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Inge Lempke

Aszendent Holzlar

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 1

Bonn-Holzlar

Freitag, 4. Dezember

17.05 Uhr

Die letzte Kundin war gegangen, und Anna fühlte sich körperlich und emotional erschöpft. Sie schaltete das Licht in ihrem Beratungszimmer aus und ging in die Küche mit den neuen hellen Holzmöbeln.

Hunger hatte sie keinen, und sie überlegte nur kurz, ob es nicht noch zu früh war für ein Gläschen Rotwein. Nein, eigentlich nicht. Sie nahm ein Glas aus dem alten Schrank, den sie von der Oma geerbt hatte, holte den Rotwein aus dem Kühlschrank, ging damit in den Flur und lauschte.

Von links, aus Sandras Beratungszimmer, waren kaum verständliche Stimmen zu hören. Sandra hatte also noch Kundschaft.

Anna stieg die knarrende Holztreppe hoch und betrat ihr Zimmer. Es war relativ groß, in der hinteren Ecke stand ihr Bett, in der Dachgaube hatte sie sich ihren Arbeitsbereich eingerichtet … doch nicht einmal dieser Anblick erfreute sie heute.

Sie stellte Glas und Flasche auf dem Tisch ab und schaute ein paar Minuten aus dem Fenster mit den weißen Sprossen, das zum seitlichen Teil des Gartens heraus gelegen war. Sie blickte auf drei kahle Bäume mit weiß beschneiten Ästen, beschienen von einer Straßenlaterne. Auch ein Stück der Straße war von hier aus einzusehen. Ein paar Autos waren unterwegs, aber in gemäßigtem Tempo, denn es schneite immer noch heftig. Ein idyllisches Bild alles in allem, denn Schnee in Bonn war so selten wie hitzefrei in der Arktis.

Aber Anna freute sich auch darüber nicht, denn ihr lag so einiges schwer auf der Seele. Laut seufzte sie auf, goss Wein in ihr Glas und blieb noch ein Weilchen am Fenster stehen, bis sie merkte, wie kalt ihre Hände waren. Schnell drehte sie die drei Heizkörper unter den Fenstern ein wenig höher, was Sandra gar nicht gern sah. Aber die hatte gut reden, hatte sie doch mindestens dreimal so viel Speck auf den Rippen wie Anna.

Anna ging hinüber in ihre Couchecke, stellte Glas und Flasche auf dem Couchtisch ab, schaltete die Stehlampe ein und holte aus einer Kommode ihr Tagebuch und einen Stift. Sie goss Rotwein nach, setzte sich und blätterte, bevor sie etwas Neues schrieb, in ihrem Tagebuch zurück.

Und da war er: Dienstag, der 7. Januar, der Tag, an dem alles angefangen, an dem die Katastrophe ihren Lauf genommen hatte:

An diesem Tag hatte sie einen Termin in Ruppichteroth, um halb neun Uhr morgens. Sie hasste diese frühen Termine, sie berechnete ihren Kunden mehr für derartige Zumutungen, und ihre Kunden zahlten. Also brach sie kurz vor acht auf und fuhr durchs verschneite Bröltal, in der Hoffnung, dass um die Uhrzeit sämtliche Straßen geräumt waren.

Nach etwa 20 Minuten bog sie auf Anweisung ihres Navis nach rechts ab, auf eine Art Umgehungsstraße, die nicht ganz so kurvig und befahren war wie die ursprüngliche Straße. Inzwischen war es relativ hell geworden. Der Wald reichte auf beiden Seiten bis an die Straße heran, Ortschaften gab es hier so gut wie keine. Schneefall beeinträchtigte die Sicht, und Anna fuhr dementsprechend langsam. Nach einer Weile wich der Wald weißen Feldern in einer hügeligen Landschaft.

Plötzlich, als sie kurz nach rechts schaute, bemerkte sie etwas Ungewöhnliches: Auf einem Feld gleich unterhalb eines Hügels lag ein umgestürzter Traktor auf der Seite, und sie fragte sich, was ein Traktor bei dem Wetter da draußen zu suchen hatte. Sie fuhr weiter, und ein Bild blitzte kurz, aber deutlich in ihrem Gehirn auf – ein Mensch lag unter dem Traktor und wartete auf Hilfe.

Das erschreckte Anna derart, dass sie am Seitenstreifen anhielt, sich umdrehte und mit Blicken nach dem Traktor suchte … in einiger Entfernung glaubte sie ihn noch erkennen zu können. Unsinn, sagte sie sich, der ist doch völlig eingeschneit, wer weiß, wie lange das Ding da schon liegt, das muss doch längst jemand gemeldet haben, was redest du dir denn für Zeug ein!

Anna schüttelte den Kopf, fuhr wieder auf die Straße, die sie immer noch für sich allein hatte, und sah auf die Uhr. Jetzt musste sie sich aber ein bisschen beeilen.

