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Ditmar Doerner

Marie

Ein stiller Tod

Inhalt

Vorbemerkungen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Vorbemerkungen

Lassen Sie sich nichts einreden, dieser Roman ist reine Fiktion, denn niemals würden Menschen anderen Menschen so etwas antun. Wer sich trotzdem wiederzuerkennen glaubt, soll in der Hölle schmoren!

Kapitel 1

Ich bleibe noch einen Augenblick vor dem Hauseingang stehen. Die Luft ist ungemütlich feucht und kalt, vor zwei Stunden hat es erneut begonnen zu schneien. Dicke, nasse Schneeflocken, die am Boden augenblicklich schmelzen.

Langsam schaue ich nach oben. Die Wohnanlage ist vierstöckig, drei graue, versetzt gebaute Quadrate aus den 70er Jahren. Aus ein paar geöffneten Fenstern schauen Mieter auf uns herab. Zigarettenspitzen glühen orangefarben in der Dunkelheit. Ein älterer Mann winkt lächelnd, als hielte er das Ganze für eine Fernsehshow, und ich schaue weg. Es ist trostlos, immer wieder festzustellen, dass Leid mehr Aufmerksamkeit erregt als jedes andere Empfinden. Mein Blick wandert zu der braun-grünen Rasenfläche links von der Anlage. Ein trostloses Klettergerüst mit einem aufgehängten Reifen und zwei schmutzig wirkenden Schaukeln rostet vor sich hin. Die Rutsche daneben ist vielleicht vor Ewigkeiten einmal rot und gelb gewesen.

Eine alte Frau in einer dicken Strickjacke und einer ballonartigen Hose neben mir beobachtet ihren kleinen Hund. Das Tier hockt mit gespreizten Hinterläufen nur einen Meter neben der rostigen Rutsche und verrichtet dort sein Geschäft. Der Schatten des Hundes auf dem Rasen zittert, angestrahlt vom Lichtschein, der aus den Fenstern fällt.

Ich sträube mich, ins Haus zu gehen. Ich möchte nicht hinein, nicht jetzt und nicht später. Ich weiß, was mich erwartet … Kinder sind das Schlimmste.

Die Meldung über Funk ist nur kurz gewesen, aber Fabian wusste schon so viel, dass das Mädchen in Bad Honnef erst acht gewesen ist. Ich krame in meiner Manteltasche, um irgendetwas zu tun, vielleicht finde ich ein Hustenbonbon, einen Kaugummi oder sonst etwas. Nachdem der kleine Köter sein Geschäft beendet hat, trollt er sich geduckt zu seinem Frauchen. Sie nimmt ihn sofort in die Arme, versteckt ihn vor Kälte und Nässe unter ihrem weiten Mantel, ohne ihn sauber gemacht zu haben.

Ich schließe die Augen, drehe den Kopf nach rechts und öffne sie wieder. Der Notarztwagen steht immer noch halb auf dem Bürgersteig. Das Blaulicht wirbelt lautlos auf dem Dach des Wagens. Die Hecktüren sind weit geöffnet, die Trage verschwunden. Hinter dem Notarztwagen parkt ein orangefarbener alter Golf. Ich erinnere mich, dass ich zu Studienzeiten mal einen ganz ähnlichen gehabt habe. Einmal hat er es sogar bis nach Südspanien geschafft mit mir und meinem damaligen Freund … Conil. Zwei Jahre später ist der Golf dann eines Tages auf dem Weg zur Polizeihochschule Münster einfach stehen geblieben. Ich weiß noch, dass ich ihn reparieren lassen wollte, aber die Werkstatt, in die ich ihn damals bringen ließ, sagte mir, dass ich mir für die Kosten der Reparatur fast einen neuen kaufen könnte.

Ich schaue auf die Uhr und merke, dass ich mich mit solchen unnützen Gedanken nur abzulenken versuche. Meine Hände bleiben ruhig, ich versuche mich zu entspannen. Fast vorsichtig, als trüge ich Ledersohlen auf einer Eisfläche, mache ich einen Schritt nach vorne, dann noch einen. Ich betrete die Wohnanlage.

Kapitel 2

Ich steige die Treppen hoch, langsam, jede Stufe wird schwerer. An der Wohnungstür bleibe ich stehen und atme tief durch. Die Tür ist angelehnt und ich drücke sie auf. Das Licht im Flur ist schummrig, fast dunkel. Ein blauer Läufer bedeckt größtenteils die schwarz-grauen PVC-Quadrate. Links neben der Tür, in einer Ecke, stehen zwei Paar Kinderschuhe und ein kleines Paar pinkfarbener Hello-Kitty-Gummistiefel, die fein säuberlich nebeneinander aufgestellt wurden. Daneben ein großer tönerner Topf mit zwei Regenschirmen. Es riecht nach Duftspray. Vielleicht Nadelholz oder Moos, etwas Herbes. Ich gehe ein paar Schritte weiter und schaue in den Raum links, die Küche. Eine beleibte Frau sitzt an einem Tisch und weint. Die grauen Locken, die ihr wirr vom Kopf stehen, zucken heftig. Ich schätze sie auf Mitte fünfzig. Sie trägt eine Art Küchenkittel, so dunkel und nichtssagend, wie ich sie nur von den Großeltern aus meiner Jugendzeit kenne.

Ein Notarzt redet leise auf die Frau ein. Ich bleibe stehen, so als habe ich aus einem Versehen heraus diese Wohnung betreten und das erst jetzt bemerkt, und schaue mich um. Am Ende des Flures erkenne ich das Badezimmer. Ich sehe Fabian und den Kollegen Peter Braun von der Spurensicherung in ihren Plastikanzügen auf dem Boden knien. Peters Anzug ist bei seiner Größe natürlich viel zu klein, der Gummizug der Hosenbeine endet knapp unterhalb seiner Knie. Ich frage mich wieder, was es in seinem Fall überhaupt für einen Sinn hat, solch einen Anzug zu tragen. Die Flusen, die sich von seinen Hosenbeinen lösen, könnten uns auf eine falsche Fährte lenken.

Peter wirkt wie immer ruhig und abgeklärt, nichts scheint ihn erschüttern zu können, nichts und niemand. Kurz frage ich mich, ob er Drogen nimmt. Dann merke ich, wie kaputt es ist, so etwas zu denken.

Jemand anderes, den ich nicht erkennen kann, macht Fotos. Weiße Blitze zucken durch den Raum. Nach dem, was Fabian mir gerade eben zugeraunt hat, empfinde ich kein Mitleid mit der Frau, die in der Küche weint. Fabian sagte mir, dass es Spuren gibt, die darauf hindeuten, dass sie das Kind unter Wasser gedrückt haben könnte.

