes in dem viel zu grellen T-Shirt und, links und rechts bei ihm eingehakt, ihre zehnjährigen Zwillinge; das rundliche Paar Renate und Clemens Müllenbach aus Nummer 2 mit dem blassen, schlapp wirkenden 25-jährigen Roland; ferner der kaum ältere, aber temperamentvollere Pascal Heckes aus dem Souterrain von Nummer 8 mit der glimmenden Zigarette zwischen den Fingern und natürlich seine Vermieterin Gudrun Rüttelfalk, die in der Nacht die Feuerwehr gerufen hatte, sowie ihr fast neunzigjähriger Bruder Konrad, der sich abseits hielt und seinen Kopf hin und her bewegte, als könnte er nicht glauben, was er sah.

„Da kommen die Neuen“, sagte Gudrun und setzte ihre Brille auf, was anscheinend dem Zweck diente, die beiden, die in dem Volvo mit Bonner Kennzeichen saßen, gründlich in Augenschein zu nehmen. „Sie ist Lehrerin, er Schriftsteller.“

Dass die bisherige Besitzerin der Nummer 4, die 93-jährige Gisela, in ein Pflegeheim übergesiedelt war und ihr Sohn das Haus verkauft hatte, wusste Ella. Wie alle hier hatte sie die neuen Bewohner mit Spannung erwartet. Doch jetzt vermochte sie ihren Blick kaum von Konrad abzuziehen. Er schien sein Kopfschütteln nicht einstellen zu können und die Fremden, die aus dem Wagen stiegen, nicht zu beachten.

„Mit Feuer hat er ein Problem“, flüstere Gudrun ihr zu. „Das kommt vom Krieg.“

Diesen Satz kannte Ella seit ihrer Kindheit, er war verknüpft mit Worten wie Fliegeralarm und Luftschutzkeller, bezog sich auf den Beinstumpf des Großvaters, die Brandspuren an der Bibel und die alljährliche Panik der Großmutter, wenn das Sylvestergeknalle losging. Seit ihre Großeltern tot waren, kannte Ella außer den Rüttelfalks niemanden, der die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erlebt hatte, einer der Gründe, weshalb die beiden ihr so viel bedeuteten.

Die Neuen näherten sich zögernd. Der Mann mochte um die fünfzig Jahre alt sein, hatte volles mittelblondes Haar, das einen silbrigen Schimmer aufwies, und wirkte in seiner ausgewaschenen Jeans und den hochgekrempelten Hemdsärmeln ziemlich lässig. Die etwas jüngere Frau trug ein schmal geschnittenes rotes Kleid, hatte große dunkle Augen und ein ebenmäßiges Gesicht mit makelloser Haut, perfekt eingerahmt von glattem, tiefbraunem Haar. Eine Schönheit.

Sicherlich war dem Paar bewusst, dass herzliches Willkommen und muntere Begrüßung nicht in Betracht kamen. Nicht nach so einem Vorfall, nicht nach so einer Nacht. In dem Nebeneinander von Finsternis und gleißendem Scheinwerferlicht war außer einer stattlichen Anzahl Feuerwehrleute und Polizisten sowie den Löscharbeiten mit Schläuchen, Spritzen und ausgefahrener Drehleiter zwar wenig zu erkennen gewesen, weil die Straße in düsteren Rauch gehüllt war und der Morgen langsamer zu grauen schien als sonst. Aber unter all den Fahrzeugen und kreiselnden Blaulichtern waren ein Rettungswagen und ein Notarztauto auszumachen, später tauchte der schwarze Wagen eines Beerdigungsinstituts auf. Die Feuerwehr war noch geraume Zeit beschäftigt, uniformierte Polizisten sperrten das Grundstück der Nummer 6 und den Straßenrand, wo verkohlte Holzteile und zersplitterte Ziegel herumlagen, mit rotweißem Band ab. Es sei ein Glück, dass die Flammen nicht auf die Nachbarhäuser übergegriffen hätten, sagte man den Anwohnern. Die Brandursache werde noch ermittelt. Ella schwante, dass dies nicht alles war. Ihr war elend zumute, ihr ging so viel durch den Kopf.

„Peter Beerlauch“, sagte der eingetroffene Mann. „Meine Frau Birte Beerlauch-Kannenschütter. Morgen ziehen wir ein.“ Er warf seiner Frau, um deren Mund es zuckte, einen fragenden Blick zu, als wäre er sich nicht sicher.

Der Reihe nach reichten alle den beiden die Hand und stellten sich vor, ernst und gefasst, wie auf einer Beerdigung.

„Die ganze Belegschaft des Pappelwegs, bis auf Lisa von Axfeld und Curd Lemon.“ Renates Doppelkinn bebte, als sie den französischen Namen nasal ausklingen ließ. „Sie sind gestern zu einer Theaterparty nach Bochum gefahren, und wir wissen nicht …“ Sie schluckte.