Kurz nach halb neun kam sie endlich in Ruppichteroth an, doch bis dahin hatte sie mindestens noch zehnmal an den umgekippten Traktor gedacht. An der Hauptdurchfahrtsstraße durch den Ort gab es ein neues Einkaufszentrum, weiter im Ortskern viele schöne alte Fachwerkhäuser und eine Reihe verwinkelter Straßen und Gässchen.

Ihre Kundin, eine Frau Schürer, wohnte allerdings in einem zweistöckigen Neubau am Hang, mit Blick auf den Ort, auf Wald und Felder. Anna musste sofort an den Traktor denken, als sie im Wohnzimmer der Frau stand und aus dem breiten, anscheinend frisch geputzten Fenster schaute.

Frau Schürer, Mitte 40, gut genährt, kurzes, grau werdendes Haar, hatte Croissants gekauft und Kaffee gemacht. Sie setzten sich zusammen an den Esstisch, und Anna holte den Laptop aus der Tasche, in den sie erst einmal Frau Schürers genaues Geburtsdatum in ihr Astrologie-Programm eingab, denn sie war Erstkundin.

Es stellte sich heraus, dass sie eine Krebs-Frau mit Krebs-Aszendent war, was durchaus erklären konnte, warum sie von allerlei Sorgen und Ängsten geplagt wurde … zum Beispiel der, dass ihr Haus in den nächsten Jahren den Abhang hinunterrutschen könnte.

Anna beruhigte sie, legte ihr die Karten und bemühte ihr reichhaltiges psychologisches Halbwissen, um der Schürer die schlimmsten Ängste zu nehmen. Das klappte auch, zumindest für diesen Morgen. Anna wusste, dass die Wirkung ihrer Gespräche im besten Fall ein paar Tage bis zu zwei Wochen anhielt, dann benötigten die Kunden eine Auffrischung. Gut fürs Geschäft.

Frau Schürer war dankbar, ja geradezu begeistert von Annas Persönlichkeitsanalyse und ihren Ratschlägen, bezahlte mit Freude die 180,- Euro und versicherte, sie werde Anna unter allen ihren Freundinnen und Bekannten weiterempfehlen.

Anna verabschiedete sich herzlich, setzte sich in ihr Auto und fuhr weiter nach Waldbröl, wo noch eine Kundin wartete. Nach dieser Lebens- und Krisenberatung – wie Anna es nannte – hatte sie einen Riesenhunger und fuhr über Eitorf zurück nach Bonn. Erstens, weil es auf dem Weg einen guten und preiswerten Imbissstand gab, und zweitens, weil sie nicht wieder an dem umgestürzten Traktor vorbeikommen wollte. Trotzdem: Auf dem Rückweg hatte sie immer wieder das Bild eines eingeklemmten Menschen vor Augen.

Darauf ein paar Schlucke Rotwein. Anna legte den Kopf an die Rücklehne des Sofas und schloss die Augen. Warum hatte sie nicht einfach die Polizei angerufen und Bescheid gesagt? Das hätte doch keine Minute gedauert. Sie hatte es nicht getan. Großer Fehler.

Allmählich wurde es Anna wärmer. Ob es an der Heizung lag oder am Alkohol, war ihr egal. Sie öffnete die Augen und las weiter.

Im März, als der Winter ging, und der Frühling das Leben vordergründig wieder lebenswerter machte, entschloss sich das Universum, eine höhere Macht oder was auch immer, zuzuschlagen und Anna zu bestrafen.

Am 7. März erlitt ihr Vater, der bis dahin kerngesund gewirkt hatte, einen schweren Schlaganfall. Im Krankenhaus kam ein zweiter hinzu, an dem ihr Vater mit 71 Jahren verstarb.

Anna war untröstlich, hatte aber schon damals ein merkwürdiges Gefühl bei der Sache, das sie allerdings noch nicht einordnen konnte. Denn seit Wochen hatte sie nicht mehr an den Traktorunfall gedacht. So gut es ging, kümmerte sie sich um ihre Mutter, die nun allein in dem kleinen Haus am Hardtberg wohnen musste.

Ende April wurde das Wetter schön und heiß, sehr heiß, und am 29. starb ihre Mutter völlig überraschend an einem Herzinfarkt, als sie in der Mittagshitze im Garten arbeitete.

Anna war entsetzt, und keine fünf Minuten, nachdem sie die Nachricht erhalten hatte, offenbarte sich ihr wie ein Faustschlag ins Gesicht die schreckliche Wahrheit: Der Tod ihrer Eltern war die Rache des Menschen, dem sie nicht geholfen hatte, den sie unter dem Traktor elendiglich hatte verrecken lassen!

In den nächsten Wochen versuchte sie, ihre Theorie zu beweisen und stürzte sich wie besessen in Nachforschungen darüber, ob dieser Unfall tatsächlich so stattgefunden hatte. Im Internet fand sie nichts, auch nicht in den Meldungen der lokalen Zeitungen, die man im Internet einsehen konnte. Sie hatte sich sogar vorgenommen, in die um den Unfallort gelegenen Dörfer zu fahren, um dort die Bauern persönlich zu befragen, aber irgendwie kam immer etwas dazwischen.

