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Heidi Schumacher

Mörderisches
Semester

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Impressum

Math. Lempertz GmbH

Hauptstraße 354

53639 Königswinter

Tel.: 02223 / 90 00 36

Fax: 02223 / 90 00 38

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www.edition-lempertz.de

Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus zu vervielfältigen oder auf Datenträger aufzuzeichnen.

1. Auflage – Juni 2018

© 2018 Mathias Lempertz GmbH

Text: Heidi Schumacher

Umschlaggestaltung: Ralph Handmann

Lektorat: Philipp Gierenstein, Eva Weigelt

Titelbild: fotolia

Printed and bound in Germany

ISBN: 978-3-96058-199-4

eISBN: 978-3-96058-271-7

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Heidi Schumacher lehrte von 1986 bis 2006 an den Universitäten Siegen, Marburg, Erlangen-Nürnberg und Bonn.

Seit 2010 hat sie drei Krimis und zwei weitere Romane veröffentlicht.

„Mörderisches Semester“ ist ihr vierter Krimi mit der Privatermittlerin Antonia Babe.

Für Inken und Marianne: … it’s all fiction.

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Anmerkung

Prolog

„Heiliger Erzengel Michael,
Fürst der himmlischen Heerscharen,
stoße den Satan und die anderen bösen Geister,
die in der Welt umherschleichen,
durch die Kraft Gottes in die Hölle.
Amen.“

Immer wieder sprachen sie das Gebet während der Nacht, murmelten, flüsterten es. Dann lauter und mit fester Stimme. Der Engel schien sie zu hören, denn er hob das Schwert höher und bohrte seinen Fuß tiefer in den Bauch des Drachen: Jeden, der glaubte, er sei wie Gott, würde er in die Hölle stoßen. Der Tag war gekommen und der Erzengel übte Vergeltung an denen, die Unrecht getan. Nach den ersten Toten würden die anderen folgen, alle, die den wahren Wert des Einen nicht erkannt hatten und immer noch nicht erkannten. Er würde endlich Ruhe finden nach den vielen entbehrungsreichen Jahren. Wie sagte das spanische Sprichwort: „Jedes Schwein wird einmal geschlachtet!“

1

„In wenigen Minuten erreichen wir Bonn Hauptbahnhof! Hauptbahnhof Bonn, Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Our next stop is Bonn central station, use se door on se right side, please.“

Antonia schreckte hoch. Sie war während der Fahrt eingeschlafen und die IC-Ansage auf Englisch hatte sich mit einem Traum vermischt, in dem sie mit vielen Hunden in der Straßenbahn saß und jemand „use the dog on the right side please“ sagte.

Sie wollte dem Schaffner gerade erklären, dass der Hund links, der so übel roch, ihrer Chefin gehörte, als sie aufwachte. Die Fahrgäste um sie herum waren wie immer mit ihren Handys oder Tablets beschäftigt. Antonia setzte sich etwas benommen aufrecht hin und beobachtete, wie die Daumen ihrer Nachbarin eine SMS nach der anderen tippten, während der Fahrgast ihr gegenüber mit dem Mittelfinger über sein Handy wischte. Die Wahrnehmung all dieser User war einzig und allein auf winzige Bildschirme ausgerichtet. Niemand schaute aus dem Fenster oder auf die Mitreisenden. Gute Zeiten eigentlich für Kriminelle, dachte Antonia. Die können sich weitgehend unbeobachtet fühlen.

Sie gähnte herzhaft. In der letzten Nacht hatte sie kaum ein Auge zu getan. Ralfi, der altersschwache Hund ihrer Chefin Rita Welsch (von der Detektei Welsch & Welsch in Köln), war mehrfach ins Gästezimmer gekommen. Gegen drei Uhr hatte er sie angewinselt, sie solle mit ihm spazieren gehen. Als Antonia ihn vor die Tür gesetzt hatte, scharrte und fiepte er so lange an der Schwelle, bis sie ihn wieder hereinließ. Er war zwischen Bett und Flur hin und her gelaufen, und hatte sie, seine zitternden Vorderbeinchen auf ihrer Bettkante aufstützend, mit blanken Augen erwartungsvoll angesehen. Rita wollte es wohl nicht wahrhaben, aber der Hund war offenbar verwirrt. Ob es so etwas wie Hunde-Alzheimer gab? Außerdem stank er.

Am Morgen wagte Antonia nicht, sich zu beschweren. Rita hatte ihr ohne Umstände ihr Gästezimmer überlassen und der Hund war ihr Ein und Alles. Sie hatte Antonia abends gebeten, ihre Zimmertür nicht zu schließen. Ralfi ginge manchmal in der Nacht umher, er brauche das.

Ralfis Ausdünstungen drangen auch morgens bis in die Küche und nahmen Antonia die Lust aufs Frühstück. Sie trank rasch einen Espresso und machte sich auf den Weg nach Bonn.

Nach der schlaflosen Nacht beschloss sie, bei Paula oder in einer Pension zu übernachten. Jedenfalls an einem Ort, an dem Ralfi ihr nicht seine Aufwartung machen konnte.

„Melde dich doch mal“, hatte Rita ihr freundlich durchs Treppenhaus nachgerufen. „Der Hund scheint dich zu mögen!“

Noch ein paar Minuten bis Bonn. Der Zug verlangsamte sein Tempo und die Reisenden tauchten unwillig aus ihrer kleinen Welt der Smartphones und Tablets auf, um sich der wirklichen Welt zu stellen. Antonia suchte in der Manteltasche nach ihrem Mobiltelefon und sah nach, ob sie eine Nachricht von Paula hatte. Nichts Neues, nur der gespeicherte Anruf von gestern.

Dann hielt der Zug. Auf dem schmalen Bahnsteig herrschte Gedränge. Da sie Hamburg und Köln gewohnt war, sah Antonia erstaunt auf einen mittleren Provinzbahnhof mit vier Bahnsteigen. Das war’s? Immerhin war die Stadt jahrzehntelang Regierungszentrum der Bundesrepublik Deutschland gewesen. Auch die Straße und der Platz vor dem Gebäude vermittelten einen Eindruck von Enge.