Fabian ist der Kollege, mit dem ich ein Büro und häufig die Fälle teile. Wäre ich eine Figur in einem amerikanischen Kriminalfilm, würde ich sagen, er ist mein Partner. Fabian ist das genaue Gegenteil von mir: Klein, eher dick, obwohl er seit neuestem versucht, Sport zu machen, und fast immer ohne jeden Zweifel an seinem eigenen Handeln. Er hat bereits einige Zeit in Asien verbracht – ich denke, es war Bangladesch. Dort hat er mitgeholfen, eine Polizeiakademie aufzubauen oder so etwas. Daher kommt wohl auch seine innere Ruhe. Wenn ich wieder einmal ungehalten oder missmutig bin, hält er mir immer wieder vor, wie gut wir es doch hier haben. Ich entgegne ihm dann meist nur, dass seine eher positive Weltsicht wahrscheinlich daher rührt, dass ich es in den allermeisten Fällen bin, die die unangenehmen Aufgaben übernimmt. Fabian ist mit einer wirklich sympathischen, hübschen Frau verheiratet, mit der er zwei Kinder hat. Familie nennt man das wohl, auch da hat er mir etwas voraus. Außer ein paar ehemalige Freunde habe ich nichts vorzuweisen. Dafür, dass ich seit vier Jahren allein lebe, habe ich mich bis vor kurzem fast geschämt, mittlerweile macht es mir nichts mehr aus. Ich empfinde das nicht als Makel.

Das, was der Notarzt vorgefunden hat, war für ihn so merkwürdig, dass er uns sofort gerufen hat. Ich sehe kurz in den Spiegel über einer braunen Kommode, mein Gesicht ist milchig weiß und wirkt ausgesprochen ungesund. Das wenige Make-up, das ich am Morgen aufgetragen habe, hat sich im Laufe des Tages verflüchtigt. Ich seufze lautlos, versuche mein Gegenüber anzulächeln und gehe Richtung Badezimmer.

Auf mein Klopfen am Türrahmen drehen sich drei Augenpaare zu mir. „Guten Abend, die Herren!“, sage ich.

„Von wegen ‚Guten Abend‘!“ Peter kommt mit ausgebreiteten Armen auf mich zu, was bei seiner Reichweite wirkt, als versuche er zu fliegen. „Zieh dir erstmal was über, bevor du hier reinkommst.“

Ich schaue mich um und finde im Tatortkoffer mehrere Schutzanzüge, Mundschutz, Handschuhe und Schuhüberzieher. Während ich die Sachen anziehe, beobachte ich die arbeitenden Kollegen. Niemand sagt etwas, nur ab und zu fallen kurze Sätze.

Ich betrete den Raum. Die Luft hier ist wärmer und stickiger als im Flur. Fenster und Spiegel sind beschlagen. Ich frage mich, an was das liegt. War bis vor kurzem die Tür geschlossen? Lief die Heizung auf vollen Touren oder war die Badewanne mit heißem Wasser gefüllt? Es ist ein gewöhnliches Badezimmer, wahrscheinlich aus den 60er, 70er Jahren, ein bisschen alt und antiquiert, aber auf den ersten Blick sauber. Zwei Handtücher hängen ordentlich links vom Waschbecken, ein Stück Seife liegt neben einem Becher, aus dem drei Zahnbürsten ragen, zwei große und eine kleine. Gelb, orange und blau.

Ich schaue mir diese unwichtigen Dinge sehr genau an und weiß, dass ich wieder nur Zeit schinde. Dann gehe ich in die Hocke.

Das tote Mädchen liegt auf der Seite, die kurzen, dünnen Beinchen sind leicht angewinkelt, die Hände liegen gefaltet vor den schmalen Knien. So als wäre sie während des Nachtgebetes eingeschlafen. Die Kleine sieht hübsch aus. Acht Jahre. Die Augen des Kindes sind noch offen, der Mund ist ebenfalls leicht geöffnet und ich sehe ihre weißen Zähne.

„Was weißt du?“, frage ich leise.

Fabian verlagert sein Gewicht auf das andere Bein und schaut Richtung Flur. Er schnauft, und ich kann nicht entscheiden, ob es eher sein Gewicht oder das tote Kind ist, das ihm zu schaffen macht.

„Ich weiß es noch nicht“, sagt er leise, „aber was die Mutter erzählt, passt irgendwie nicht. Sie behauptet, die Kleine habe nicht abwarten können zu baden. Sie sei einfach in die Wanne geklettert, als sie selbst gerade etwas in der Küche machen musste.“ Er schaut mich herausfordernd an. „Kannst du dir das vorstellen?“

Ich bemerke einen unterdrückten Zorn bei Fabian, der mir bislang nicht aufgefallen war. Es macht ihn mir noch sympathischer, weil ich nun weiß, dass es das tote Kind ist, das ihn aus der Fassung bringt. Es gibt also doch etwas, das er nicht ruhig wegatmen kann.

„Hat sie gesagt, ob das so lange gedauert hat, dass die Kleine in der Zeit ertrinken konnte?“

Fabian verzieht den Mund, und ich weiß nicht, ob das eine Antwort sein soll, sage aber nichts. Ich richte mich auf und bemerke wieder einmal seine lichte Stelle mitten auf seinem Kopf. Ich überrage ihn um fünfzehn Zentimeter, aber er ist einer der wenigen kleinen Männer, die sich von Körperlänge nicht einschüchtern lassen. Auch das gefällt mir an ihm.

„Steht da etwas auf dem Ofen, das sie gekocht haben könnte?“, frage ich.

„Ja, Spiegelei.“ Fabian schaut Richtung Küchentür. „Aber das heißt ja nichts.“

Von irgendwoher höre ich Musik. Entweder aus der Wohnung nebenan oder der Küche. Ein Weihnachtslied, irgendetwas Amerikanisches im Bing-Crosby-Stil. Viel Schmelz, viel Glückseligkeit, Tradition und Frieden.

Ich schaue wieder auf das tote Kind und mein Kopf beginnt zu schmerzen. Ihre Fingerkuppen sind immer noch runzlig vom Wasser, so als sei sie gerade erst aus der Wanne gehoben worden. „Acht Jahre?“, frage ich.

„Ja. Sagt die Pflegemutter. Acht Jahre, Marie.“

Plötzlich höre ich ein Gluckern über mir. Ich schaue hoch und bemerke zwei dicke, weiß gestrichene Rohre unter der Zimmerdecke. So etwas wird seit Urzeiten nicht mehr so verlegt. Vielleicht ist das Haus doch älter, als ich gedacht habe.

„Die Pflegemutter sagt das“, wiederhole ich, als würde das etwas erklären. „Seit wann war die Kleine hier?“

„Seit einem halben Jahr. Wir haben das Jugendamt verständigt. Da kommt vielleicht noch einer.“

Ich schaue aus dem Fenster. Es ist immer noch beschlagen, außer der Dunkelheit draußen und den langsam nach unten laufenden Kondenstropfen innen ist nichts zu erkennen. „Hat jemand schon mit den Nachbarn gesprochen?“

„Nein.“ Fabian schüttelt den Kopf. „Ich bin nur vier, fünf Minuten vor dir gekommen.“

Plötzlich hören wir zu unseren Füßen ein Seufzen. Ich fahre entsetzt zurück und trete rückwärts gegen die Trage des Notarztes. Auch Fabian starrt auf das Kind, das sich aber nicht rührt. Ein wenig Wasser läuft ihr aus dem Mund.