Der Mai war nämlich der reinste Katastrophenmonat: Eine ihrer Kundinnen, eine noch junge Frau, verstarb; kurz darauf eine ältere; dann der Enkel einer Kundin; und dann noch weitere ältere Frauen, die sie kannte. Fast alle starben völlig unerwartet und viele unter den kuriosesten Umständen. Die eine wurde zu Hause beraubt und erschlagen, die nächste lief vor die Straßenbahn, eine weitere erlag einer Salmonellen-Infektion und wieder eine andere wurde sogar vom Blitz getroffen.

Anna war überzeugt davon, dass sie die Ursache für die Todesfälle war. Sie konnte kaum noch schlafen. Da sie mit jemandem reden musste, vertraute sie sich Sandra an, die allerdings nicht so verständnisvoll wie erwartet auf Annas Enthüllungen reagierte.

„Du versuchst nur gerade irgendwie mit dem Tod deiner Eltern fertig zu werden“, diagnostizierte Sandra und empfahl Anna, vielleicht doch lieber einen Psychologen aufzusuchen, anstatt zu versuchen, sich mit Kartenlegen und anderen esoterischen Maßnahmen selbst zu kurieren. Das gefiel Anna anfangs gar nicht, hielt sie sich doch für kompetent genug, für ihr Problem selbst eine Lösung zu finden.

Es dauerte eine Weile, aber dann tauchte eines Nachts, als sie sich schlaflos hin- und herwälzte, die Antwort auf: Sie war nicht bestraft, sondern verflucht worden! Über jeden, den sie berührte, kam Unheil, kam der Tod!

Den Rest der Nacht ging sie in Gedanken jeden Menschen durch, dem sie in den letzten zwei bis drei Monaten begegnet war: Wem hatte sie die Hand gegeben, wen umarmt, wen sonstwie angefasst? War ihre Berührung tödlich? Erstaunlich viele Betreffende waren tatsächlich verstorben – oder zumindest ein naher Angehöriger.

Allerdings hatten auch viele Kunden, denen sie die Hand gegeben hatte, überlebt. Woran das lag, konnte sie sich noch nicht erklären.

Sie war erschüttert und blieb noch lange im Bett liegen, fühlte sich schwer wie ein Stein und wusste nicht, wie sie mit einem solchen Fluch weiterleben sollte.

Anna machte eine Pause und legte die Kladde geöffnet auf den Tisch. Ein Schluck Rotwein, dann musste sie ins Bad. Sie stand auf und merkte bei der Gelegenheit, dass ihr der Wein schon in die Beine gefahren war. Kaum war sie aus dem Bad zurück und hatte sich wieder hingesetzt, als es an der Tür klopfte.

Sandra steckte den Kopf ins Zimmer und informierte sie: „Abendessen ist fertig. Kommst du runter?“ Sie lächelte lieb wie immer, aber plötzlich hörte sie auf, als ihr Blick auf den Tisch fiel. „Rotwein? Wir haben gerade mal sieben Uhr.“

Anna erhob sich. „Genau, aber mir geht’s nicht so gut. Vielleicht sollte ich jetzt wirklich was essen.“

Sie folgte Sandra, die schwerfällig die Treppe hinunterstieg, als täten ihr die Knie weh. Sie trug einen ihrer langen Röcke, eine ihrer weiten Blusen und darüber eine selbst gestrickte moosgrüne Weste. Sie wirkte ein bisschen unförmig, und sie war auch nicht so lieb und nett, wie die meisten ihrer Kunden glaubten.

Der Tisch in der Küche war üppig gedeckt: Ein Teller mit verschiedenen Wurstsorten und einer mit mehreren Käsesorten, dazu Marmelade, Butter und frische Brötchen, die Sandra anscheinend gerade erst gekauft hatte.

Sie aßen zu Abend und redeten nicht viel. Anna nahm ein Brötchen, Sandra gönnte sich drei. Anna war immer schon ein wenig neidisch gewesen auf Sandras dickes, langes Haar, das stets in perfekten Wellen fiel, und auf ihre dunklen Augen, die so warm lächeln konnten, aber um ihre runde Figur beneidete sie Sandra gar nicht, sie –

„Du hast es aber ganz schön warm da oben“, nörgelte Sandra auf einmal. „Zieh dir doch einfach eine Jacke mehr an, wenn dir zu kalt ist.“

Anna schaute auf. Sandra hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und die Hände mit den vielen Goldringen verschränkt. Ihr Blick war vorwurfsvoll.

Anna reichte es. Sie trank noch einen Schluck heißen Tee und schaute Sandra angriffslustig in die Augen. „Weißt du, wie wir auch noch sparen könnten? Wenn du nicht so viel Geld fürs Essen ausgeben würdest. Wir müssen uns doch nicht mästen.“

Sandra fiel fast das Doppelkinn herunter … aber es dauerte nur Sekunden, bis sie eine Antwort parat hatte. „Also, das musst du gerade sagen – du bist doch schuld, dass die Geschäfte immer schlechter laufen!“

Gegen dieses Totschlag-Argument hatte Anna natürlich keine Chance. Sie sprang auf, verließ die Küche, ging nach oben in ihr Zimmer und schloss sogar die Tür ab. Jetzt erst einmal ein Glas Rotwein. Alles war so unendlich traurig – was war nur aus ihrer Freundschaft geworden? Der Fluch zerstörte einfach alles.