„Bonn ist zwar klein, zum Wohnen ist es aber netter als Köln. Es ist sehr grün!“, hatte ihr Paula, Florians Kusine, am Telefon gesagt. Nach mehreren Besichtigungen in der Kölner Südstadt und im Uni-Viertel hatte Antonia die Wohnungssuche in der Domstadt erst einmal eingestellt. Entweder waren die angebotenen Mietobjekte zu hässlich oder sie waren unbezahlbar. Mit Wehmut dachte sie an ihre hübsche Altbauwohnung in Hamburg-Altona, die sie nun verlassen musste. Sie hatte als Privatermittlerin den Vertrag für die Kölner Detektei unterschrieben und würde dort am 1. Juni anfangen. Florian, ihr Freund, wollte nach Beendigung des Semesters in Hamburg eine Orgelprofessur an der Kölner Musikhochschule antreten und mit Antonia in ihre erste gemeinsame Wohnung ziehen.

Paula Niedlich studierte Spanisch in Bonn und hatte Antonia ermuntert, sich doch auch dort nach Wohnungen umzusehen. „Billig ist es hier auch nicht gerade“, hatte sie Antonias Optimismus gedämpft und als Treffpunkt ein Café gegenüber der Uni angegeben. Antonia hörte noch einmal die Mailbox auf ihrem Handy ab und folgte Paulas Anweisung:

„Vom Bahnhof immer geradeaus bis zum Münsterplatz. Da dräut Beethoven von seinem Denkmal. Rechts liegt das romanische Münster, unbedingt später besichtigen, vor allem den Kreuzgang. An der Kirche gehst du entlang und geradeaus bis zur Ampel. Von dort noch 200 Meter nach links. Gegenüber dem Haupteingang der Uni ist das Café, da warte ich auf dich!“ Es war nicht schwer, sich in der kleinen Stadt zurechtzufinden. Der Himmel war bedeckt, aber ab und an gab es längere sonnige Phasen, in der die Stadt freundlich und einladend wirkte. Wie in Köln saßen auch hier viele Menschen schon draußen, um ihren Kaffee oder einen Imbiss zu genießen. Auf dem Platz mit dem Beethoven-Denkmal gab es zahlreiche, gut besetzte Tische. Viele Gäste trugen zu winterlicher Kleidung bereits Sonnenbrillen, möglicherweise um der Rede von Bonn als nördlichster Stadt Italiens Rechnung zu tragen. Paula hatte das zitiert, während Rita diesen Zusammenhang vehement bestritt. Dies sage man von Köln und nur von Köln.

Antonia erkannte das Denkmal, von dem der Komponist mit finster-entschlossener Miene auf die umliegenden Kaufhäuser sah. Sie ging an der romanischen Kirche und zwei monumentalen Köpfen vorbei, die quer vor der Apsis lagen. Dann wandte sie sich nach links. Paulas Blond leuchtete ihr von Weitem entgegen. Sie saß mit anderen Besuchern draußen vor dem Café.

Florians Kusine hatte langes seidiges Haar, mit einem Mittelscheitel und ein liebes, ein wenig ausdrucksarmes Gesicht. Obwohl sie hanseatisch frisch in blau-weiß gestreiftem Sweatshirt, weißen Jeans und weißen Turnschuhen an Nordseeurlaub erinnerte, wirkte sie angespannt. Vor ihr stand ein Café Latte, der bereits halb ausgetrunken war. Der bräunliche Schaum klebte am Glasrand. Antonia überkam dann immer das Gefühl, dass man die Gläser nicht ordentlich spülte, aber eigentlich war es so, dass sie mit Kaffee Porzellan verband und er ihr aus Glas oder Pappe nicht schmeckte.

„Was möchtest du trinken, ich hol dir was. Hier ist Selbstbedienung. Wie geht es Flori?“

Es dauerte etwas, bis Antonia die Sätze, die aus Paulas Mund wie ein einziges zusammengezogenes Wort klangen (WasmöchtesttrinkenichholdirwasrstSelbstbedienunggehtesFlori), dechiffriert hatte.

„Einen Cappuccino bitte, wenn’s geht, in einer Tasse! Florian scheint es gut zu gehen. Der Umzug stört natürlich sein Üben. Ich soll dich grüßen!“

Paula kam mit dem Kaffee an den Tisch zurück. „Hier!CappuccinosimmerinnerTasseschönsFlorigutgeht!“

Die Aprilsonne schien warm. Antonia nahm einen Schluck Kaffee.

Paula schob sich nervös eine Haarsträhne hinter ein Ohr und räusperte sich. „DsdastderHaupteingangdUni!“

Antonia sah zu dem großen Portal hinüber, durch das Menschen ein und ausgingen. „Da ist ja richtig viel los, ich dachte, das Semester hätte noch nicht angefangen …“

Paula winkte ab. „Das sind keine Studenten. Viele Bonner benutzen den Arkadenhof als Abkürzung zum Hofgarten, sonst muss man ganz außen um das Gebäude herumgehen.“

Ihre Stimme wurde dünn und sie saß da, als ob sie gleich einen Wettlauf starten wollte, die Schultern angezogen, die Hände auf den Tisch gestützt, die blauen, leicht vorstehenden Augen starr auf Antonia gerichtet. „Ich muss dir etwas Schreckliches erzählen“, stammelte sie.

Antonia lehnte sich zurück. „Dann schieß mal los! Oder besser nicht. Sprich langsamer, dann muss ich nicht nachfragen!“ Paulas blaue Augen waren jetzt weit geöffnet und sie sah sich furchtsam um, so als könnte sie jemand belauschen. „Vor zwei Wochen hat man einen Toten im Hofgarten gefunden, einen Obdachlosen, der vor dem Akademischen Kunstmuseum mit zertrümmertem Schädel lag. Eindeutig Fremdeinwirkung. Und letzte Woche ist dann so was Ähnliches bei uns in der Uni passiert! Stell dir vor! Zwei Mordopfer, kurz hintereinander.“

Antonia nahm einen Schluck Kaffee. Sie glaubte zunächst, sich verhört zu haben. Sie wollte sich nur nach einer Wohnung umsehen, stattdessen pflasterten wieder einmal Leichen ihren Weg. So jedenfalls hatte sich Florian einmal ausgedrückt, als sie sich kennenlernten. Sie versuchte, ruhig zu bleiben.

„Und das zweite Opfer? Was ist mit dem?“

Paulas Stimme vibrierte. „Eine Woche nach dem Mord an dem Obdachlosen hat man einen alten Freund unseres Institutsdirektors Loser ermordet im Hauptgebäude aufgefunden. Es handelt sich um den ehemaligen Dekan der Philosophischen Fakultät, Professor Kahlschlag.“

Antonia zog aus einem Reflex heraus ihr Ermittlungsheft aus der Tasche.