„Das ist nur Luft, die entweicht, das solltet ihr eigentlich wissen.“ Peter schüttelt ärgerlich den Kopf, als sei er böse, dass ich die Fassung verloren habe. Einen Augenblick ist es still, dann fragt er: „Braucht ihr noch etwas?“

Ich betrachte den Oberkörper des Kindes. Was ist das für eine Frage? Wir brauchen alles, wir haben gar nichts. „Was sind das für Flecken auf den Schultern?“

Peter nickt langsam. „Das wird sich Mateus sicher genauer anschauen.“

„Der Notarzt vermutet, sie könnte unter Wasser gedrückt worden sein, oder?“, frage ich leise. Ich schaue in die Wanne. Ein blauer Gummielefant verharrt wie zementiert auf der Wasseroberfläche. „Hat die Pflegemutter gesagt, dass das Mädchen nicht schwimmen konnte?“

Fabian und Peter nicken.

Ich will das Fenster öffnen, bemerke aber, dass der Griff mit einer Plombe gesichert ist. Kurz frage ich mich nach dem Grund, denke dann aber, dass das keine Rolle spielt.

Langsam gehe ich Richtung Küche. Ich atme tief durch und versuche mich wieder zu entspannen. Es ist jetzt wichtig, unvoreingenommen zu sein.

Der Herd ist voller Fettspritzer. Auf dem Ceranfeld steht eine große Pfanne mit vier fast verkohlten Spiegeleiern. Die Spüle daneben ist trocken gewischt. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes steht neben einem leeren, gelben Aschenbecher ein elektrischer Mini-Weihnachtsbaum. Auf einem der Stühle am Tisch sitzt die dicke Frau nach vorne gebeugt, den Kopf in beide Hände vergraben.

Ich höre sie schluchzen, fühle aber kein Mitleid. Es gelingt mir nicht, unvoreingenommen zu sein, mir kein Bild von ihr gemacht zu haben, nach dem, was ich von Fabian gehört habe. Mit ihren grau-schwarzen Strähnen, einer etwas zu engen dunkelroten Bluse und der grauen Trainingshose wirkt sie klassisch vernachlässigt. Sie schaut nicht auf, als ich mich setze.

Der Notarzt sitzt der Frau gegenüber. Er ist jung, vielleicht Anfang dreißig. Trotz der klobigen Notarztkleidung wirkt er sportlich. „Dr. D. Walinska“ lese ich auf einem blauen Aufnäher in Brusthöhe. Ich nicke ihm kurz zu, dann spreche ich die Frau an: „Frau Rist, darf ich Sie etwas fragen?“

Sie schaut immer noch nicht hoch. Ich will ihr Gesicht sehen, ihre Augen, ich bin ungeduldig. „Frau Rist, was ist mit Marie passiert?“ Vielleicht sollte ich sie berühren, meine Hand auf ihre legen oder ihre Schulter streichen, aber das kann ich nicht.

Eine Windböe trifft das Küchenfenster und die Blättchen einer kleinen Birkenfeige auf der Fensterbank zittern kurz. Ich warte auf eine Antwort, aber die Frau bleibt still.

Der Arzt schaut mich strafend an und macht das, was ich nicht kann, weil die dicke Frau mich abstößt: Vorsichtig legt er eine Hand auf ihren Unterarm. Er scheint eher Therapeut als Arzt zu sein. „Können Sie heute Nacht zu einer Freundin?“, fragt er. „Haben Sie jemanden, den wir anrufen sollen?“

Die Frau schüttelt den Kopf. Dann höre ich, wie sie sagt: „Ich möchte nur alleine sein.“

Ihre Stimme ist hell, passt nicht zu ihrem massigen Körper. Sie hebt den Kopf und schaut an mir vorbei Richtung Flur. „Kann ich sie noch einmal sehen? Ich möchte sie noch einmal sehen, bevor sie weggebracht wird. Kann ich das?“ Tränen laufen ihr über die Wange.

Ich verlagere mein Gewicht ein wenig nach links, so dass sie mich ansehen muss. „Frau Rist, wie ist das passiert?“

Unsere Blicke treffen sich, wenn auch nur kurz. Sie wirkt überrascht, als sehe sie mich zum ersten Mal, dann versucht sie wieder Richtung Flur zu schauen. „Ich stand am Herd, ich wollte uns etwas zu essen machen“, sagt sie stockend, „und ich hatte Marie vorher das Wasser einlaufen lassen. Sie badet doch so gerne. Und ich habe, ich habe ihr gesagt, dass sie sich schon einmal ausziehen kann.“ Sie macht eine Pause und sieht den Arzt fast flehend an. „Wie hätte ich denn wissen können, dass … es waren doch höchstens fünf Minuten!“

Ich beobachte ihre Hände. Sie liegen ruhig auf dem Tisch, gänzlich unverkrampft, spielen nicht mit den Spitzen des kleinen Weihnachtsbaumes oder wischen unsichtbare Brotkrumen von der Tischplatte, sie liegen einfach ganz ruhig mit den Innenflächen auf dem Tisch. Ich glaube ihr nicht.

„Und Sie haben nichts gehört?“ Meine Frage klingt wie eine Unterstellung.

Die Frau reagiert nicht.

„Dann sind Sie ins Badezimmer“, stelle ich weiter fest. Mein Blick wandert zu dem Hängeschrank hinter der Frau. Ein Stundenplan von Marie ist angeklebt, daneben der Müllkalender. Aber kein gemaltes Kinderbild, keine unorthodox dimensionalen Strichmännchen, keine windschiefen Häuschen oder riesige, magere Druckbuchstaben. Ich drehe den Kopf. Nein, nirgends, kein einziges Bild oder ein Poster.

„Dann sind Sie ins Badezimmer!“, sage ich jetzt etwas zu laut.

Der Arzt schaut mich erneut strafend an. Einige Sekunden vergehen.

„Ja, dann bin ich ins Badezimmer.“

Ich warte sicherlich eine halbe Minute, aber sie sagt nichts mehr. Wieder bläst eine starke Böe gegen das Haus. Ich runzle die Stirn und schaue den Arzt an:

„Was haben Sie ihr gegeben?“, frage ich leise.

„Diazepam. Aber erst einmal eine geringe Dosis.“

„Sie haben Marie sofort aus dem Wasser geholt?“, versuche ich es erneut. Noch nie habe ich eine Mutter vernommen, die gerade ihr Kind verloren hat. Oder eine Pflegemutter.

„Ja, ich … ich habe sie aus dem Wasser geholt und auf den kleinen Teppich gelegt. Ich habe, ich habe …“ Sie beginnt wieder zu schluchzen.