Zur Ablenkung von all dem Elend schaltete sie den Fernseher ein und guckte sich irgendeine dumme Show an. Ihr ziemlich benebeltes Hirn hätte vermutlich nicht einmal mehr einer simplen Spielfilmhandlung folgen können. Und es dauerte auch nicht lange, da schlief sie auf der Couch ein.

Samstag, 5. Dezember

Am nächsten Morgen schlief Anna länger als üblich und wachte gegen neun Uhr mit leichten Kopfschmerzen auf dem Sofa auf. Der Fernseher lief noch.

Sie ging ins Bad und dann in die Küche, wo eine Thermoskanne mit Tee und ein Zettel auf sie warteten: Wollte dich nicht wecken und bin schon mal einkaufen gegangen.

Sehr rücksichtsvoll. Anna aß eine Scheibe Rosinenstollen mit Butter, trank eine Tasse grünen Tee und fühlte sich etwas besser. Sie holte sich den Staubsauger und einen feuchten Lappen und machte ihren Praxisraum sauber. Sie sortierte noch ein paar Unterlagen und räumte oben ihr eigenes Zimmer auf.

Am Vorabend hatte sie tatsächlich die ganze Flasche Rotwein geschafft. So ging das nicht weiter: Im Sommer hatte sie schon einmal vor demselben Problem gestanden, und damals –

„Anna?“, rief es von unten. „Ich bin wieder da. Hilfst du mir beim Mittagessen?“

Da sie schon Hunger verspürte, half sie Sandra beim Kartoffelschälen und beim Rosenkohlputzen. Die Unterhaltung verlief oberflächlich.

Erst nach dem Essen meinte Sandra sehr vorsichtig: „Kann ich irgendwas dafür tun, damit es dir besser geht?“

Aber Anna sperrte sich. Sie hatte die bissigen Bemerkungen vom Vorabend nicht vergessen.

„Wieso auf einmal?“, fragte sie leicht unterkühlt.

„Wir wohnen nun mal zusammen, und wenn es dir schlecht geht, fühle ich mich auch nicht gut.“

Na, was für ein edles Motiv. Anna antwortete erst gar nicht.

Sandra setzte trotzdem ein Lächeln auf (so, als sei Anna eine Kundin) und faltete die Hände auf dem Tisch. „Ich dachte mir, bevor du nachher wieder allein in deinem Zimmer dem Alkohol verfällst, gehen wir doch lieber zum Weihnachtsmarkt in der alten Mühle, da gibt’s wieder die leckere Bratwurst.“

Gerade wollte Anna ihr an den Kopf werfen, dass sie aber auch nur ans Essen denke, da fiel ihr ein, dass man dort ganz harmlos und ungezwungen ein oder zwei Bierchen zur Bratwurst konsumieren konnte. Also erwiderte sie: „Ja, gute Idee. Aber ich brauche jetzt erst mal eine Pause. Lass uns doch so gegen fünf gehen, wenn’s dunkel ist. Dann ist es schön romantisch … mit dem Schnee und den Lichtern und so.“

Sandra war einverstanden, und Anna legte sich in ihrem Zimmer auf die Couch und döste ein Weilchen vor sich hin. Irgendwann stand sie auf und setzte sich mit ihrem Tagebuch an den Tisch in der Gaube. Sie blätterte vor bis zum Sommer, wo sie schon einmal ein Alkoholproblem gehabt hatte … sie hatte das Gefühl gehabt, sich selbst nicht mehr zu kennen, ja, sie wurde sich selbst regelrecht unheimlich. Und da war klar, dass sie vielleicht doch besser professionelle Hilfe suchen sollte.

Glücklicherweise hatte Psychologe Diekmeyer in Beuel Anfang August gerade einen Platz freigehabt, und so hatte sie Termine mit ihm ausgemacht und ihm von ihrem Problem erzählt. Beim vierten Termin erfuhr er dann auch von ihrem „Fluch“.

Sie erinnerte sich noch recht genau an seinen Gesichtsausdruck: eine sehenswerte Mischung aus Erstaunen und Entsetzen. Immerhin verstand er nun, warum sie ihm nicht die Hand geben wollte. Sein erster Kommentar war: „Frau Hillersheim, daran müssen wir aber arbeiten!“

Während der nächsten Wochen kam es immer wieder zu Diskussionen, denn Diekmeyer gab alles, um Anna davon zu überzeugen, dass der Fluch gar nicht existierte, sondern nur ihr Versuch war, mit diffusen Schuldgefühlen umzugehen.