„Und Jasper fehlt, der gehört auch dazu“, sagte Gudrun. „Er ist fast täglich hier.“ Sie deutete zur anderen Straßenseite, auf das unbebaute, von allerlei Kraut bewachsene Grundstück und den windschiefen, mit Plastikplane geflickten Schuppen, von dessen Wellblechdach eine FC-Köln-Fahne wehte, das Rot verblichen, das Weiß fleckig, der Rand zerfranst.

„Warum Jasper ausgerechnet heute nicht hier ist?“

Die Frage mit der anzüglichen Betonung kam von Pascal, der, obwohl noch keine Dreißig, fast immer Sakko, Hemd und Krawatte trug. Mit dem vorgestreckten Kinn, der Stupsnase und dem spöttischen Zug um die Lippen sah er ziemlich frech und anmaßend aus, was Gudrun, die ihren Mieter offensichtlich wie einen Sohn oder Enkel liebte, ebenso wenig zu stören schien wie sein penetranter Geruch nach Zigarettenrauch.

„Ist das nicht merkwürdig?“, fügte er hinzu.

Niemand erwiderte etwas. Dass Jasper seit Freitag nicht aufgetaucht war, hatte auch Ella bemerkt. Womöglich überlegten jetzt alle, ob er krank oder verdächtig war.

„Dieses Haus“, wandte sich Renate erneut an die Beerlauchs, „hat Curd vor ein paar Jahren für sich und Lisa gebaut, er ist Architekt. Richtfest und Hochzeit fielen zusammen. Ein rauschendes Fest.“

Peter Beerlauch sah zu den stehengebliebenen Resten der Dachbalken empor, die wie magere schwarze Finger in die Luft ragten, Mahnmale vor dem blauen Himmel.

„Schlimm.“

„Schlimmer“, sagte Mattes. „Es kam jemand zu Tode.“

Die neue Nachbarin zuckte zusammen. Sie machte eine halbe Drehung, als wollte sie zurück zum Auto rennen. „Nein“, flüsterte sie. „Nicht.“

Sie zitterte, als ob sie fröre. Ihr Mann zog sie sachte an sich heran. Netter Typ, dachte Ella.

„Hoffentlich niemand aus Curds Familie“, sagte Renate. „Wer auf der Bahre lag, war nicht erkennbar.“

„Vielleicht ein Freund, sonst hätte Curd den Hund nicht dagelassen“, meinte Mattes.

Ella mochte nicht reden. Schweigen schien das einzig Angemessene. Mattes fiel das immer schwer, während sie nicht anders konnte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Curds Hund, den die Feuerwehrleute aus dem Keller heraufgetragen hatten, saß jetzt in ihrem Haus hinter der Tür. Gebibbert hatte er, die Rute zwischen den Hinterläufen eingeklemmt, das Fell pitschnass vom Löschwasser, das die Kellertreppe hinuntergeflossen war, unter der er sich verkrochen hatte. Ella hatte das Tier zu sich genommen, abgetrocknet und gefüttert. Sie war froh gewesen, irgendwas tun zu können. Es war ja Wochenende, da hatte sie Zeit.

Wieder näherte sich ein Auto, ein grauer, unauffälliger Opel. Es war derselbe, mit dem frühmorgens die Beamten der Kriminalpolizei vom Polizeipräsidium aus Bonn gekommen waren. Sie hatten alle gefragt, ob sie in der Nacht irgendwas bemerkt hätten, bevor das Haus brannte. Wie denn?, hatte Ella entgegnet. Weder Mond noch Sterne waren dagewesen, und im Pappelweg gaben nur zwei Laternen ein schummeriges Licht, die eine vorn an der Ecke, die andere ganz am Ende. Wenn man nachts am Fenster stand, konnte man hier leicht Gespenster sehen. Aber das hatte Ella für sich behalten.

„Schon wieder die Kripo“, sagte Clemens.

Ella meinte, ein schwaches Stöhnen zu hören. Ihr fiel auf, dass er bisher geschwiegen hatte. Er sah schlecht aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Das Unglück schien ihn furchtbar mitzunehmen. Oder war er krank? Überarbeitet? Die braune Strickjacke stand ihm nicht, gab ihm ein typisches Rentner-Aussehen. Dabei war er noch berufstätig und bemüht, sich fit zu halten, wenngleich es seiner Figur nicht viel nutzte, jedenfalls fuhr er oft mit der Sporttasche los.

Der graue Wagen hielt am Straßenrand. Auf dem Rücksitz saß die schöne Lisa, ein dunkles Tuch ums blonde Haar geschlungen und wie immer perfekt geschminkt. Die Augen hielt sie gesenkt. Auf ihren Lidern schimmerte es blaugrün.

„Die Polizei geht wohl von Brandstiftung aus“, sagte Mattes.

„Hier ziehe ich nicht hin!“

Das klang nach Panik. Glaubte die Frau Beerlauch-Sowienoch, ein Feuerteufel ginge von Haus zu Haus? Davor hatte hier wahrscheinlich jeder Angst. Auch in Ellas Innern rumorte die Furcht. Es kostete Mühe, sie nicht hochkommen zu lassen.