„Wann war das und wie wurde er gefunden?“

„Es ist während der Abschiedsfeier für Loser passiert. Ich darf eigentlich keinem was sagen. Die Öffentlichkeit soll noch nichts von dem Hergang erfahren, um die Ermittlungen nicht zu behindern. Verdächtig sind alle, die beim Fest waren, ich selbst übrigens auch. Tscha, und jetzt rätselt die Polizei, ob die beiden Morde zusammenhängen, weil man sowohl Kahlschlag als auch dem Obdachlosen den Schädel mit einem schweren Gegenstand eingeschlagen hat, und beide Opfer lehnten an einer Statue, so, als habe das was zu bedeuten.“

Immerhin denkt die Polizei hier in Zusammenhängen, ging es Antonia durch den Kopf. Sie hatte einen Augenblick lang nicht zugehört. Paula ließ sich gerade über die Befragung des Instituts durch Kriminalbeamte aus.

„Mit mir waren sie eigentlich schnell durch. Aber zwei muslimische Kommilitonen wurden besonders lange befragt, was eine Unverschämtheit ist. Der eine von den beiden ist Nabil. Er studiert auch am Institut, ist Marokkaner und wohnt in meiner WG. Also, wir beide sind auch zusammen. Du kannst dir denken, dass wir seit Tagen über nichts anderes mehr reden.“

Antonia löffelte den Schaum ihres Cappuccinos aus der Tasse und riss die Silberfolie des Kekses auf, der auf der Untertasse lag. Ihr Magen knurrte, sie hatte noch kein Frühstück gehabt. „Paula, denkst du, dass ich hier noch irgendwo Frühstück bekomme?“

Paula sah sie überrascht an. „Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?“

„Nein, aber mit leerem Magen kann ich nicht denken.“

„Tscha, dann gehen wir am besten ins Blau.“

Das Café Blau war ein Ort mit lebhafter Atmosphäre, an dem sich vornehmlich Studenten aufhielten. Es lag in Uni-Nähe neben dem Stadtmuseum. Man saß in Gruppen oder zu zweit, aß Pasta oder Salat zu günstigen Preisen, lachte und redete. Die unbekümmerte Stimmung versetzte Antonia in ihre eigene Studentenzeit zurück. Sie bestellte sich Spaghetti aglio olio, verzehrte sie in aller Ruhe und stellte Paula zwischendurch ein paar unzusammenhängende Fragen wie: Wo ist denn dieser Loser jetzt? Seit wann wohnt Nabil bei euch? Macht dir deine Arbeit Spaß? Kannst du mal fragen, ob ich Pfeffer haben kann? Paula hatte sich nur ein Mineralwasser bestellt. „Ich esse heute Abend in der WG. Wenn du Lust hast, komm doch auch!“

Dabei blickte sie missbilligend auf die entspannte Antonia. Offenbar hatte sie etwas mehr professionelles Interesse von Florians Freundin erwartet.

„Was sagst du denn nun als Profi dazu?“

Antonia runzelte die Stirn. „Vergiss bitte nicht, dass meine Arbeit als Privatermittlerin erst im Juni anfängt!“

Als sie Paulas enttäuschtes Gesicht sah, fügte sie schnell hinzu: „Aber vielleicht wäre es ganz nützlich, einen Blick auf den Tatort zu werfen. Ist die Stelle abgesperrt?“

„Wo denkst du hin! Man hat den Flur nur zwei Tage verriegelt, sind ja noch Semesterferien und die Hörsäle werden noch nicht gebraucht. Sie haben ein Schild mit der Aufschrift Reinigungsarbeiten aufgestellt. Außerdem glaubt man, dass der Mord selbst in der Tiefgarage passiert ist. Der Täter hat den alten Kahlschlag später nach oben geschleift.“

Antonia zahlte und folgte Paula zu einem Nebeneingang der Uni. Er führte durch eine Vorhalle, die für Aushänge und Plakate reserviert zu sein schien.

„Diese Halle hieß früher die Blaue Grotte, unsere Großeltern haben hier wohl schon ihre grottigen Studentenfeten gefeiert“, erläuterte Paula. Dann ging sie in langen Schritten über den arkadengesäumten Innenhof der Universität und erklärte Antonia mit der sachlichen Stimme einer Fremdenführerin, dass man das ehemalige kurfürstliche Schloss im frühen 19. Jahrhundert in eine Universität verwandelt habe.

„Das Gebäude wurde im 2. Weltkrieg schwer beschädigt und nach dem Krieg wiederaufgebaut.“ Unter den Arkaden führte sie Antonia in ein Treppenhaus, dessen Stufen in zwei Bögen links und rechts hinaufführten. Oben betrat man eine helle Galerie, an deren hinterer Seite sich Fenster zum Arkadenhof, nach vorne zu einer breiten Rasenfläche öffneten.

„Wir befinden uns hier zwischen den beiden Flügeln des Gebäudes, über der Regina Pacis, einer Marienfigur mit Kind. Man hat von hier einen schönen Blick über den Rasen und die Bäume des Hofgartens. Was du da hinten, am Ende des Rasens siehst, das Gebäude mit der Rotunde, das ist das Akademische Kunstmuseum mit Abgüssen antiker Plastiken.“ Paula senkte ihre Stimme. „Davor hat man den ermordeten Obdachlosen gefunden.“

Antonia sah auf das weite Grün hinunter, auf der hier und da Studenten lagerten und Jugendliche Fußball spielten, und machte mit ihrem Handy ein Foto. Sie wollte die Aussicht noch etwas genießen, aber Paula drängte zum Weitergehen und zog sie in einen langen Flur, der sich vom Treppenhaus nach rechts erstreckte. Hinter den vielen dunklen Türen rechts und links befänden sich die Hörsäle. „Der Vorlesungsbetrieb geht erst morgen los, deshalb sind sie noch abgeschlossen!“

Am Ende des Flurs leuchtete eine vergoldete Statue auf einer Stele.

„Hier ist es. Eine Darstellung des Erzengels Michael, wie er den Teufel in Form eines Drachen besiegt!“, flüsterte Paula. „Tscha, und hier hat man den alten Kahlschlag gefunden!“

Der goldene Erzengel trug eine barocke Rüstung und einen Helm mit Federbusch. In seiner dramatisch erhobenen Rechten führte er ein Schwert, das jeden Moment niedersausen konnte. Mit einem Fuß hielt er den Drachen nieder, in seiner Linken ein rundes Schild.