Im Oktober schließlich hatte er sie so weit, dass sie ihm zur Begrüßung die Hand reichte. Sie schaute ihm dabei in die blauen Augen und erwartete fast, so etwas wie ein Zeichen zu sehen, irgendein Zeichen dafür, dass der Fluch nun auch auf ihn übergegangen war. Aber er lächelte nur warm und hielt, normal wie immer, seine Sitzung mit ihr ab.

Trotzdem fasste Anna auch weiterhin ihre Kunden nicht an und erklärte freimütig, das habe mit einem seltsamen Fluch zu tun, der über sie gekommen sei. Sandra fand das geschäftsschädigend und legte ihr nahe, sie solle sagen, sie habe die Grippe oder ein Ekzem oder Gicht in den Fingern. Oder sie gebe aus religiösen oder zwangsneurotischen Gründen niemandem die Hand. Anna hatte das abgelehnt.

Sie schaute aus dem Fenster, es wurde immer dunkler, zumal es wieder angefangen hatte zu schneien. Eigentlich hatte sie gar keine Lust, auf den Weihnachtsmarkt zu gehen, aber sie wusste, dass Sandra nicht lockerlassen würde.

Sie stand auf, ging zu ihrem Kleiderschrank und überlegte, was sie anziehen sollte.

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Um Viertel vor fünf trat Sandra hinter Anna aus dem Haus und schloss die schöne alte Haustür ab. Sie liebte diese Tür und überhaupt das ganze Fachwerkhaus. Sie eilte Anna hinterher, die ihren dick wattierten dunkelgrünen Mantel trug, den Mantel mit der Innentasche fürs Portemonnaie, weil sie keine Handtasche mitschleppen wollte, wegen der Taschendiebe. Strickmütze und Handschuhe hatten die gleiche Farbe wie der Mantel.

„Nun warte doch auf mich“, rief sie und machte nur kleine Schritte, weil sie Angst hatte, auf dem frisch gefallenen Schnee auszurutschen.

Anna blieb stehen und drehte sich um. Besonders begeistert sah sie nicht aus. Von ihrem blonden Kräuselhaar schaute nur noch der Pony unter der Mütze hervor. „Ich würde dich ja festhalten, aber wie du weißt, geht das nicht“, sprach sie und ging langsam weiter.

Na klar, der Fluch. Sandra ärgerte sich ein bisschen: Was für ein schönes Leben hätten sie führen können, wenn Anna nicht mit diesem Fluch-Blödsinn angefangen hätte!

Vorsichtig bewegte sie sich weiter vorwärts. Es war still in der Straße, nur ein Auto rollte im Schritttempo leise an ihnen vorbei. Es dämmerte, es war windstill und irgendwie friedlich. Nach rund fünfzehn Minuten kamen sie an der Hauptstraße an, etwa in Höhe des Mühlenwegs, der weihnachtlich beleuchtet war. Dort begann der Markt.

Es waren immer noch viele Menschen unterwegs, wahrscheinlich wollte man sich nach dem Nachmittagskaffee ein bisschen die Füße vertreten. Am Anfang des Mühlenwegs, gleich rechts, gab es die wunderbaren Bratwürstchen, es duftete herrlich, und Sandra konnte einfach nicht daran vorbeigehen.

„Möchtest du auch eine?“, fragte sie Anna, die den Kopf schüttelte.

„Nein, ich hab noch keinen Hunger. Ich hole mir auf dem Rückweg eine.“

Da der Mühlenweg eine Sackgasse war, musste man zweimal an den Bratwürsten vorbei. Wie praktisch, Sandra würde mit Sicherheit auch noch eine zweite verdrücken.

Während sie sich an dem Stand anstellte, sagte Anna: „Ich geh schon mal weiter, wir treffen uns in der Mühle“, und schon war sie in der Menge verschwunden.

Ein paar Minuten später spazierte auch Sandra Bratwurst kauend Richtung Mühle. Die Straße war auf beiden Seiten gesäumt von Häusern, vor denen verschiedene Stände aufgebaut waren, mit Handarbeiten, Selbstgewerkeltem oder Waffeln. Am Ende weitete sich die Straße zu einem kleinen Platz, an dem links die Mühle lag.

Bis dorthin konnte man allerdings im Moment nicht vordringen, da auf dem Plätzchen gerade ein Kinderchor ein paar Weihnachtslieder zum Besten gab, umringt von einer dichten Menge. Also blieb Sandra am Rand eines Zelts, in dem verschiedene Getränke angeboten wurden, stehen und aß in Ruhe ihre Bratwurst auf. Ein paar Meter weiter stand ein Weihnachtsmann mit weißem Bart und einem Sack voller kleiner Geschenke, die er anscheinend an die Mitwirkenden des Weihnachtsmarkts verteilte. Begleitet wurde er von zwei als Engel verkleideten Kindern, die eher erschöpft als fröhlich guckten.

Als der Chor zu Ende gesungen hatte, löste sich die Menge auf und Sandra bog in den schmalen, unbefestigten Weg zur Mühle ein, erklomm ein paar Stufen und betrat den vorderen Innenraum. Alte Holzbalken, niedrige Decke, antike Gerätschaften, viele Menschen.