„So etwas kann doch auch anderswo passieren“, meinte Renate und legte ihre pralle Rechte auf den schmalen Arm der Frau. „Es ist natürlich ein Schock für uns alle. Aber wir helfen Ihnen, sich hier einzuleben.“

„Danke“, sagte Peter Beerlauch.

Seine Stimme hatte einen warmen Klang, der den Ohren gut tat. Offenbar neigte er nicht dazu, sich übermäßig aufzuregen. Während seine Frau stocksteif am Bordstein stand, öffnete er den Kofferraum des Volvos und hob eine Wanne voll prächtiger Orchideen heraus.

Die beiden Kriminalkommissare, eine Frau und ein Mann, stiegen aus dem Opel. Der Mann, ein wahrer Hüne, hielt Lisa die Wagentür auf.

„Wieso ist sie allein?“, flüsterte Gudrun. „Wo ist Curd?“

Die Dreiergruppe ging auf die beschädigte Pappelburg zu. In der eingetretenen Stille schien das Klacken von Lisas hohen Absätzen das einzige Geräusch weit und breit zu sein. Ella hätte Lisa gern in die Arme genommen. Aber die Frau des Architekten wirkte unnahbar, sah niemanden an und hielt die Augen starr auf ihr Haus gerichtet. Ella wurde bewusst, wie wenig sie die Schauspielerin kannte, die infolge ihrer Engagements an verschiedenen Bühnen viel unterwegs war. Auf der Straße sah man meistens nur den viel älteren Curd mit dem Hund. Wenn Lisa aus dem Haus trat, pflegte sie sofort in ihren Porsche zu steigen. Allenfalls winkte sie kurz, bevor sie um die Ecke brauste.

Die Beamten und Lisa blieben vor dem Absperrband auf dem Vorplatz zwischen der Doppelgarage und der Haustür stehen. Sie sprachen gedämpft miteinander, nicht zu verstehen für die Ohren neugieriger Nachbarn. Lisa hielt den Kopf vom Turm abgewandt, doch ihr Blick schien ab und zu den flachen Teil des Gebäudes zu streifen, der vom Feuer unberührt war. Ella kam es so vor, als ob das Mauerwerk des Turms noch Wärme ausstrahlte.

„Wenn sie ohne ihn herkommt“, raunte Gudrun, „bedeutet das wohl …“ Sie verstummte.

Mattes kniff die Augen zusammen. „Curd hat gesagt, er bräuchte mal ein ruhiges Wochenende. Es könnte also sein, dass er …“

Alle standen ganz still. Das Grauen der unausgesprochenen Gedanken schien in jedem eine Starre auszulösen. Keiner von ihnen rührte sich, als Lisa und die Kriminalbeamten noch einmal an ihnen vorbeigingen. Sie hatten das Innere des Hauses nicht betreten. Vielleicht bestand Gesundheits- oder Einsturzgefahr, oder es gab noch Spuren zu sichern.

„Könnten wir jetzt zum Präsidium zurückfahren, um Ihre Aussage aufzunehmen?“, wandte sich die Beamtin mit dem Pferdeschwanz, die auch Ella befragt hatte, leise an Lisa. „Wir vermitteln Ihnen gern einen Seelsorger oder –“

„Ich brauche nur ein Hotelzimmer“, unterbrach Lisa schroff.

Sie blieb stehen, drehte sich um und blickte nacheinander jedem ins Gesicht: Ella, Mattes, den Zwillingen, Renate, Clemens, Roland, Gudrun, Pascal, den Beerlauchs und schließlich Konrad, der noch abseits stand. Sie holte tief Luft.

„Damit ihr es wisst: Das Opfer ist mein Mann.“

Der Ton einer Anklage. In Ellas Kopf erhob sich ein Sausen, ein schauderhaftes Gefühl. Als hätte Lisa gesagt, Ella, nur Ella sei schuld. Ja, sie hätte es verhindern können. Wenn sie nur begriffen hätte! Eine unverzeihliche Dummheit.

„Ach, Lisa.“ Aus Gudruns Augen lösten sich Tränen und rannen ihre knittrigen Wangen hinab. „Wir dachten, ihr seid beide in Bochum.“

„Curd wollte in Ruhe arbeiten“, sagte Lisa. „Und früh zu Bett gehen. Er fühlte eine Grippe kommen und meinte, es sei vernünftiger, hier zu bleiben, einen heißen Grog zu trinken und viel zu schlafen.“ Sie verzog das Gesicht. „Vernünftiger!“

„Mein Beileid“, wurde mehrstimmig gemurmelt. Die jungen Männer und die Kinder schauten zu Boden, die älteren Nachbarn blickten Lisa an, mitfühlend, traurig, seufzend. Renate ergriff Lisas Hand. Die Witwe zog sie zurück.