Antonia trat näher heran. „Was steht denn da auf dem Schild?“ „Das ist eine lateinische Inschrift: Quis ut deus. Er fragt den besiegten Teufel: Wer ist wie Gott?, womit er den Teufel nicht nur mit dem Schwert, sondern auch mit Worten bestraft. In der Offenbarung des Johannes tritt Michael als Bezwinger Satans auf, indem er ihn auf die Erde hinabstürzt. Michael wurde später auch Schutzpatron des Heiligen Römischen Reiches und noch später Deutschlands, daher vielleicht der Ausdruck vom deutschen Michel. Es gibt eine weitere Michaels-Statue hoch über dem Koblenzer Tor des Uni-Gebäudes.“

Antonia sah die Jüngere erstaunt an. „Du kennst dich ja aus!“ Paula winkte bescheiden ab, dabei hielt sie Antonia die Tür zum Aufzug auf. „Ich muss manchmal auf Wunsch des Chefs Gäste des Instituts herumführen und etwas über die Geschichte der Uni erzählen. Jetzt gehen wir aber erst mal in unser sogenanntes Dienstzimmer!“

Das Zimmer der jüngeren Mitarbeiter lag im dritten Stock unter einer Dachschräge. Es war eng und ziemlich warm. Im Sommer muss es hier unerträglich sein, ging es Antonia durch den Kopf. Die beiden jungen Männer an ihren Schreibtischen ließen schon jetzt im April einen Ventilator laufen. Paula stellte ihr den wissenschaftlichen Mitarbeiter Dr. Alexander Haussmann vor, einen schmalen jungen Mann mit schwarzer Brille und rundem Rücken. Zuviel Schreibtisch, dachte Antonia. Dr. Haussmann sah sie prüfend über den Brillenrand an. Er hatte schöne dunkle Augen, denen es für Antonias Geschmack jedoch an Wärme fehlte. Der andere Mitarbeiter, studentische Hilfskraft, war ein junger Spanier namens Jorge, der auch in Paulas WG lebte. Jorge lehnte sich entspannt in seinen Schreibtischstuhl zurück und kramte letzte Kartoffelchips aus einer zerknautschten Tüte. Er befand sich auf facebook, wie Antonia mit einem Seitenblick auf seinen Bildschirm erkennen konnte. Paula stellte sie vor.

„Das ist Antonia, erfolgreiche Privatermittlerin und Freundin meines Vetters Florian, dem weltbesten Organisten!“

Jorge grüßte Antonia mit einem munteren Hola, Alexander Haussmann saß vor einem Haufen aufgeschlagener Bücher und schien zu arbeiten. Er stand auf und begrüßte sie mit einem Händedruck, wobei sein Blick taxierend über Antonias Körper glitt. Dann setzte er sich sogleich wieder hin. „Entschuldigung, ich bin etwas unter Druck, weil ich noch an den Vorbereitungen für mein Seminar sitze. Wir sehen uns ja vielleicht heute Abend in Paulas WG!“, sagte er kurz und hackte weiter in die Tastatur.

Paula, deren Schreibtisch quer zu den beiden Tischen der Kollegen stand, ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Jorge geht für eine Weile nach Spanien und macht deshalb heute Abend ein Abschiedsessen. Komm doch auch! Dann können wir dich weiter mit der Situation hier vertraut machen!“

Jorge, dessen Haar im Nacken zu einem pechschwarzen Zopf gebunden war, trug ein verwaschenes, rosafarbenes T-Shirt mit der Aufschrift Free Cannabis. Er lachte in sich hinein und murmelte etwas auf Spanisch, offenbar hatte ihm Facebook etwas Lustiges mitgeteilt. Gleichzeitig griff er nach seinem Handy, auf dem ihm ein Plop eine neue SMS angekündigt hatte.

Alexander hatte sie beide wohl auch vergessen, weil er plötzlich laut fluchte: „Fuck! Dieses Scheißzitat habe schon einmal aus dem Buch abgetippt, jetzt ist es weg!“

„Habt ihr denn keinen Scanner?“, fragte Antonia.

Paula winkte ab. „Doch, hatten wir, bis Dr. Lewald kam. Der hat als Erstes alle guten Geräte vereinnahmt und in sein Zimmer geschleppt. Ausleihen nennt er das. Er bringt aber nichts wieder zurück und wir können sehen, wo wir bleiben. Lass uns mal zu ihm gehen, ich stelle dich ihm vor, dann kannst du dich hier im Institut freier bewegen. Sag einfach, du suchst nach einem Thema für deine Doktorarbeit bei Loser, es wird ihn eh nicht interessieren.“

Offenbar rechnete Paula bereits fest damit, dass Antonia sich mit dem Mordfall beschäftigen würde. Antonia sagte nichts. Sie wollte die Dinge erst einmal auf sich zukommen lassen.

Der mit vielen Filzstiftgraffitis ausgemalte Aufzug fuhr sie wieder eine Etage nach unten. Am Ende eines breiten Flurs befanden sich die Zimmer der Professoren Loser und Kanz. Loser, soviel wusste Antonia bereits, hielt sich zur Zeit zu Forschungszwecken abwechselnd in Kalifornien und Madrid auf und wurde durch Dr. Lewald vertreten. Kanz hatte ein Forschungsfreisemester, was soviel hieß, dass er keinen Unterricht erteilen musste.

„Ich glaube kaum, dass er noch viel forscht. Er wird bald pensioniert und hat noch nie viel publiziert“, erläuterte Paula. Auf ein genäseltes „Herein“ öffnete sie die Tür zu Losers Zimmer. Antonia war vom Anblick, der sich ihr bot, hingerissen. Große kassettierte Fenster mit Blick auf den Hofgarten, hohe Bücherregale an drei Wänden und ein mächtiger Mahagoni-Schreibtisch, auf dem neben einem I-Pad nur der große Bildschirm eines Apple-Computers thronte. Der Mann, der davor saß, sprang auf. Er wirkte in der Eleganz des Raums ein klein wenig schäbig. Die Ärmel seines altmodischen Hemds waren hochgekrempelt, seine Hose endete ein Stück weit über den Socken und sein Haar glänzte fettig. Loser, der eigentliche Hausherr, trug nach Paulas Auskunft teure Anzüge. Er genoss internationale Bekanntheit, hatte den Ruf eines Lebemannes und war gern gesehener Gast auf Konferenzen weltweit. Wahrscheinlich füllte er dieses Ambiente, Dr. Lewald jedenfalls tat es nicht. Der Dozent sah sie mit einer Miene an, als hätte man ihn bei etwas Wichtigem unterbrochen. Auf einem Sideboard stand eine Reihe technischer Geräte, zu denen er jetzt das I-Pad zurücklegte.