An den Wänden hingen Sensen und andere Werkzeuge, davor reihten sich weitere Stände auf, rechts ein Tisch mit selbst gemachtem Schmuck, links ein Tisch mit selbst gemalten Bildern von Frau Knauth, die Anna allerdings nicht gesehen hatte. Geradeaus, unter dem Treppchen nach oben ins Dachgeschoss, gab es einen Tisch mit Kriminalromanen aus Bonn. Die meist älteren Damen an den Verkaufsständen waren richtig warm angezogen, denn hier in der Mühle war es genauso kalt wie draußen.

Während sich Sandra zum hinteren Raum durchkämpfte, hielt sie Ausschau nach Anna. Noch war nichts von ihr zu entdecken. Bisher war sie ungefähr fünf ihrer Kundinnen begegnet. Im zweiten Zimmer wurden selbstgemalte Bilder und Postkarten sowie Keramik angeboten, von Frau Muser und Frau Hofbauer, die jedes Jahr auf dem Markt ihre Sachen verkauften. Trotz des Gedränges unterhielt sich Sandra mit ihnen, fragte, ob ihnen wohl Anna begegnet sei, und ja, sie sei vor etwa einer Viertelstunde hier gewesen, habe sich aber nicht lange aufgehalten.

Sandra schaute sich noch ein bisschen um, kaufte ein Buch, das sie sich von der Autorin signieren ließ und verließ die überfüllte Mühle. Dann warf sie einen Blick hinter das alte Gemäuer, wo ein paar Leute standen, die das hölzerne Mühlrad bestaunten.

Aber auch hier gab es keine Spur von Anna. Wo steckte sie nur? Vielleicht genehmigte sie sich im Getränkezelt, wo man auch sitzen konnte, ein Bierchen oder ein Glas Rotwein. Sandra begab sich wieder auf die andere Seite der Mühle und suchte mit Blicken den Bereich im Zelt ab. Keine Anna.

War sie vielleicht auf der Toilette? Sandra stellte sich so, dass sie den Toiletteneingang sehen konnte und wartete fünf Minuten. Dann kam ihr der Gedanke, dass Anna sich möglicherweise so schlecht gefühlt hatte, dass sie schon nach Hause gegangen war. Plötzlich hatte Sandra keine Lust mehr, stundenlang hier herumzulaufen, nur um Anna ausfindig zu machen.

Sie schlenderte Richtung Ausgang, kaufte sich noch eine Bratwurst und trat den Heimweg an. Als sie auf ihr Fachwerkhaus zuging, sah sie sofort, dass nirgendwo Licht brannte. Anna war also auch nicht hier – es sei denn, sie saß im Dunkeln.

Nun gut, die Frau war erwachsen, vielleicht war sie auf die Idee gekommen, in die Stadt zu fahren und ins Kino zu gehen, vielleicht war sie ihrem Traummann begegnet und verbrachte mit ihm einen aufregenden Abend, das hatte Sandra doch alles nicht zu interessieren. Sie ging ins Haus und gleich durch in die Küche, wo sie sich Tee kochte. Damit stieg sie nach oben, klopfte an Annas Zimmertür, und begab sich, als niemand antwortete, in ihr eigenes Zimmer.

Am nächsten Tag, es war Sonntag, der 6. Dezember, tauchte Anna immer noch nicht auf. Sandra guckte sogar in Annas Zimmer, nachdem sie mehrmals geklopft hatte, und musste feststellen, dass ihr Bett unbenutzt war. Zu allem Überfluss bemerkte sie Annas Handy auf ihrem Schreibtisch. Wie um Himmelswillen sollte sie die Frau denn jetzt erreichen?

Nun begann sich Sandra doch Sorgen zu machen. Sie schaute in Annas Planetenkonstellation für den gestrigen Tag nach und entdeckte einen sehr unkonkreten Gefahrenhinweis, und als sie die Karten für Anna legte, zeigte sich auch hier eine Bedrohung.

Sandra wusste beim besten Willen nicht, was sie tun sollte. Also rief sie eine gute Freundin an, die ihr nach zweistündigem Telefonat riet, bis zum nächsten Tag abzuwarten und dann zur Polizei zu gehen.

Kapitel 2

Bonn-Holzlar

Montag, 7. Dezember

8.10 Uhr

Heidrun, noch im Morgenmantel, öffnete die Terrassentür und trat in ihren dicken, blauen Plüschpantoffeln auf die verschneiten Fliesen. Es knirschte der Schnee, eine Amsel saß schon im nächsten Baum bereit, und Heidrun gab reichlich Futter ins Vogelhaus.

Sie gähnte und schaute einmal kurz durch den Garten. Da es seit gestern Morgen nicht mehr geschneit hatte und es möglicherweise ein bisschen wärmer geworden war, tropfte der Schnee von den Bäumen und ließ überall auf dem noch weißen Rasen dunkle Flecken entstehen.

Heidrun sah genauer hin … Lag nicht auf einem dieser Flecken etwas Rotes? Was war das?