Hinter mir klopft jemand an den Türrahmen. Peter Braun. In einer Hand einen der Koffer, in der anderen seinen dunklen Mantel. „Wir sind soweit. Ich fahre sofort rüber und beginne mit der Arbeit. Kommst du noch vorbei?“

Ich nicke. „Vielleicht. Ich wollte noch zu meinem Vater.“

Peter geht. Kurz danach klingelt es an der Wohnungstür. Einer der Kollegen öffnet und sofort höre ich einen Tumult, jemand stürmt durch den Flur in die Wohnung.

Eine helle Stimme schreit: „Wo ist sie? Was ist mit Marie?“ Die Stimme überschlägt sich.

Irritiert drehe ich mich um. Auf dem Flur ist ein Gerangel, Peter ruft „Hey, stopp!“, dann eilt Fabian dazu. Ich stehe auf, stoße dabei fast den Stuhl um.

Im Flur sehe ich Fabian und Peter mit einem Jungen rangeln. Er ist vielleicht zehn. Verzweifelt versucht er, sich aus Fabians Armen zu winden.

„Wo ist Marie?“, schreit er wieder. „Wo ist sie?“ Seine dunklen Haare wirbeln um seinen Kopf, als er sich losreißt. Jetzt steht er in der Küchentür und starrt auf Ruth Rist. „Du hast sie umgebracht, stimmt’s? Du hast sie umgebracht!“

Er will sich auf die Frau stürzen, aber ich stelle mich vor ihn und versuche seine Arme festzuhalten. Ich spüre, wie stark er zittert.

Dann plötzlich, von einem auf den anderen Augenblick verstummt er, sackt in sich zusammen und fällt nach vorne. Ich versuche ihn zu halten, Peter und Fabian helfen mir.

Der Notarzt ist ebenfalls aufgesprungen. „Legen Sie ihn auf den Boden. Schnell.“

Der Junge liegt ganz ruhig auf dem Rücken, seine Augen sind geschlossen. Ich drehe mich zu Maries Pflegemutter um. „Kennen Sie den Jungen?“

Sie schaut kurz auf und für eine Sekunde sehe ich in ihren Augen einen Ausdruck des Hasses, der mich erschreckt. Doch dann überlege ich, ob ich mich nicht vielleicht doch in ihr getäuscht habe, denn sie beginnt erneut zu weinen.

Ich mache einen Schritt auf sie zu. Wieder sollte ich ihr eine Hand auf die Schulter legen, lasse es aber erneut. Stattdessen macht mich ihr Weinen aggressiv. Möglicherweise ist es falsch, aber meine Geduld ist aufgebraucht. „Wer ist der Junge, Frau Rist?“

Sie schnieft und vergräbt ihr Gesicht noch tiefer in die Hände. Zuerst kann ich sie kaum verstehen, dann vernehme ich die Worte: „Das ist Konrad, Maries Bruder.“

Zuerst weiß ich nicht, wie ich die Frage formulieren soll, dabei ist es ganz einfach: „Wo kommt er her?“

Die Frau schaut wieder auf. Ihr Blick streift den Jungen, dann sieht sie mich an. „Ich habe seine Eltern angerufen. Seine Pflegeeltern. Sie wohnen fast nebenan. Ich wollte, dass sie es direkt wissen.“ Verteidigend hebt sie eine Hand. „Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie den Jungen hierhin schicken.“

Ich nicke nur, gleichzeitig frage ich mich, welchen Sinn das hat, was sie mir gerade gesagt hat. Bevor ich Zeit habe, mir darüber Gedanken zu machen, ruft mich Fabian ins Badezimmer.

Kapitel 3

Die Eingangshalle ist in ein dunkles Grau getaucht. Das Licht der Straßenlaternen schafft es nur bis zu dem alten Vordach, unter dem sich zwei rauchende und hustende Patienten ihre Krankheitsgeschichte erzählen, als ich vorübergehe.

Etwas entfernt höre ich in der Sitzecke links das Plätschern eines kleinen Tischbrunnens. Unaufdringlich und beruhigend. Ein Kegel Licht aus einer viel zu hellen Lampe strahlt die ältere Dame hinter dem Informationstresen an. Das Licht bricht sich am silbernen Bügel ihrer Brillenfassung und blendet mich kurz. Die Frau braucht einen Augenblick, um mich zu erkennen, dann lächelt sie. „Frau Lukas, Sie sind aber spät dran heute Abend.“

Ich schaue auf die große, altmodische Uhr an der rückwärtigen Wand. Drei Minuten vor zwölf. Ich versuche ebenfalls zu lächeln. „Die Arbeit“, sage ich leichthin, so als würde ich in der Küche eines Restaurants arbeiten oder in einer Zeitungsredaktion.

Wir schweigen einen Augenblick. „Wissen Sie, wie es meinem Vater geht?“, frage ich und weiß gleichzeitig, dass sie mir das natürlich nicht sagen darf.

Sie schüttelt den Kopf. Über den Tresen sehe ich, dass sie Patientenakten geordnet hat, bevor ich kam. „Ich will nur noch einmal kurz nach ihm schauen. Wenn er schläft, bin ich in einer Minute wieder hier.“ Ich klopfe leise mit den Fingerknöcheln auf den Tresen, dann lächle ich sie noch einmal kurz an, als hätten wir beide ein kleines Geheimnis.

Während ich vor dem Aufzug warte, versuche ich nicht an das kleine Mädchen zu denken, aber es ist unmöglich. Und ich gestehe mir ein, dass es unmöglich ist, so etwas auszublenden. Ich weiß, dass ich schlecht schlafen werde und denke kurz an die Schlafmittel, die ich in den vergangenen sieben Jahren gebunkert habe. Seit jenen Tagen im Oktober, an dem mir der kleine Finger der linken Hand abgetrennt wurde. Meine Albträume, die ich auch heute noch habe, zeigen, dass mir damals viel mehr genommen wurde als nur dieser Finger.

Aus einem versteckten Lautsprecher klingelt es kurz und die silberglänzenden Aufzugtüren schieben sich auf. Eine junge Frau huscht an mir vorbei. Ich sehe, dass sie weint oder geweint hat. Ihre Augen sind dick verquollen und rot, sie hält ein Taschentuch dicht an ihren Oberkörper gepresst. Kurz frage ich mich, wen sie besucht hat, ihren Mann, ihre Mutter, vielleicht ihr Kind.

Im Aufzug betrachte ich mein Gesicht in der Spiegelwand. Das Neonlicht lässt die Furchen auf meiner Stirn und zwischen den Augen noch tiefer erscheinen. Ab vierzig gräbt sich jede Stunde zu wenig Schlaf ins Gesicht. Ich habe den falschen Job für eine Frau, die wie jede andere auch schön sein will. Kurz schließe ich die Augen und öffne sie wieder. Meine Augenfarbe ist unmöglich auszumachen. Blau sind sie, sagt mein Pass. Der Aufzug ruckelt kurz, während er nach oben fährt. Ich gähne lautlos und schließe erneut die Augen.