„Curds Schlafzimmer war im Turm. Das hat der Täter gewusst.“ Lisas klare Stimme entgleiste ins Raue, Heisere. Sie räusperte sich und bedachte jeden einzelnen mit einem flammenden Blick. „Es war Mord.“

Sie wandte sich ab und folgte den Beamten, die weitergegangen waren, als wollten sie sich von der vorschnellen Annahme eines Mordes distanzieren.

Ella nahm die weit aufgerissenen Augen der neuen Nachbarin wahr. Für eine gänzlich Fremde reagierte sie extrem. Na gut, sie waren alle in einer Ausnahmesituation – verstört, nicht wissend, wie sie damit umgehen sollten. Die Neuen hatten sicherlich gemeint, in eine Idylle zu ziehen. Und nun das. Ein Brand, ein Mord und Nachbarn, die allesamt verdächtig waren. Der Umzug ins Grüne musste sich anfühlen wie ein Alptraum.

Peter

Es war eine merkwürdige Heimfahrt unter dem bewegten Abendhimmel voller rosa, gelber und grauer Wolkenfetzen, die der Westwind vor sich hertrieb. Sofern man überhaupt von Heimfahrt sprechen konnte, wenn man ein letztes Mal dorthin fuhr, wo man achtzehn Jahre gewohnt hatte und in wenigen Tagen eine andere Familie einziehen würde.

Birte hielt die meiste Zeit ihre Lippen aufeinandergepresst. Ab und zu entwich ihrem Mund eine Art Zischen, aus dem Peter immer die gleichen Worte heraushörte: „Ich ziehe da nicht hin.“

Er gab sein Bestes, um Argumente dafür aufzutischen, dass der Einzug in das Haus am Pappelweg die beste Idee war, die sie beide jemals gehabt hatten: Solide Bausubstanz, ausgewogene Proportionen! Herrliches Grundstück, unvergleichliche Ruhe, wunderschöne Gegend! Sympathische Nachbarschaft, wie sie sonst nirgends anzutreffen war.

„Du redest Stuss“, sagte Birte. „Selbst wenn du Recht hättest – dort ist ein Mord geschehen. Das ändert alles.“

„Das muss kein Mord gewesen sein. Reines Pech ist viel wahrscheinlicher. Ein defektes Elektrogerät oder eine umgekippte brennende Kerze.“

„Und dafür kommt die Kriminalpolizei?“

„Ich schätze, das ist immer so, der Fall muss ja erst geklärt werden. Aber selbst wenn es Brandstiftung war, bedeutet das nicht zwangsläufig Mord. Der Täter kann geglaubt haben, dass niemand zu Hause war, und wollte lediglich den verrückten Bau abfackeln, weil der ihm ein Dorn im Auge war.“

„Dann war es einer von den Nachbarn. Ein Grund mehr, den Ort zu meiden. Wer weiß, was denen sonst noch missfällt.“

Sie befanden sich schon eine Weile auf Bonner Stadtgebiet und fuhren über die Reuterbrücke, unter der ein Zug Richtung Süden ratterte.

Peter gab nicht auf: „Die Nachbarn machen einen netten und harmlosen Eindruck. Aber als erfolgreicher Architekt kann dieser Curd natürlich Neider gehabt haben, einen Konkurrenten, dem er einen Auftrag weggeschnappt hat und der ihm einen Denkzettel verpassen wollte, nicht ahnend, dass der Mann sich schlafend im Haus befand.“

„Es war Mord“, beharrte Birte. „Seine Frau meint das auch. Das hast du gehört.“

Peter zuckte mit den Schultern. Sicher, es war ein schreckliches Unglück, ein furchtbarer Schock. Aber war es für sie beide wirklich so entscheidend, was im Nachbarhaus geschehen war?

„Birte, wenn jemand ein Hühnchen mit Herrn Lemon zu rupfen hatte und im Zorn zu weit gegangen ist, hat das nichts mit uns zu tun. Wir können doch trotzdem –“

Birte schnellte hoch, ihr Ellbogen traf seinen Arm. „Du hast keine Ahnung!“

Der Wagen machte einen Schlenker, Peters Fuß geriet aufs Bremspedal. Hinter ihnen wurde heftig gehupt.

„Hast du mehr Ahnung?“

„Ach, du weißt ja nicht, was …“ Schnaufend brach sie ab und biss sich in die Hand, die zur Faust geballt war.

„Zum Kuckuck, Birte, wer von uns beiden wollte unbedingt in dieses Eifelnest ziehen? Und ausgerechnet du machst jetzt so ein Theater!“

„Und ausgerechnet du, Peter, tust jetzt so, als wäre es dein innigster Wunsch, dort zu leben, obwohl du ständig gesagt hast, dir fehle da eine Kneipe und ein Laden und wir sollten nach was Besserem Ausschau halten. Das ist reine Schikane! Freu dich doch, dass ich jetzt einverstanden bin, sofort was anderes zu suchen!“

Sie waren an dem Haus in der Kaiserstraße angelangt. Zum Glück war unmittelbar vor dem Bereich, der mit Schildern für die Spedition reserviert war, eine Parklücke frei. Peter setzte den Volvo rückwärts hinein.