„Frau Niedlich, was führt Sie zu mir? Erinnern Sie mich bitte daran, dass ich Alexander Haussmann den Scanner zurückgebe, ich brauche ihn nicht mehr! Also, vielleicht nur noch diese Woche.“

Paula warf Antonia einen vielsagenden Blick zu. Dann stellte sie Antonia als zukünftige Doktorandin von Professor Loser vor.

Antonia schüttelte Lewalds schlaffe Hand. Dann folgte sie einer Eingebung und log mit sanftem Augenaufschlag noch etwas hinzu: „Ich hoffe, Dr. Lewald, Sie legen ein gutes Wort für mich bei Professor Loser ein. Er kennt mich noch nicht. Ich wollte Ihnen demnächst das Konzept meiner Doktorarbeit zeigen. Sie können wohl am besten beurteilen, ob es wissenschaftlich etwas taugt!“

Ihre Schmeichelei zeigte Wirkung. Lewald fuhr sich mit der Rechten durchs schwarze Haar, das für sein Alter, er musste Ende vierzig sein, noch sehr voll, aber verdächtig einfarbig war.

„Ja, möchten Sie sich nicht setzen? Ich lasse meine Sekretärin Kaffee bringen!“

Antonia und Paula nahmen in einer schwarz-ledernen Designer-Sitzgruppe Platz. Das mittlere der drei Fenster war geöffnet und von draußen zog der Duft des Frühlings herein. Antonia wünschte sich einen Augenblick lang, ihre Story sei wahr und sie hätte tatsächlich noch einmal die Chance zu studieren und eine Doktorarbeit zu schreiben. Hier herrschten Frieden und Beschaulichkeit, zu dem das Vogelgezwitscher aus den nahen Baumkronen die passende Hintergrundmusik bildete. Die Welt draußen, in der Morde und andere Scheußlichkeiten passierten, schien weit entfernt. Dann fiel ihr wieder ein, warum sie da war und dass der tote Dekan nicht weit von hier im Flur gelegen hatte.

„Mit meinem guten Freund Loser habe ich noch heute morgen telefoniert.“

Lewalds Stimme hatte einen falschen Klang. Wahrscheinlich kann er Loser in Wirklichkeit nicht ausstehen, dachte Antonia.

„In Los Angeles geht alles prächtig“, säuselte Lewald weiter. Er sprach sehr nasal, so als habe er Probleme mit den Nebenhöhlen. „Nach der Konferenz fährt er kurz nach San Diego und dann fliegt er von LA zur nächsten Tagung nach Madrid. Der gute Loser, der hat ein Leben, was?“

Paula nickte servil. Sie wirkte, seit sie das Büro des Vertretungsprofessors betreten hatten, etwas geschrumpft.

Lewald schien seinen Blick nur ungern von Paula zu lösen, die offenbar hoch in seiner Gunst stand. Dann sagte er zu Antonia: „Am besten wäre es, Sie würden sich direkt an meinen Kollegen Loser wenden. Loser und ich haben doch ganz verschiedene Ansätze!“

Die Wirkung ihrer Schmeichelei war offenbar schon verpufft und bei Lewald gewann die Bequemlichkeit Oberhand.

„Nun“, sagte Antonia rasch, „vielleicht kann ich ja auch bei Ihnen promovieren!“

Lewald schaute ungehalten. Dann lehnte er sich zurück und fragte von oben herab: „Um was geht es denn? Und wissen Sie schon, wie Sie das Thema eingrenzen wollen?“

Antonia nagte erschrocken an ihrer Unterlippe und sah hilflos zu Paula hinüber.

Paula blieb ruhig und antwortete routiniert. „Frau Babe hat noch keine genaue Idee, Herr Dr. Lewald. Aber das Spezialgebiet von Professor Loser wird eine Rolle spielen. Sie interessiert sich sehr für Kriminalität in urbaner Umwelt und möchte die spanischsprachige Kriminalliteratur berücksichtigen.“

Antonia stellte erleichtert fest, dass Lewald schon nicht mehr richtig zuhörte, stattdessen einen Hemdsärmel herunterkrempelte und die Manschette zuknöpfte. Es sah aus, als beende er einen Arztbesuch. Den Kaffee hatte er auch nicht bestellt. Sie stand auf und bedankte sich. „Wir wollen Sie auf keinen Fall von der Arbeit abhalten, Dr. Lewald. Ich komme dann demnächst in Ihre Sprechstunde, dann können wir ausführlicher über mein Konzept sprechen. Jetzt, da ich einen Ansprechpartner habe, geht es mir schon viel besser!“ Dann schüttelte sie ein zweites Mal Lewalds schlaffe Hand und ging zur Tür. Am Garderobenständer nahm sie einen schweren Duft wahr, der sie an etwas erinnerte, aber sie wusste nicht an was.

Paula blieb bei Lewald stehen. „Geh doch bitte schon mal vor, Antonia. Ich muss noch etwas mit Dr. Lewald besprechen. Wir sehen uns dann gleich draußen am Hofgartenausgang!“

Antonia war froh, die Kurve bekommen zu haben. Wie peinlich, wenn Lewald sie nach ihren bisherigen Spanisch-Studien gefragt hätte. Sie konnte kaum Spanisch und verband mit dem Land nur traumatische Erinnerungen, weil vor Jahren ihr erster Freund dort bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen war.

Im Arkadenhof kündigte ihr Handy eine SMS von Florian an. Er bat sie, in der Bonner Nordstadt beim Orgelhaus Klais einen Besuchstermin für ihn zu vereinbaren. „Geh bitte fr mich vrbei! Kmme übernchste Woche nach BN! Kuss, Florian.“

Antonia ging durch den Ausgang zum Hofgarten und ließ sich auf der steinernen Einfassung nieder, die den Rasen vor dem Uni-Gebäude begrenzte. Die Sonne schien kräftig. Der Geruch der Beete mit gelben Primeln und weißen Narzissen hing in der Luft, über den Vorplatz schlenderte die akademische Jugend. Viele der jungen Frauen sahen aus wie Paula, blond und langbeinig, vom Leben noch wenig gezeichnet, die jungen Männer trugen Rucksäcke, aus denen Wasserflaschen ragten, so als gingen sie auf Wanderschaft. Wieder andere hatten sich auf der großen Wiese zum Plaudern oder Lesen niedergelassen. Niemand hatte es eilig, das Semester würde erst morgen beginnen. Antonia, die gerade dreißig geworden war, schmerzte das Gefühl, das Paradies verloren zu haben. Ihr Beruf als Privatermittlerin machte ihr Spaß, aber nie wieder würde sie sich so frei fühlen wie zu der Zeit, als die Zukunft noch in unbestimmtem Nebel lag und die Frage aller Fragen sich weniger um das Studium als darum drehte, wo am Wochenende die beste Party stieg.