Mein Vater liegt in einem Einzelzimmer. Die dunklen Vorhänge sind nicht zugezogen, die zwei Laternen schaukeln leicht durch den böigen Wind. Ich höre, dass mein Vater nicht schläft, er krebst noch immer durch sein zerwühltes Bett. „Krebsen“, dieser furchtbare Ausdruck ist mir in den Sinn gekommen, als ich ihn nach seinem Schlaganfall zum ersten Mal sah. Schon Wochen vor dem Schlag hatte ich ihn zu mir genommen, er lebte bei mir, und eines Tages fand ich ihn am Boden im Wohnzimmer, selbst noch ganz in Gedanken versunken, was ich uns zum Abendessen kochen könnte, den Türschlüssel noch in der Hand.

Auch jetzt schiebt er sich unruhig und unfähig, seine Bewegungen zu kontrollieren, von einer Seite des Gitterbettes zur anderen. Mit weit aufgerissenen Augen, die vielleicht gar nichts mehr verstehen oder aber vielleicht auch alles.

Ich ziehe einen kleinen Hocker an das Kopfende und setze mich auf die kalte Kunstlederfläche. Trotz der Dunkelheit erkenne ich, dass er mich anschaut. Fast scheint es mir, als würde er lächeln, und für einen Augenblick, vielleicht zwei oder drei Sekunden, liegt er ganz still und friedlich da. Dann beginnt das Krebsen erneut.

„Hallo Papa“, sage ich und merke, wie mir Tränen in die Augen steigen. In einem Anflug von Selbstmitleid denke ich, dass ich jetzt nicht mehr nur in meinem Beruf hilflos bin.

Ich nehme kurz seine Hand, ehe sie weiter umhersucht, und drücke sie. „Es war ein langer Tag“, sage ich. „Ich soll dir schöne Grüße von Fabian bestellen.“ Dann beginne ich zu erzählen. Ich weiß nicht mehr, was ich ihm erzähle, etwas Belangloses aus der Zeitung vielleicht oder etwas, dass ich auf der Fahrt hierher im Autoradio aufgeschnappt habe, aber es hat selbstverständlich nichts mit dem kleinen Mädchen zu tun, das an diesem Abend ertrunken ist.

Dann beginne ich plötzlich, eine alte, gemeinsame Geschichte wiederaufleben zu lassen, in der Hoffnung, dass nicht nur ich es bin, die sich an sie erinnert. Ich erzähle ihm von den Pferden, die wir früher einmal gehabt haben, von dem Hengst, der uns beide abgeworfen hatte und den wir verkaufen mussten. Und von dem Fohlen, das in einer nebligen Morgendämmerung plötzlich auf langen, wackligen Beinen vor uns an der Stalltür stand und uns aus riesigen Augen neugierig anschaute. Ich schaue meinen Vater an und warte auf ein Lächeln, auf eine Andeutung nur, aber da ist nichts.

Nach zehn Minuten erhebe ich mich leise und versuche ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. Er liegt jetzt ruhig, fast entspannt. Vielleicht hat er mir doch zugehört, denke ich, vielleicht hat er sich doch erinnert, es wäre schön. Ich spüre, wie sich seine rechte Hand auf meine legt und sie kurz drückt. Dann beginnt sie wieder über die Bettdecke zu wandern.

Kapitel 4

Ruth Rist:

Sie lässt die verkohlten Spiegeleier in den Mülleimer rutschen. Ein Geruch nach vergammeltem Gemüse steigt ihr aus dem Abfall entgegen. Schnell schließt sie den Eimer wieder und schaut auf die kleine Uhr am Herd. Zwanzig Minuten vor eins. Der letzte Polizist ist vor zehn Minuten gegangen und bis jetzt hat sie noch keine Zeit gefunden, einen klaren Gedanken zu fassen. Bis morgen Abend wird sie allein sein. Erst dann kommt ihr Mann von einer Montagereise aus Hamburg zurück. Sie fragt sich, wie er reagieren wird, wenn er erfährt, was mit Marie geschehen ist, aber eigentlich interessiert es sie nicht. Sie lächelt, als sie die fettige Pfanne in die Spüle stellt. Beide Hände auf die Küchentheke gestützt schaut sie hinaus. Der Wind treibt jetzt kleine Schneeflocken in Böen vor sich her. Es wird wahrscheinlich doch kälter werden. Sie beugt sich ein wenig nach rechts Richtung Fenster und sieht den gepflasterten Weg zum Haus bereits unter einer dünnen Schneedecke verschwinden. Leise beginnt sie zu summen. Erst einmal Ordnung schaffen.

Unter einem dünnen Wasserstrahl beginnt sie die Pfanne zu säubern. Das Klebeband haben sie nicht gefunden, das ist ihre größte Sorge gewesen, aber sie haben ja auch nicht danach gesucht. Dabei hat sie es in der Eile einfach in den Hochschrank neben dem Kühlschrank geworfen, wo es hinter dem Staubsauger nicht zu sehen ist. Morgen früh wird sie es entsorgen müssen, am besten in eine Mülltonne, die weit entfernt vom Haus steht. Oder sie wird es mit zum Einkaufen nehmen. Vor dem Supermarkt stehen große, schwarze Container, die jeden Tag geleert werden. Sie schrubbt eine dicke, festgebackene Fettkruste mit dem Fingernagel vom Pfannenboden. An was muss sie noch denken? Marie führt kein Tagebuch, da ist sich Ruth sicher, trotzdem wird sie gleich noch einmal Maries Zimmer durchsuchen.

„Ich schaue lieber jetzt nach“, denkt sie bei sich, „nachher habe ich es vergessen.“ Sie öffnet die Tür zu Maries kleinem Raum. Rechts neben dem Fenster, an der gegenüberliegenden Wand, steht Maries Bett. Daneben ein kleiner Schreibtisch, auf dem fünf Filly-Pferdchen aufgereiht sind. Neben der Tür der kleine Schrank, in dem Marie ihre wenigen Kleidungsstücke aufgehängt hat. Ruth öffnet die Schranktür und wirft einen prüfenden Blick hinein. Hier kann Marie nichts versteckt habe. Ruth Rist zieht die beiden Schubladen mit Maries Unterwäsche und Socken heraus und fährt prüfend mit der Hand durch den Stoff. Nichts. Mit zusammengekniffenen Augen liest sie die Buchtitel im Regal daneben. Auch nichts. Mehr gibt es in Maries Zimmer nicht. Kein Teppich auf dem PVC-Boden und auch keine Poster von Hannah Montana oder Justin Bieber an der Wand. Ruth erlaubt das nicht.