„Morgen früh kommt der Möbelwagen, Birte. Wir können nicht alles abblasen, nur weil im Pappelweg etwas Tragisches passiert ist.“

„Erstens war es nicht irgendwo im Pappelweg, sondern direkt nebenan, zweitens können wir selbstverständlich alles abblasen! Wir müssen den Spediteur halt trotzdem bezahlen.“

„Wir müssen raus der Wohnung. Übermorgen kommen die Anstreicher, und am Freitag ziehen die neuen Mieter ein.“ Das wusste sie doch alles, warum war sie plötzlich so kindisch? Was für eine groteske Diskussion! So hatte er sie noch nie erlebt. Er warf einen Blick zur Seite, als müsse er prüfen, ob die Frau auf dem Beifahrersitz überhaupt noch seine Birte war. „Willst du die nächsten Wochen im Hotel verbringen? Die Möbel so lang einlagern?“

Birte stieß einen leisen Fluch aus. Sie betrachtete ihren Handrücken, auf dem der bogenförmige Abdruck ihrer Zahnreihe zu sehen war.

„Wenn wir uns in dem Dorf nicht wohlfühlen, können wir später immer noch was anderes suchen“, fügte er versöhnlicher hinzu. „Vor allem sollten wir jetzt aussteigen.“

Seine Gedanken eilten schon weiter zu den Dingen, die noch zu erledigen waren. Außerdem hatte er Hunger. Im Kühlschrank waren noch Gewürzgurken und Käse und im Brotfach eine Baguette.

Stunden später, beim Einschlafen, ließ er den denkwürdigen Tag im Stillen noch einmal an sich vorüberziehen. Plötzlich war Birtes Ausruf, dem er im Auto wenig Beachtung geschenkt hatte, wieder präsent: Ach, du weißt ja nicht, was … Sonderbar hatte das geklungen. Da hätte er nachhaken sollen. Nun war es zu spät, Birte schlief bereits. Wusste sie etwas, das er nicht wusste? Über die Anwohner, über die Verhältnisse dort? Oder hatte sie die Worte nur so daher gesagt, um zum Ausdruck zu bringen, wie misslich es war, dass sie beide nicht Bescheid wussten? Ja, so musste es sein. Und natürlich wurde ihr alles zu viel. Bis Freitagnachmittag hatte sie die Mittel- und Oberstufe des Beethovengymnasiums in Mathe und Physik unterrichtet; war völlig erledigt und reif für die Ferien nach Hause gekommen, hatte sich dennoch keine Pause gegönnt und sofort in die Packerei gestürzt, ständig betonend, wie sehr sie sich auf das neue Heim freue und dass sie für sonnengelben Anstrich sorgen wolle. Die Brandstiftung zum Auftakt war ein herber Schlag. Da brauchte er sich über seltsame Äußerungen nicht zu wundern. Ein Nachhaken würde alles nur verschlimmern.

Irina

Sie ließ das Handy in den Schoß sinken und starrte auf die schmierige Fensterscheibe und die Häuser der anderen Straßenseite, auf deren Dächer sich die Dämmerung herabsenkte. Mit einem Mal schien alles so unwirklich. Die ganze Umgebung, draußen und drinnen, der Rauch aus dem Schornstein gegenüber, die Taube, die vorbeiflog, das Summen der Fliege an der Lampe, sogar der Geruch der Bratwurst auf dem Küchentisch, der schäbiger aussah als je zuvor. Alles war verändert.

Die Nachricht, die sie erhalten hatte, war ein Hammer. Im ersten Moment hatte Irina geglaubt, der Hasi mache einen schlechten Witz. Nacht. Feuer. Tod. Wie dicke Steine waren die Wörter in ihr Bewusstsein geplumpst. Brandstiftung. Mord. Sonderbare Gedanken kamen da auf. Wurden zu einem wilden Knäuel aus Fragen und Vermutungen, die ihr Angst machten und so fremd waren, als hätte jemand anderes sie in ihren Kopf gestopft.

Das war ein ganz netter Mann gewesen, dieser Architekt. Sie hatte ihn auf der Baustelle in Merzbach gesehen. Er hatte auf dem Gerüst gestanden und ihr zugewinkt, so ein bisschen väterlich, verständnisvoll oder jedenfalls nachsichtig.

Warum war alles so kompliziert geworden? Sie hatte sich doch nur ein Haus gewünscht. Eins zum Drumherumgehen, kein Reihenhaus, das wie hundert andere aussah. Mit Säulenportal, offenem Kamin, Galerie und Terrasse mit Aussicht, Schlafzimmer mit Balkon, schmiedeeiserne Gitter. Ein Sehnsuchtshaus. Sie hätte es nie erwähnt, wenn der Hasi sie vor anderthalb Jahren nicht so gedrängt hätte. Ich will dir einen Traum erfüllen, Täubchen, Geld spielt keine Rolle, ich hab genug auf der hohen Kante. Da hatte sie ihm erzählt, wovon sie träumte: Raus aus der popeligen Dachwohnung, die im Winter zu kalt und im Sommer zu heiß war, weg von der naserümpfenden Frau Schneider und den anderen Mietern, raus aus dem Stadtkern von Rheinbach, wo jede Ecke sie an was erinnerte, das irgendwie dumm gelaufen war.