Rasch schaute sie zu ihren Nachbarn hinüber, rechts, links, aber die meisten Rollläden waren noch unten, also husch, husch, in Pantoffeln, die schnell die Nässe in sich aufsaugten, auf die Wiese, hin zu dem roten Etwas. Heidrun bückte sich und hob es auf. Es war ein Portemonnaie, ein Damen-Portemonnaie aus rotem Leder, und das fand sie nun doch mehr als seltsam. Sie wohnte nicht weit vom Weihnachtsmarkt entfernt, und manche Leute warfen gerne ihren Müll über den Zaun in den Garten … aber ein Portemonnaie?

Heidrun schaute auf und sah sich um, als stünde die Übeltäterin noch am Zaun und verlangte die Herausgabe ihres Eigentums. Stattdessen fiel Heidrun etwas anderes ins Auge: Im Teich im hinteren Teil des Gartens schwamm auch etwas, das dort nicht hingehörte. Etwas Großes, Schwarzes. Das sah so unheimlich aus, dass Heidrun sich nicht traute, näher an den Teich heranzugehen.

Abgesehen davon waren ihre Pantoffeln schon pitschnass. Patschenden Schrittes eilte sie zurück zur Terrassentür, wo sie die Pantoffeln auszog, die Tür abschloss und dann barfuß in den Flur lief, um in andere Schuhe zu schlüpfen. In der Küche begann sie das Frühstück zu machen, und während der Kaffee durchlief, suchte sie im Portemonnaie herum.

Unter anderem fand sie einen 20-Euro-Schein, einen Führerschein und einen Personalausweis, beides auf den Namen „Anna Lisa Hillersheim“ ausgestellt. Der Name sagte ihr vage etwas, und als sie die Adresse las, wusste sie, warum: Anna Lisa Hillersheim war eine der größten Spinnerinnen von Holzlar, und Heidrun konnte beim besten Willen nicht verstehen, wieso sich überhaupt jemand aus dem Ort von den beiden „Damen“ beraten ließ und auch noch Geld dafür bezahlte!

Als die Kaffeekanne auf dem Tisch stand, rief Heidrun an der Treppe nach Wolfram, der anscheinend gerade im Bad war. Fertig angezogen kam er schließlich nach unten in die Küche und ließ sich wie immer von vorne bis hinten bedienen. Heidrun erzählte ihm von ihrem Fund, und Wolfram verkündete nach dem Frühstück, er werde sich jetzt mal das Ding im Teich angucken, und wehe, wenn die verrückte Hillersheim da irgendwelchen Abfall entsorgt hatte!

Er stieg in seine Gummistiefel, stülpte einen alten Hut auf seine weißen Haare und stakste mit seinem krummen Rücken über die Wiese zum Teich hinüber. Heidrun beobachtete ihn durchs Wohnzimmerfenster.

Als Wolfram den Teich erreichte, blieb er stehen, beugte sich vor, holte dann einen Ast von der Wiese und stocherte ein bisschen im Wasser herum. Plötzlich ließ er den Stock fallen, und kam mit großen Schritten und merkwürdigem Gesichtsausdruck zurück zum Haus. Er zog nicht einmal die Gummistiefel aus, als er das Wohnzimmer betrat.

„Was ist denn los?“, fragte Heidrun besorgt.

Wolfram griff zum Telefon. „Du siehst dir das jetzt nicht an!“

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Bonn, Polizeipräsidium

8.25 Uhr

Andreas saß am Schreibtisch und las sich durch eine Akte, als das Telefon klingelte. Er nahm ab.

„Morgen, Andreas, hier unten bei mir steht eine Frau, die das Verschwinden einer Person melden möchte. Übernehmt ihr das? Ihr habt doch gerade nichts zu tun.“

Andreas verdrehte die Augen. „Natürlich. Wir langweilen uns zu Tode und spielen ‚Schiffe versenken‘.“

„Dachte ich mir doch“, meinte der Kollege. „Ich schick sie rauf.“

Zwei Minuten später klopfte es an der Tür, und herein trat eine füllige Frau Anfang 40 im schwarzen Wollmantel, mit dunklem langem Haar und dunklen Augen.

„Guten Morgen, ich bin Alexandra Schulz, und ich möchte –“

Andreas fiel ihr ins Wort. „Guten Morgen, ich bin Kommissar Andreas Montenar. Jetzt setzen Sie sich erst mal hin, beruhigen sich und trinken ein Tässchen Kaffee mit uns, okay?“

Andreas schaute auffordernd zu Sascha hinüber, der möglicherweise tatsächlich irgendein Killerspiel an seinem PC gespielt hatte. Sascha bemerkte den Blick und stand auf. Währenddessen meinte die Frau, die sich in ihrem schwarzen Mantel auf einem Stuhl niedergelassen hatte: „Haben Sie auch Tee?“

„Nein, tut mir leid.“

„Gut, dann nehme ich ausnahmsweise einen Kaffee.“

Sascha holte sich und der Frau eine Tasse Kaffee, setzte sich neben sie vor Andreas’ Schreibtisch und stellte sich vor. „Ich bin Kommissar Sascha Piel. Trinken Sie einen Schluck und erzählen Sie uns in aller Ruhe, was passiert ist.“

Frau Schulz gehorchte und berichtete, dass ihre Freundin Anna Hillersheim bei einem Besuch des Weihnachtsmarkts in Holzlar am Samstag verschwunden und noch nicht wieder aufgetaucht sei.