Auf dem kleinen Nachttisch neben dem Bett leuchtet die Lampe des Babyfons. Manchmal hat sich Marie beklagt, dass sie das Licht beim Schlafen störe. Aber so hatte Ruth die Gewissheit, dass sich das kleine Biest nicht in die Küche stahl, wenn alle anderen bereits schliefen, um sich dort über den Kühlschrank herzumachen. Marie ohne Abendbrot ins Bett zu schicken, hatte zu Ruths beliebtesten und harmlosesten Strafen gehört. Das Babyfon meldete sich auch immer, wenn sich ihr Mann wieder einmal aus dem Schlafzimmer zu Marie geschlichen hatte. Manchmal war sie die vergangenen Monate zu spät wach geworden, aber meist hatte sie ihn zurückholen können, zurückprügeln besser gesagt, bevor er bei dem Balg am Bett war.

Ruth geht zurück ins Wohnzimmer, dann ins Bad. Sie wird schläfrig. Das Wasser in der Wanne ist abgelaufen. Einer der Polizisten hat den Stöpsel entfernt und auf den Wannenrand gelegt.

Sie setzt sich auf die Toilette, danach wäscht sie ihr Gesicht mit warmem Wasser und Seife. Während sie vor dem Spiegel steht, glaubt sie einen Augenblick, ein Geräusch im Flur gehört zu haben. Leise flucht sie. Manchmal geschieht es, dass ihr Mann unerwartet ein paar Tage früher von seinen Montagen heimkommt. Wenn der Auftrag besonders gut gelungen ist oder nichts mehr zu reparieren war.

Sie hat sich auf zwei Tage Freiheit ohne Kindergeschrei und verängstigtes Gemurmel gefreut. Vielleicht hat sie sich getäuscht und jemand ist nur über den Flur im Treppenhaus geeilt.

Sie versucht sich zu konzentrieren. „Was kann passieren?“, fragt sie sich. „Ich darf mich nicht zu sicher fühlen, ich muss auf der Hut sein. Auch wenn die Polizisten arglos sind, vielleicht ahnen sie trotzdem etwas.“

Sie geht hinüber ins Schlafzimmer. Das Bett quietscht, als sie sich darauf setzt. Die Matratze ist viel zu weich und durchgelegen, aber natürlich hat Horst bislang keine Zeit gefunden, eine neue zu kaufen. Stattdessen rollt er lieber jede Nacht im Schlaf in ihre Kuhle, um sich von ihr ein paar Stöße und Schläge abzuholen und den geknurrten Hinweis, dass er sich schleunigst wieder auf seine Seite begeben solle, wenn er morgen früh nicht mit einem blauen Auge aufwachen wolle.

Das Plumeau ist dick und weich. Ruth schaut auf den silbernen Radiowecker auf ihrem Nachttisch. Zehn Minuten nach eins. Als sie im Bett liegt und das Licht bereits ausgeschaltet ist, fällt ihr ein, dass sie das Babyfon jetzt nicht mehr braucht. Aber sie ist zu müde, um erneut aufzustehen. Langsam driftet ihr Bewusstsein weg und wenig später ist sie beinahe eingeschlafen, als ein Kratzen aus dem kleinen leuchtenden Empfangsteil des Babyfons neben dem Kleiderschrank zu hören ist. Das typische Geräusch, wenn Marie wieder einmal versucht hatte, sich leise aus dem Zimmer zu stehlen – oder ihr Mann in Maries Zimmer hinein. Aber beide sind heute Abend nicht hier. Ruth stutzt, verwirrt nur, aber nicht ängstlich. Sie hält den Atem an und lauscht. Nichts ist zu hören. Sie schließt die Augen erneut und versucht sich auf den kommenden Tag zu konzentrieren. Als Erstes wird sie das Klebeband entsorgen müssen, das ist das Wichtigste. Irgendwann werden die Polizisten und das Jugendamt auftauchen, das weiß sie. Die Fritzen werden früher auf der Matte stehen, als ihr lieb ist. Aber da müssen sie noch früher aufstehen! Ruth kuschelt sich in ihr Kissen, als ein zweites Kratzen aus dem Babyfon dringt. Einen kurzen Augenblick fürchtet sie sich, glaubt an einen Einbrecher, der im Dunkeln gegen das Babyfon gestoßen ist, dann wird ihr klar, dass ihr Mann früher nach Hause gekommen ist. Aber verdammt nochmal, woher hatte Horst plötzlich den Mut für solche dummen Scherze? Wütend setzt sie sich auf.

In dem Moment, als sie aus dem Bett steigen will, als ihre nackten Füße schon fast den Fußboden berühren, dringt ein lautes Atmen aus dem Babyfon, unheimlich und Furcht einflößend. Ruths Härchen auf ihren Armen richten sich auf, als habe sie einen Kühlraum betreten. Sie glaubt zuerst nicht, was sie hört: Ganz ruhig atmet jemand ein und aus, und … es muss aus Maries Zimmer kommen. Ungläubig schaut sie zur Tür. Aber dann fällt ihr ein, dass man den Sender natürlich überall mit hinnehmen kann. Plötzlich kriecht Panik in ihr hoch. Sie überlegt, ob sie zum Fenster rennen und um Hilfe schreien soll. Aber es ist unmöglich für sie, sich zu bewegen, ihre Muskeln sind von einem auf den anderen Moment steinhart.

Das Atmen im Babyfon endet abrupt. Von einem auf den anderen Augenblick. So als habe jemand das Gerät abgeschaltet, oder … oder als habe jemand das Zimmer verlassen und käme, käme …

Ruth will schreien, aber sie kann nicht. Im Augenblick kann sie überhaupt nichts tun, außer zu warten. Sie merkt, dass sie sich jede Sekunde in die Hose machen wird. Wenn sich jetzt die Türklinke senkt, wird sie es tun, sie weiß es genau, sie wird es nicht verhindern können, sie wird sich wie ein kleines Baby einnässen.

Ein Moment vergeht, vielleicht zehn Sekunden, vielleicht zwanzig, in denen Ruth auf mögliche Schritte draußen im Flur horcht und gleichzeitig hofft, nichts, absolut nichts zu hören. Doch dann muss sie entsetzt feststellen, dass die Tür lautlos aufgleitet, fast sachte, und mit einem leisen Geräusch berührt die Klinke die Schranktür, so wie eine Billardkugel die andere nach einem perfekten Stoß sanft küsst. Jetzt spürt Ruth ihren heißen Urin die Beine herunterlaufen, durch ihren Schlafanzug auf das Bettlaken, auf die Matratze. Verzweifelt versucht sie in der Dunkelheit etwas zu erkennen, irgendetwas. Sie kneift die Augen zusammen. „Horst?“, wispert sie voller Hoffnung, „Bist du das?“ Noch nie hat sie ihren kleinen, unnützen Ehemann so sehr herbeigewünscht wie in diesem Augenblick. „Horst, bist du da, Horst?“

Auf den Gedanken, die Nachttischlampe einzuschalten, kommt sie nicht. Alles Denken ist auf das Wesen gerichtet, das dunkel in der Tür steht und sich jetzt langsam auf sie zubewegt.