Zehn Minuten später ließ sich Paula neben ihr nieder. Über der Nase stand wieder die besorgte Falte, die Antonia heute schon ein paar Mal an ihr gesehen hatte.

„Lewald hat mir gerade bestätigt, dass wir morgen nochmal einzeln von der Kripo befragt werden!“

„Wer?“, fragte Antonia.

„Alle, die am Institutsfest teilgenommen haben. Nabil muss morgen zum zweiten Mal hin. Ich bin stocksauer! Er spricht zwar ganz gut Deutsch, aber er wird nicht alles verstehen, und ich darf ihn nicht begleiten. Lewald sagte, er habe nichts für ihn ausrichten können bei der Polizei, sie wollen einen Dolmetscher heranziehen.“

„Warum ist denen denn Nabil so wichtig?“

„Also, erstens ist er Marokkaner. Muslime sind ja bei uns per se schon verdächtig, aber zweitens, und das ist das Schlimmere, er hat kein Alibi. Er ist während des Festes verschwunden und hat sich mit Freunden getroffen, aber er kann sie nicht wiederfinden. Sie treffen sich meist am Bahnhof in einer Stehpizzeria und kennen sich alle beim Vornamen, aber Nabil weiß doch nicht, wo die wohnen. Da ist ein Kommen und Gehen. Ich bin schon zweimal mit ihm da vorbeigegangen, aber die Jungs, mit denen er in der fraglichen Nacht herumgezogen ist, waren nicht da! Komm, ich zeig dir noch die Stelle, wo man den Obdachlosen gefunden hat. Dann gehen wir zu uns. Ich muss sehen, dass Jorge unsere Küche nicht völlig in einen Saustall umarbeitet. Du kannst dich in meinem Zimmer so lange ausruhen!“

Die beiden Frauen schlenderten eine der beiden Alleen entlang, die vom Universitätsgebäude zum Akademischen Kunstmuseum führten. Das Museum bestand aus einem Mittelteil mit zwei streng geformten Seitenflügeln, im Mittelteil befanden sich an jeder Seite Treppen, auf denen jetzt Studenten saßen und die Sonne genossen. Über dem Mittelteil wölbte sich eine Kuppel, um deren unteren Rand sich ein Kranz von Fenstern zog. Antonia fragte, warum sich der Baustil des Gebäudes so sehr von dem der Universität unterschied.

„Es wurde erst gebaut, nachdem das Schloss zur Universität wurde. Also in den 1820er Jahren. Ursprünglich war hier die alte Anatomie der Universität. Unter der Kuppel war der Saal, in dem die Leichen seziert wurden. Tscha, etwas vom Geist des Ortes muss der Mörder wohl noch gespürt haben.“

Links und rechts vor den Seitengebäuden standen die Abgüsse zweier griechischer Statuen, die eine Achill, die andere Athene darstellend, wie Paula ausführte. Der Ermordete habe an der Statue des Achill gelehnt und es habe ausgesehen, als habe er noch gelebt. „Die Verletzung am Kopf war nicht zu erkennen, der Mörder hat ihm eine Mütze übergezogen.“

„Woher weißt du das so genau?“

„Die Kripo hat uns auf der Institutsversammlung ein Foto gezeigt. Sie wollten überprüfen, ob jemand aus der Uni das Opfer schon mal gesehen hat!“

Antonia horchte auf. „Und hat ihn einer gekannt?“

„Nee, von uns keiner!“

„Was haben sie sonst noch gesagt?“

„Wir sollen vorsichtig sein, man weiß doch nicht, was der Täter sonst noch alles anstellt!“

2

Vom Hofgarten aus waren alle Straßen mit Gründerzeithäusern gesäumt. Dieser Stadtteil werde Südstadt genannt, erklärte Paula. Antonia fiel auf, dass es an jeder Ecke Restaurants und Cafés gab und sie zählte auf dem Weg zu Paulas WG vier Apotheken. Paula nickte. „Es sind sechs oder sieben in unserer Nähe, die beiden vom Kaiserplatz nicht mitgerechnet. Tscha, es gibt hier viele Rentner. Die pflegen ihre Krankheiten. Außerdem: der Bonner liebt die Sicherheit.“

Das Haus der Wohngemeinschaft lag in einer ruhigen Nebenstraße, die Wohnung befand sich in der ersten Etage. Antonia, die studentisches Chaos erwartet hatte, war überrascht. Im Flur und in der Küche herrschten penible Ordnung, an der Kühlschranktür klebte ein Putzplan, den Paula entworfen hatte.

„Darauf achte ich, dass der eingehalten wird“, sagte sie mit kühler Stimme. „Sonst müssen Carmen und ich den beiden Jungs hinterherräumen. Nabil und Jorge können in ihren Zimmern machen, was sie wollen. Aber in Küche und Bad habe ich meine Standards. Möchtest du einen Tee? Nein? Dann geh doch in mein Zimmer und ruh dich aus. Du siehst müde aus. Ich taue mal den Pizzateig auf und bereite den Salat vor!“

Antonia war auf Paulas Bett eingeschlafen. Als sie wieder erwachte, hörte sie in der Küche ein lautes Stimmendurcheinander und ein Duft nach warmem Teig und Knoblauch hing in der Luft. Am Küchentisch saßen Paula und Alexander und tranken Rotwein. Jorge öffnete gerade eine weitere Flasche.

Ein dritter junger Mann mit kurz geschnittenen, schwarzen Haaren und braunem Teint nickte ihr zu. „Hallo! Ich bin Nabil!“, sagte er mit einem Lächeln, während er eine Vinaigrette über dem Salat verteilte. Alle waren bester Laune. Als sich die große Kühlschranktür schloss, kam eine junge Frau dahinter zum Vorschein. Ihre knabenhafte Figur wurde durch breite Schultern und einen flachen Busen betont. Ihr Oberkörper steckte in einem zu großen Herrenunterhemd.