Der Hasi war ja so verknallt, wie sie es noch bei keinem Freund erlebt hatte. Nur durfte sie nicht drüber reden, es musste absolut geheim bleiben, alles, auch das Haus. Damit ging es gut voran, und mit dem Architekten war er ja ganz dicke. Der macht mir das zum Freundschaftspreis, mein Täubchen. Als der Mann beim Honorar auf Abschlagszahlungen verzichtete, meinte der Hasi sogar, er arbeite für ihn umsonst, hatte da aber was falsch verstanden. Nach den Handwerkern wollte auch der Architekt sein Geld. Eine gigantische, fünfstellige Summe. Irina konnte sowieso nicht mit Zahlen, hatte jedoch den Eindruck, der Hasi sei pleite, und das blöde Gefühl, sie sei an allem schuld.

Jetzt gab es für den Architekten nichts mehr zu wollen. Nicht mal für die Erben. Laut Hasi hatte sich das Büro in dem Turm befunden, wo die Flammen alles vernichtet hatten. Der Computer und sämtliche Aktenordner waren hinüber, inklusive aller offenen Rechnungen. Nirgends ein Beweis, dass noch was zu zahlen wäre, sagte der Hasi. Falls die Rechnung nicht in der Handtasche der Witwe oder in einem Banktresor auftauchte, müsste alles in Ordnung gehen. Bald sind wir in unserem Nest, mein Täubchen.

Ach, der ahnte ja nicht … Von wegen unser Nest. Es war ihr Nest, im Grundbuch stand nur sie, Irina Breuer. Geschenk fürs Täubchen. Das Grundstück war unbelastet, ohne Grundschulden oder Hypotheken. Es gehörte samt allem, was darauf war, ihr allein. Sie konnte damit machen, was sie wollte.

Fahrig wickelte sie eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger. Vielleicht sollte sie ihm alles beichten. Das würde sich besser anfühlen. Sie benahm sich schofelig. Seit Weiberfastnacht war eben nichts mehr wie vorher, weil sie den Süßen kennengelernt hatte, den sie auch nicht vor den Kopf stoßen konnte. Nein, das ging nicht. Und im Moment sowieso nicht. Sie hatte was gehört. Unten vor dem Haus. Das war er!

In einem Wirbel aus Freude und Aufregung hüpfte und trudelte sie zur Wohnungstür. Unfassbar, so glücklich zu sein! Schwungvoll landete ihr Daumen auf dem vergilbten Knopf des Türöffners, den nur noch ein Pflaster an der Wand hielt.

Es war inzwischen dunkel. Kevin schlief dank des Schnullers tief und fest, wie es sich für einen Zweijährigen gehörte. Zugezogene Gardine am Kinderzimmerfenster hieß: Die Luft ist rein. Der Süße kam immer nur im Dunkeln. Das war auch ganz geheim. Nicht mal das Licht im Hausflur durfte brennen, und Irina hatte schwören müssen, niemanden einzuweihen. Warum eigentlich? Das hatte sie nicht so ganz begriffen.

2

MONTAG

Peter

Der Möbelwagen hielt früher als angekündigt vor dem Haus in der Kaiserstraße. Hastig zog Peter Jeans und Poloshirt an, um die Tür zu öffnen. Birte fönte sich noch die Haare. Dann ging alles sehr schnell. Die Männer der Spedition waren zu viert, bauten Schränke und Betten im Nu auseinander, schleppten Schubladen, Schranktüren, Rückwände, Lattenroste und Matratzen, Bilder und Spiegel, Koffer und Kisten ohne Unterlass in den geräumigen Wagen. Peter sammelte heruntergefallenen Kleinkram auf, Birte kehrte Dreck und Staub zusammen. Nach überraschend kurzer Zeit war die große Wohnung leer. Laut hallte jeder Schritt beim letzten Kontrollgang durch die hohen Altbauräume, in denen sie mehr als achtzehn Jahre gelebt hatten. Nun sah es hier aus, als wären sie nie dagewesen.

Sie fuhren mit dem Volvo vorneweg. Die ganze dreißigminütige Fahrt über schwiegen sie beide. Sie erreichten das Dorf und bogen in den Pappelweg ein.

„Polizei.“ Birte brachte es fast tonlos heraus, dieses erste Wort, das sie heute von sich gab. Dennoch hörte er deutlich den Vorwurf heraus.

Der hintere Bereich der Stichstraße war von Fahrzeugen zugestellt. Blau-silberne Polizeiautos mit neongelben Streifen, ein größerer Einsatzwagen, auch zivile Fahrzeuge. Ein Mann im weißen Schutzanzug kam in Begleitung des hünenhaften Kommissars, den Peter und Birte schon am Sonntag gesehen hatten, durch die Tür des unversehrten Gebäudeteils des Brandhauses. Die hagere alte Dame mit dem glatten, grauen Haar und dem Namen Rüttelfalk stand in ein gestricktes Tuch gehüllt auf der Fahrbahn, offensichtlich bemüht, möglichst viel von den Vorgängen in Haus und Garten zu erkennen.