Nachdem im Laufe der Jahre die Kindlichkeit mehr und mehr unnachgiebiger Härte und Strenge gewichen war, versucht sie sich nun am Ende ihres Lebens dennoch wieder mit einem kindlichen und anrührenden Instinkt dem Unausweichlichen zu entziehen: Sie zieht sich die Decke über den Kopf. Es sollte ihr aber nichts nützen.

Kapitel 5

Es ist noch dunkel, als Ben Mateus anruft, ich solle sofort zum Stiftsplatz kommen. Mateus leitet das Institut für Rechtsmedizin der Universität Bonn, und wenn er persönlich anruft, ist es wichtig. Während ich ihm zuhöre, setze ich mich mühsam auf. Vor dem Fenster streiten lautstark ein paar Krähen, die sich auf einer noch jungen Buche gegenübersitzen und einen Heidenlärm machen. Das unangenehme, kratzende Geräusch weckt mich so gut wie jeden Morgen.

Es ist zehn nach sechs. Ich überlege kurz zu duschen, entscheide mich aber dagegen. Bevor ich zu Bett gegangen bin, habe ich vergessen das Badezimmerfenster zu schließen und im Augenblick ist es im Bad sicherlich kälter als in meinem Kühlschrank.

Ich schlurfe schlaftrunken in die Küche, knipse fast gleichzeitig die kleine Lampe unter der Dunstabzugshaube und den Wasserkocher an. Mein Blick geht aus dem Küchenfenster Richtung Nordbrücke, die orangefarben angeleuchtet ist. Ich schaue auf die beiden Pylonen, an denen Dutzende Tragseile festgemacht sind. Auch Stahl kann aus ein paar Kilometern Entfernung fast anmutig wirken. Das Radio bleibt aus, weil ich keine Lust auf Weihnachtslieder habe. Für „Last Christmas“ ist es mir einfach noch zu früh.

Zwanzig Minuten später nehme ich mir meinen Kaffee mit nach draußen ins Auto. Es ist kalt geworden. Die heiße Tasse dampft, als hätte ich darunter ein Feuer entzündet.

Die Kennedybrücke ist bereits voller Autos, unzählige Scheinwerfer vertreiben zumindest auf den Fahrbahnen allmählich die Nacht. An jeder roten Ampel nehme ich einen Schluck. Kurz überlege ich, mir etwas zu essen zu holen, erinnere mich aber rechtzeitig, dass ich auf dem Weg in die Pathologie bin.

Ich parke den Wagen auf dem Parkplatz gegenüber der Rechtsmedizin und steige die beiden Marmorstufen hinauf. Die Pforte ist unbesetzt. Meine Schritte hallen in dem langen Flur unnatürlich laut. Die metergroßen weißen Fliesen glänzen im Schummerlicht vor noch unberührter Sauberkeit. Am Fahrstuhl verschwindet gerade eine kleine, schwarzhaarige Frau mit mehreren Besen und Eimern um die Ecke. Es riecht streng nach Chlor und Putzmitteln.

Am Ende des Flures laufe ich die Treppe hinunter und stoße eine breite Milchglastür auf. Auch im Vorraum der Gerichtsmedizin ist niemand zu sehen. Ich bin unschlüssig, ob ich warte oder einen der Sektionsräume betrete, aber dann bemerke ich eine Silhouette hinter einer Glasscheibe. Ich atme den Chlorgeruch tief ein, als würde er mir Kraft geben, klopfe zweimal und trete ein.

Autopsieräume sind nichts für die Lebenden. Sie haben nichts gemein mit dem, was wir kennen. Die Gegenstände können vielleicht die gleichen sein, auch hier spielt ein Radio, auch hier hängen Drucke von Kandinsky und Miró an der Wand, ein Aschenbecher steht sauber in der Ecke, im Mülleimer finden sich Papierschnipsel und Kaugummipapier, aber alles ist mit einer unsichtbaren Patina von Tod überzogen. Man erahnt sie nur, ähnlich wie das Schutzglas vor wertvollen Gemälden in Museen, aber sie ist doch da.

Professor Ben Mateus leitet seit über zehn Jahren das rechtsmedizinische Institut der Universität. Alle Todesfälle, bei denen der Totenschein nicht sofort mit einer natürlichen Ursache ausgefüllt werden kann, landen bei ihm. Mateus ist ein relativ kleiner Mann mit einem breiten Kopf. Seine schwarzen Haare hat er zurückgekämmt, auf eine uneitle, fast nachlässige Art. Ich schätze ihn auf Mitte fünfzig.

Mateus schaut von einem der drei Sektionstische auf, als ich den Raum betrete. Fast augenblicklich fröstelt es mich, als ich den toten, bleichen Körper sehe, der vor ihm auf dem Tisch liegt.

Nach ihren eigenen Schilderungen empfinden die meisten Polizisten beim Anblick von Leichen keine Gefühle wie Angst, Befremden oder Ähnliches, aber zu dieser Sorte Polizist gehöre ich nicht. Es ist nicht so, dass ich aufgrund meiner vielen Dienstjahre nun wesentlich abgehärteter geworden bin, im Gegenteil: Fast scheint es mir, als würde ich einen immer größeren Widerwillen gegen Tatorte entwickeln.

„Margot! Hallo!“ Ben spricht häufig in sehr abgehackten Sätzen, einem irritierenden Stakkatostil. Vielleicht liegt es daran, dass er seine Autopsieberichte direkt im Sektionsraum in ein kleines, silberfarbenes Aufnahmegerät spricht und sich dabei sehr kurz und präzise fasst.

„Ben“, sage ich nur, und bleibe knapp hinter der Tür stehen. Diese Räume haben eine ähnliche Anziehungskraft auf mich wie die Begegnung mit einem Hai.

Ich sehe, wie er lächeln will, es sich aber aus Rücksicht auf meine mädchenhafte Empfindlichkeit verkneift. Sein Blick wandert zu dem kleinen Mädchen auf dem Tisch. Es ist Marie.

„Du wirst näherkommen müssen, ich will dir etwas zeigen.“ Er winkt mich mit einem aufmunternden Blick zu sich, als sei ich 40 Jahre jünger und er wolle mir ein paar Bonbons in die Hand drücken. Ich mache ein paar Schritte. Am Tisch deckt er die Kleine fast vollständig mit einem grünen Tuch zu. Mir zuliebe, denke ich, nur Unterschenkel und Füße sind jetzt zu sehen.

Mein Zögern muss ihm theatralisch oder sogar exzentrisch vorkommen. „Komm näher!“, sagt er noch einmal.

Als Erstes sehe ich die rührend kleinen Zehennägel des Mädchens, sie sind nicht viel größer als Hemdknöpfe, kurz geschnitten und sauber. Auf den Unterschenkeln sind winzige, blonde Härchen zu sehen.