Paula klärte Antonia auf. „Darf ich vorstellen, Carmen und Nabil, meine beiden anderen Mitbewohner. Jorge hast du schon kennen gelernt. Alexander auch. Alexander wohnt nicht weit von hier und kommt fast täglich vorbei. Leute, das ist Antonia aus Hamburg, die Privatermittlerin, von der ich euch erzählt habe. Ich hoffe, sie kann uns helfen, Nabil zu entlasten. Aber jetzt hole ich erst mal die Pizza aus dem Ofen und dann wird gegessen!“

Jorge goss Antonia ein Glas Wein ein und sie nahm neben Alexander Platz. Während der ganzen Mahlzeit ging es lebhaft und fröhlich zu. Alle fünf kannten sich von der Uni, Alexander, Paula und Jorge als Kollegen, Carmen und Nabil waren Studenten des Instituts. Jorge wollte für das kommende Semester zurück nach Spanien gehen, um dort seine Bachelorarbeit zu schreiben, und sein Zimmer so lange untervermieten. Nabil kam aus Tanger und studierte im 3. Semester Spanisch und Germanistik, während Carmen kurz vor dem Bachelor-Examen stand und zur Zeit in der Altstadt in einer Kneipe kellnerte. Alle hatten direkt oder indirekt mit Professor Dr. Markus Maria Loser zu tun. Entweder war Loser ihr Dienstherr oder Doktorvater oder zukünftiger Prüfer.

„Wie ist Loser denn so?“, fragte Antonia, während Paula ihr noch ein Stück von der Pizza nachlegte.

Keiner antwortete, bis Paula ein gedehntes „Mhm, tscha!“ von sich gab. „Schwer zu sagen. Man kann nicht sagen, dass er nett ist, aber er ist auch kein Scheusal. Er ist nie ganz bei der Sache, immer im Kopf schon bei der nächsten Tagung, immer auf dem Sprung!“

Jetzt äußerte sich auch Alexander Haussmann. „Losers Interesse ist es immer gewesen, so oft wie möglich Bonn zu verlassen und zu Forschungsaufenthalten in Spanisch sprechende Umwelten, wie er das nennt, zu reisen.“

„Dabei hätte er das billiger haben können, wenn er öfter mal bei uns vorbeigekommen wäre“, meinte Carmen.

Alexander fuhr fort: „Das Bonner Schmuddelwetter hat er in den letzten Jahren häufig mit der kalifornischen Sonne vertauscht und mal in Stanford, mal an der University of San Diego gelehrt. Sein durchaus überschaubares Spezialgebiet heißt Literatur im Mexiko der zwanziger Jahre. Er war gerade auf einer Konferenz in Acapulco, ist jetzt in San Diego und nächste Woche in Madrid. Nicht allein übrigens, sondern in Begleitung einer gut aussehenden Kolumbianerin, die Chancen hat, einmal seinen Bonner Lehrstuhl zu übernehmen.“

Antonia sah ihn erstaunt an. „Und das geht einfach so? Andere Menschen können solche Reisen doch nur im Urlaub machen!“

Alexander erklärte ihr, dass Losers Wort in der Uni ein ziemliches Gewicht habe, weil er hohe Summen an Forschungsgeldern einhole, so viel, dass keiner ihm in die Parade zu fahren wage.

Antonia bekam große Augen. „Und wie kann das sein, dass seine Assistentin seine Stelle kriegt?“

Alexander lehnte sich zufrieden zurück. Offenbar genoss er die Insider-Rolle, die er Antonia gegenüber spielen konnte. Dann beugte er sich nach vorne, wobei er Antonias T-Shirt-Ausschnitt musterte: „Mein Onkel, der über dreißig Jahre auf einer Akademischen Ratsstelle gehockt hat, sagte mir neulich, dass es früher nicht besser war. Zu seiner Zeit herrschten die Professoren noch völlig uneingeschränkt, legten Studentinnen flach und wenn sie besonders hübsch waren, kamen sie auch leichter an einen Doktortitel. Das ist heute nicht mehr politisch korrekt, da muss man schon eine Stelle bieten!“

Carmen drehte sich trotz Paulas missbilligendem Blick in aller Ruhe eine Zigarette und grinste. „So ein Prof wie unser Chef wechselt nicht nur gerne die urbanen, sondern auch die vaginalen Umwelten. Ich steh ja mehr auf Frauen, deshalb kellnere ich immer noch!“, sagte sie mit ihrer angenehm rauen Stimme. „Jedenfalls hat es bei mir noch keiner versucht!“

Dann ging sie auf den Balkon, um sich ihre Selbstgedrehte anzuzünden. Jorge rief ihr etwas auf Spanisch nach. Alle am Tisch lachten. Antonia hatte nichts verstanden und sah Paula fragend an.

„Jorge meint, das wäre dem, der es versucht hätte, auch schlecht bekommen! Carmen kann sehr rabiat werden. Sie macht Kampfsport!“

Bald kristallisierte sich aus den Berichten über die Institutsfeier, an deren Abend der Mord an Kahlschlag passiert war, folgendes heraus: Markus Maria Loser war zu seiner Verabschiedung braungebrannt und strahlend eingeflogen und hatte allen Anwesenden das Gefühl gegeben, sie seien arme Tröpfe, weil sie ihr Leben an einer deutschen Uni unter grauem Himmel fristeten. Zwei Tage später hatte er sich nach Mexiko verabschiedet. Seine Dienstzeit würde am 30. September enden. Dann, so ging das Gerücht, würde er wieder nach Kalifornien gehen, wo er weiter lehren wollte.

„Und weiß man schon etwas Genaues über seine Nachfolge?“

Antonia erinnerte sich, dass ihr Freund Florian lange im Zweifel war, ob er die Orgelprofessur in Köln bekommen würde. Paula wischte sich einen Schnurrbart aus Tomatensauce vom Mund. „Tscha, das kann dauern. Möglicherweise will man die Professur auch streichen und wartet erst mal ab. Vertretungen sind für die Uni günstiger, weil sie weniger kosten.“

„Und Lewald? Hat der eine Chance?“

Alexander nahm einen Schluck Wein, bevor er antwortete. „Lewald ist, obwohl nicht mehr der Jüngste, ein noch unbekannter Stern am Himmel der Wissenschaft. Ich habe jedenfalls noch keine Veröffentlichung von ihm gefunden. Er hat bisher in Córdoba als Lektor gearbeitet. Aber er ist promoviert und Losers Protegé. Er macht nur noch dieses Semester, dann zieht er wieder ab nach Córdoba.“

Paula starrte düster in ihr Rotweinglas. „Und dann wird Loser wohl seine Mitarbeiterin, die Kolumbianerin vorschlagen!“ Sie klang verärgert. „Eine recht elegante Art, die Frauen zu wechseln, denn man munkelt, dass er in Madrid schon wieder eine Neue hat. Wir hier können uns dann mit Concepción herumschlagen. Dabei wäre Alexander hundert Mal besser für die Stelle geeignet!“

Alexander sah geschmeichelt zu ihr hinüber und prostete ihr zu.