„Solche Neugier ist schrecklich“, murmelte Birte.

Peter hielt vor dem Zaun des unbebauten Grundstücks. Er überquerte die Fahrbahn, um die Mülltonnen wegzuschieben, mit denen er am Vortag den Haltebereich für den Möbelwagen markiert hatte. Birte folgte ihm.

„Kriminaltechnische Untersuchung“, rief Frau Rüttelfalk ihnen zu. „Spurensicherung. Ganz anders als damals, als die Bomber fort waren und den Feuersturm zurückließen. Da wusste man, wer’s war.“

Birte verzog die Mundwinkel. „Die tickt nicht richtig.“

„Sie hat den Krieg miterlebt.“

„Der ist seit mehr als siebzig Jahren vorbei.“

„Man muss trotzdem Verständnis haben.“

„Ach, meinst du? Für mich hast du keinen Funken Verständnis!“

So ähnlich hatte schon gestern Abend jedes Gespräch geendet. Peter zog es vor zu schweigen.

Der Möbelwagen nahm seinen Platz ein, die Hecktüren öffneten sich, und die Vier von der Spedition erweckten die stummen, kahlen Räume des grauen Hauses zum Leben. Schweres wurde rumpelnd abgesetzt, Holzteile fügten sich mit dumpfem Schlag zusammen. Ab und zu fiel etwas zu Boden, gelegentlich erklang ein Fluch. Birtes Freundin Monika hatte die Fahrt von Köln nicht gescheut, um zur Stärkung für alle einen Topf Suppe, eine Tüte Brötchen und eine Kanne Kaffee vorbeizubringen.

Am Nachmittag verließen die Polizeiautos den Pappelweg. Bald darauf verschwanden auch der Möbelwagen und Monika in ihrem Fiat. Peter und Birte blieben allein zwischen ihren Kisten, Koffern, Teppichrollen und all den Möbeln zurück, die in der neuen Umgebung eigenartig fremd aussahen, als gehörten sie entfernten Verwandten.

Peters Augen glitten die Wände entlang. „Die Anrichte muss näher ans Fenster, findest du nicht?“

Birte zuckte mit den Schultern. Dem Karton mit den Töpfen und Pfannen versetzte sie einen Fußtritt, sodass er scheppernd zur Seite rutschte und den Weg zum nächsten Küchenstuhl freigab, auf den sie sich hinabsinken ließ.

Peter wandte sich ab, betrat das Wohnzimmer und öffnete eine der Kisten. Bücher! Auf ihren Anblick mochte er keinen Tag verzichten. Er räumte die ersten dreißig oder vierzig in das Eichenholzregal, das nun schon viel vertrauter wirkte. Durch die offenen Türen sah er Birte mit hängenden Schultern apathisch auf dem Stuhl sitzen. Sie starrte mit herabgezogenen Mundwinkeln auf die Glasplatte des Küchentischs, als hätte man sie böswillig in eine untragbare Situation gebracht.

Ach, du weißt ja nicht, was… Plötzlich war in seinem Kopf wieder präsent, was Birte auf der gestrigen Rückfahrt ausgerufen hatte. Vor seinem inneren Auge flackerten die Silben wie eine Leuchtschrift, die sich nicht entziffern ließ. Es trieb ihn zurück in die Küche.

„Sag mal … Gestern im Auto …“

„Erinnere mich bloß nicht an gestern“, fiel sie ihm ins Wort. Der Karton mit den Töpfen erhielt einen weiteren Tritt.

„Entschuldige, aber …“

„Bitte!“

Peter hörte Schritte vor dem Haus und blickte zum straßenseitigen Fenster. Und da klingelte es schon. Er ging zur Tür und öffnete sie.

„Herzlich willkommen!“ Eine dralle kleine Hand reichte einen bunten Blumenstrauß über die Schwelle. „Auf gute Nachbarschaft!“

Das runde Gesicht über dem bestickten weißen Blusenkragen lächelte warmherzig. Die Nachbarin, die angekündigt hatte, ihnen beim Einleben zu helfen. Eine liebe, gemütliche Dame Ende fünfzig mit akkuratem Kurzhaarschnitt in Hennarot. Die nachbarliche Harmonie in Person. Warum sollten sie sich hier nicht wohlfühlen? Die Leute waren so nett!

„Danke, Frau …“

Sie winkte ab. „Nur Renate. Seit dem letzten Grillfest duzen wir uns hier alle.“

„Ich heiße Peter. Birte ist in der Küche.“

Renate wollte nicht eintreten. Sie sei erst vor wenigen Minuten von der Arbeit gekommen, und Mann und Sohn träfen bald hungrig wie die Wölfe ein, Clemens aus Köln, Roland aus Bonn, beide so unglaublich eingespannt. Da müsse was Warmes, Kräftigendes auf den Tisch, sie habe noch nichts vorbereitet, nicht mal die Koteletts aufgetaut. Ein anderes Mal gern. Aber wenn sie was helfen könne, sei sie jederzeit ansprechbar.