Ich will Ben schon fragen, worauf ich mich konzentrieren soll, als ich die Schlieren fast genau auf Höhe der Fußgelenke erkenne. Als ich genauer hinschaue, sehe ich, dass die Hautfarbe dort dunkler ist als oberhalb und unterhalb der Gelenke. Auch sind die kleinen Härchen hier vollkommen verschwunden. Ich will es zuerst nicht glauben, aber es lässt sich nur ein Schluss daraus ziehen.

„Die Kleine wurde gefesselt?“, frage ich noch in der vagen Hoffnung, Unrecht zu haben.

„Ja!“ Bens Handschuhe streichen fast sanft über die Gelenke des Mädchens. „Und die Färbung der Haut lässt nur eine Folgerung zu: Das Mädchen wurde gefesselt, als es noch lebte. Und es gibt eine Vielzahl von Schürfungen. Wenn du genauer hinsiehst. Sie wurde mehrmals gefesselt die vergangenen Wochen.“ Er macht eine kurze Pause. „Willst du wissen, woran ich das erkenne?“

Ich schüttle den Kopf. Ich würde mich gerne setzen, sehe aber keinen Stuhl. Deswegen lehne ich mich vorsichtig gegen den Tisch und betrachte die Konturen des kleinen Körpers unter dem Tuch.

„Das Mädchen wurde ertränkt. Die Spuren an den Gelenken sind nicht der einzige Hinweis. Wahrscheinlich Klebeband. Wir werden das später wissen.“

Ich schaue auf und sehe, wie er fast versonnen die Füße des Mädchens betrachtet. „Welche Hinweise gibt es noch?“, frage ich, obwohl ich es gar nicht wissen will.

„Das Wasser in der Lunge natürlich. Und Druckstellen links und rechts oberhalb der Brust. Willst du sie sehen?“

Ich schüttle wieder den Kopf. „Vielleicht später.“

Ich atme tief durch und sehe das Kind wieder neben der Wanne liegen, sehe, wie noch Wassertropfen durch das Haar gleiten und auf den kleinen Vorleger tropfen. Und ich sehe nur wenige Meter entfernt die schluchzende Frau am Küchentisch.

„Irrtum ausgeschlossen?“, frage ich und merke gleichzeitig, dass ich Bens Stakkatostil übernehme. Vielleicht liegt es an dem Kloß in meinem Hals, nur kurz reden zu wollen.

Ben schüttelt den Kopf. „Und sie hat Einstiche in der rechten Armbeuge.“

Ich stutze: „Einstiche? Von einer Spritze oder was meinst du?“

Ben reibt sich mit dem rechten Unterarm über die Stirn. „Ich kann es noch nicht sagen. Vielleicht war sie allergisch. Vielleicht war sie krank. Vielleicht ist ihr nur Blut abgenommen worden. Dann allerdings sehr häufig. Ich erkenne fast ein Dutzend Einstiche an jedem Arm. Der Kinderarzt der Kleinen wird mehr wissen.“

„Danke!“, sage ich und will gehen. Ich muss Fabian anrufen, wir müssen Ruth Rist verhaften, wenn uns der Staatsanwalt sein Einverständnis gibt. Wir hätten sie bereits gestern Abend festnehmen müssen, denke ich und merke, wie langsam Wut in mir aufsteigt.

„Margot, warte!“ Ben sieht mich an. Er steht noch genauso da, hat nur den Kopf in meine Richtung gedreht. Außerdem hält er das Tuch am unteren Ende in die Höhe. Kurz frage ich mich, warum er das macht. Dann sagt er: „Es sieht ganz danach aus, als sei das Mädchen vergewaltigt worden. Ich habe es noch nicht konkret untersucht, aber es bestehen leider wenig Zweifel.“

Ich schließe die Augen und nicke. „Danke!“, sage ich und gehe.

Kapitel 6

Der zuständige Leiter des Jugendamtes klopft und tritt gleichzeitig in den Raum. Eindrucksvoll, denke ich sarkastisch und lächle. Seine lauten Schritte waren schon draußen auf dem Flur zu hören. Jetzt schließt er die Tür. Fast warte ich darauf, dass er die Hose aufknöpft und auf den grauen Linoleumboden pinkelt, um mir zu zeigen, dass auch hier alles ihm gehört.

Ich bleibe freundlich, weil er mich amüsiert, stehe auf und reiche Jens Hübchen die Hand. Sein Händedruck ist so fest, wie er bei einem Mann eben fest sein muss, der einer Frau gleich klarmachen will, dass er ein ganzer Kerl ist. Allerdings spüre ich Nässe in seiner Handinnenfläche. Als er bemerkt, wie groß ich bin, reckt er sich.

„Nehmen Sie Platz“, sage ich und deute auf den einzigen Stuhl vor meinem Schreibtisch. Ich hätte Fabian gerne hier gehabt, weiß aber, dass er unterwegs zu Ruth Rist ist. Es war besser, ihn allein fahren zu lassen, ich weiß nicht, wie weit ich mich unter Kontrolle gehabt hätte beim Anblick dieser Frau.

Jens Hübchen trägt weite, unförmige Jeans und ein blaues Hemd, das nicht in der Hose steckt. Das hellbraune Cordjackett hat er über den Arm gelegt.

Ich versuche ihn weiter einzuschätzen. Er trägt eine kleine runde Brille, die Bügel drücken sich etwas zu eng an seine Schläfen. Seine Haare wachsen ihm wild über die Ohren.

Ehe ich meine erste Frage stellen kann, beugt er sich nach vorne: „Was kann ich für Sie tun, Frau Lukas?“ Seine Stimme ist tief und gleichzeitig weich, und wenn ich sie beurteilen müsste, ohne diesen Mann vor mir zu sehen, würde ich sagen, dass es eine angenehme, schöne Stimme ist.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragt er mich? Ich kann nur hoffen, dass ich meine Gesichtszüge unter Kontrolle habe, denn ich muss zugeben, dass ich etwas irritiert bin.

Ich nehme mir Zeit, lächle ihn an und frage mich gleichzeitig, warum er so dermaßen offensiv ist. Einen Moment lang sage ich nichts, dann frage ich: „Eine Menge, denke ich, danke der Nachfrage.“ Ich lasse einen weiteren Augenblick verstreichen und sage dann: „Wie gut kannten Sie Marie?“

Anstatt zu antworten schlägt er ein Bein über das andere, zupft an seiner Hose, als richte er die Bundfalte, die es nicht gibt. „Schlimme Sache!“, sagt er, ohne auf meine Frage einzugehen, „eine wirklich schlimme Sache.“ Es klingt so belanglos, als habe er festgestellt, dass die Benzinpreise wieder angestiegen sind.

Ich lasse ihm Zeit, mehr zu sagen, schaue ihn nur an, lasse meinen Blick langsam über ihn gleiten, von oben bis unten. Was glaubt er, wo wir hier sind?

Ich runzle kurz die Stirn. Vielleicht versteht er das als die Warnung, die sie ist. Ganz allmählich spüre ich, wie ihm unbehaglich wird.