Carmen kam aus ihrer Raucherpause vom Balkon zurück. „Alexander hat eben nicht die langen Beine von Concepción!“ An Antonia gewandt fügte sie hinzu: „Eine tolle Braut! Sie hat tatsächlich den sprechenden Namen Concepción, er nennt sie aber Conchita und vermutlich verhütet sie!“

Alexander leerte sein Glas und hielt es Jorge zum Nachfüllen hin. Während er weitersprach fixierte er Antonia. „Mein Onkel, der mit der Akademischen Ratsstelle, pflegte zu sagen, dass man früher als Mann eine Professur auf drei Arten bekam: 20 % per vaginam, indem man die Tochter des Vorgängers heiratete, 75 % per anum, also durch Arschkriecherei – diese Regel hat sich bis heute gehalten, bei uns sitzen auch die meisten weit oben im Arsch des Chefs – und nur 5 % per aspera, das sind die, die sich Mühe machen. So ist es im Großen und Ganzen geblieben, nur dass per vaginam jetzt aktiv eingesetzt wird!“

Paula widersprach. „Du mit deinen Macho-Reden. Nein, so ist es nicht. Das bezog sich auf Männer, Alexander! Eine Zeit, in der nur Männer eine Professur bekamen. Für Frauen stimmt das nicht. Mal abgesehen davon, dass heute immer noch nur knapp 20 % der Stellen mit Frauen besetzt sind, haben sich die wenigsten hochgeschlafen.“

Alexander protestierte. „Hallo? Und was ist mit Concepción?“ Jorge und Nabil lachten beifällig.

Antonia legte die verbrannten Ränder ihres Pizzastücks an den Tellerrand und fragte in die Runde: „Und Loser selbst ist im Fall Kahlschlag nicht verdächtig?“

Paula schüttelte den Kopf. „Wo denkst du hin? Er war die ganze Zeit da und ist nach der Feier sofort mit dem Taxi nach Hause gefahren, zusammen mit seinen ausländischen Gästen, die bei ihm übernachtet haben. Sowohl der Taxifahrer als auch seine Gäste haben das bestätigen können.“

„Wo hast du das denn wieder her?“, fragte Alexander erstaunt. „Hab ich von Lewald und der hat es von Loser. Als Chef des Instituts hat die Polizei mit Loser zuerst gesprochen. Und außerdem: Was hätte Loser denn davon? Er hat alles, was man sich als Akademiker wünschen kann! Was hätte er davon, einen uralten pensionierten Exkollegen umzubringen?“

Antonia sah zu Nabil hinüber. Der junge Marokkaner beteiligte sich wenig am Gespräch und sah ein wenig traurig aus. „Aber Nabil wird verdächtigt? Wieso um Himmels willen sollte ein Student aus Marokko einen uralten Mann ermorden, mit dem er nie etwas zu tun hatte?“

„Wegen der Kohle!“, sagte Nabil niedergeschlagen.

„Wie?“

Paula klärte sie auf. „Es gibt inzwischen wilde Gerüchte, dass der geschiedene Ehemann von Concepción, auch Kolumbianer, Loser im Auftrag habe umbringen lassen, aus Eifersucht, und der ermordete Altdekan sei nur einer Verwechslung zum Opfer gefallen. Also in Wirklichkeit ging es um Loser, nicht um Kahlschlag!“

Antonia sah verwirrt in die Runde. Diese Information brachte ihr ganzes Bild durcheinander.

„Wer kommt denn auf so eine Idee?“

„Lewald!“, prustete Carmen, die sich ein Stück Pizzarand von Antonias Teller genommen hatte und darauf herumkaute. „Lewald ist die Nachrichtenbörse des Instituts, nur noch getoppt von Frau Schwade, unserer Sekretärin. Erzähl denen etwas Vertrauliches und du kannst sicher sein, morgen weiß es jeder. Lewald plappert den ganzen Tag irgendeinen Unsinn und das mit dem eifersüchtigen Ehemann hat er der Polizei und jedem, der es hören wollte, aufgetischt. Der Mann ist so eine Flasche, keine cojones, aber andere denunzieren!“

Paula nickte. „Alexander hätte die Vertretung viel besser gemacht. Aber Loser musste unbedingt diesen Lewald holen. Die Studenten meckern schon. Im letzten Semester habe er fast nur Filme gezeigt und kaum Unterricht gehalten. Jetzt müssen wir ihn auch noch im Sommersemester ertragen.“

„Ich brauche unbedingt ein Konzept für eine Doktorarbeit“, meinte Antonia. „Ich habe keine Ahnung von spanischer Literatur. Aber dann hätte ich Gelegenheit, Lewald noch einmal aufzusuchen. Wenn er eine Nachrichtenbörse ist, kann er mir bestimmt weiterhelfen!“

Paulas Gesicht hellte sich auf. „Dann würdest du uns helfen?“ Antonia antwortete nicht sofort. Sie sah in ihr leeres Glas, als ob sie dort die Antwort fände. Dann nach einigem Zögern sagte sie leise: „Ich werde versuchen, etwas herauszubekommen. Aber versprechen kann ich nichts. Ich habe Urlaub, und Florian hat mir nach dem zweiten Fall in Rügen verboten, mich auf etwas einzulassen, für das ich keinen Auftrag habe. Er hat sogar damit gedroht, nicht mit mir zusammenzuziehen, wenn ich noch einmal ‚wild‘ ermittele. Es sei zu gefährlich. Also kein Wort zu Florian, versprochen?“

Alle nickten. Alexander goss ihr nach und machte ihr Glas randvoll. Antonia wusste nicht genau, wie viel sie schon getrunken hatte. Alexander rückte noch etwas näher an sie heran, wobei seine Augen erneut ihren Ausschnitt und ihren Hals streiften. „Du solltest unbedingt am Freitag auf die Institutsfete zur Semester-Eröffnung kommen, da lernst du die ganze Truppe kennen. Und bei dem Konzept für Lewald helfe ich dir gern. Komm doch morgen Nachmittag in die Uni, dann denken wir uns zusammen etwas aus! Für Lewald wird es schon reichen!“