„Und beste Grüße an die liebe Birte“.

Kaum war die Tür wieder geschlossen, vernahm Peter aus der Küche ein Stöhnen.

Die liebe Birte! Dieses betuliche Muttchen kennt mich kein bisschen. Und nun sollen wir uns mit allen duzen? Das halte ich nicht aus.“

Peter konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. „Darf ich dich nochmal darauf hinweisen, dass du den Ort selbst ausgesucht hast?“

Er kramte in einer der Umzugskisten nach einer Blumenvase, fand aber nur Essgeschirr. Erneutes Klingeln ließ ihn innehalten.

„Großer Gott“, rief Birte. „Geht das jetzt immer so weiter?“

„In einer Sackgasse mit fünf Häusern kann es nicht lange so gehen.“

„Die kreuzen hier nur auf, damit wir sie für nett und harmlos halten“, konterte Birte. „Und du fällst darauf herein.“

Nie zuvor hatte Peter seine Frau so grantig und gereizt erlebt. Schweigend legte er den Blumenstrauß ins Spülbecken und ging zur Tür. Draußen stand das Paar aus Nummer 1. Die blonde Frau mit dem langen Zopf und den blaugrauen Augen hieß Ella Borke, daran erinnerte er sich, und den braungebrannten Mann an ihrer Seite, über dessen muskulöser Brust sich ein gelbes T-Shirt mit der Aufschrift Bock auf Bauen spannte, hatte sie am Vortag Mattes genannt. Beide mochten ungefähr Ende dreißig sein. Nun war noch ein Hund dabei, ein gedrungener schwarzgrauer Mischling mit Schlappohren und buschiger Rute.

Der zweistimmige Gruß des Paars war herzlich. Doch Peter spürte, dass noch etwas anderes kommen sollte.

„Tretet ein. Trinkt ihr einen Kaffee mit?“

Die drei blieben auf der Fußmatte stehen. Ella fasste die Hundeleine kürzer. „Kommt drauf an.“

„Wenn es bei Ihnen nicht geht, müssen wir noch ein paar Adressen abklappern“, erklärte der Mann namens Mattes.

„Kaffee geht immer“, sagte Peter.

„Danke“, sagte Ella, „aber das meinten wir nicht. Das Problem ist der Hund. Wir sind beide den ganzen Tag weg.“

„Ach so, ihr sucht jemanden für euren Hund.“

„Das ist nicht unser Hund.“

Peter hörte, wie Birte sich hinter ihm näherte. Der Mischling blickte ihn aus samtbraunen Augen an, seine Rute pendelte langsam hin und her. Wenn ich ja sage, heißt das dreimal täglich Gassi gehen, dachte Peter, und im Haus auf Schritt und Tritt vier Pfoten hinter mir, die feuchte Nase in den Kniekehlen. Ständiger Müffelgeruch um mich, wenn ich am Laptop sitze und um Konzentration ringe. Bis zum nächsten Gassi. Und spielen will der sicher auch. Das Ende meiner Freiheit.

„Zugelaufene Hunde gehören ins Tierheim“, sagte Birte kühl. Sie trat neben Peter, hängte sich bei ihm ein und schien das Tier keines Blickes zu würdigen.

„Es ist anders“, erwiderte Mattes. „Das ist der Hund von Curd Lemon.“

Birte zuckte. „Seine Frau kann sich um ihn kümmern.“

Ella schüttelte den Kopf. „Lisa ist Schauspielerin und immerzu unterwegs.

„Es war immer nur sein Hund“, erläuterte Mattes, „und seit Curd sein Bonner Büro aufgelöst hatte, arbeitete er zu Hause. Wir dachten, bei einem Schriftsteller ist das ähnlich, Herr …“

„Nur Peter. Ich habe gehört, man duzt sich hier seit dem letzten Grillfest.“

Mattes nickte. Ein optimistisches Lächeln überzog sein breites Gesicht. „Bolli ist ein guter Hund, er wird es euch danken.“

„Ich will ihn nicht im Haus haben“, sagte Birte.

Das Schwänzeln hörte auf. Das Tier ließ Rute und Ohren hängen, was nach tiefer Resignation aussah. Mattes’ Lächeln erlosch. Ella seufzte und blickte auf ihre blauen Leinenschuhe.

„Selbstverständlich nehmen wir ihn!“, rief Peter aus.

Birte an seinem Arm versteifte sich. Das Paar auf der Fußmatte strahlte. Der Hund schwänzelte wieder und hob die Schlappohren an. Peter sah zur Seite und nahm Birtes eingekniffene Lippen wahr.

„Vorübergehend jedenfalls“, schränkte er die Zusage ein. „Und nun trinken wir Kaffee und regeln alles.“