„Ist sie berufstätig?“, fragte Andreas.

Frau Schulz senkte kurz den Blick, schaute dann aber beinahe trotzig auf. „Ja. Wir beide führen eine Praxis für Lebenshilfe und -beratung.“

„Was versteht man denn darunter?“, wollte Sascha wissen, der sich Stichpunkte notiert hatte.

„Nun, wir informieren unsere Kunden über ihre astrologischen Konstellationen und legen auch Karten.“

„Aha“, meinte Sascha und verkniff sich einen Kommentar, was Andreas wunderte, denn er kannte die Einstellung seines Kollegen zur Astrologie und zur Esoterik im Allgemeinen.

Andreas ließ sich gerade sämtliche Personalien der beiden Freundinnen geben, als erneut sein Telefon klingelte. Er nahm ab.

„Morgen, Andreas, Zentrale hier. Uns wurde eine Leiche im Teich gemeldet. Macht ihr das? Ihr habt doch gerade nichts zu tun.“

„Stimmt, wir spielen Schiffe versenken, hat sich wohl schon rumgesprochen. Wo ist der Fundort?“

„In Holzlar.“

„Identität schon klar?“

„Es wurde ein Personalausweis auf den Namen ‚Anna Lisa Hillersheim‘ gefunden.“

„Scheiße.“

„Gern geschehen. Dann macht euch mal auf die Socken.“

Andreas ließ sich die genaue Adresse geben, legte auf und suchte einen Moment lang nach den passenden Worten.

„Frau Schulz, es tut mir leid … aber es könnte sein, dass Ihrer Freundin etwas Schlimmes zugestoßen ist – in Holzlar wurde eine Leiche gefunden. Wir fahren jetzt dorthin und sehen uns das an.“

Das hübsche Gesicht der Frau war noch blasser geworden. Sie stand auf und rief: „Bitte, kann ich mit Ihnen kommen? Es dauert ewig, bis ich mit dem Bus wieder zu Hause bin – und mir geht es gar nicht gut.“

Sascha nickte. „Ich sage unseren Kollegen Bescheid, die nehmen Sie mit.“ Er packte die Frau am Arm und schob sie sanft, aber bestimmt zur Tür hinaus.

Andreas telefonierte mit der Kriminaltechnik und gab alle wesentlichen ihm bekannten Informationen durch. Zehn Minuten später saßen sie im Wagen, Sascha am Steuer, hinter ihnen ein Streifenwagen mit Alexandra Schulz auf dem Rücksitz. Sascha fuhr unter der Autobahnbrücke hindurch die Oberkasseler Straße hoch bis nach Holtorf und wollte dann einfach quer durch weiße, verschneite Felder und Wälder nach Holzlar fahren, aber er bekam einen Anruf von Frau Schulz aus dem Wagen hinter ihnen, dass sie dort nicht durchkommen würden, und so mussten sie den Umweg über die Straße zwischen Hoholz und Roleber nehmen.

Dort meinte Sascha: „Hier wohnte doch Petra – die Killerin aus den eigenen Reihen.“

„Stimmt.“

„Sollten wir nicht langsam mal einen Ersatz für sie bekommen?“

„Wahrscheinlich ist wieder mal kein Geld da“, antwortete Andreas, die Karte in den Händen. „Wir müssen jetzt hier links abbiegen.“

Das brachte sie auf die Hauptstraße von Holzlar. Der Stadtteil von Bonn, der rechtsrheinisch an der nordöstlichen Stadtgrenze lag, schien doch nicht so dörflich, wie Andreas sich das vorgestellt hatte. Es gab moderne und teuer aussehende Einfamilien- und recht viele ansehnliche Mehrfamilienhäuser. Auch Geschäfte wie Apotheke und Bäckerei waren vorhanden, hier und da ein Fachwerkhaus ebenso wie ältere Bauten.

Die schmale Nebenstraße, in der das Ehepaar Drache wohnte, das den Fund gemeldet hatte, war schnell gefunden. Sandra Schulz wurde unterdessen vom Streifenwagen zu ihrem eigenen Haus gebracht. Draches Domizil war ein kleines, zartgelb gestrichenes Einfamilienhaus aus den 60ern. Der Vorgarten lag noch unter Schnee, die Türklingel, die Sascha betätigte, war aus Messing.

Ein großer, schwerer, weißhaariger Mann um die 70 öffnete ihnen. Er wirkte nicht etwa verstört, sondern verärgert. Kaum hatten sich Sascha und Andreas vorgestellt, als er auch schon seinen Gefühlen freien Lauf ließ.

„Jetzt werfen die nicht nur Müll, sondern auch noch Leichen in unseren Teich“, zeterte er und bat Sascha und Andreas herein.

„Wer ist ‚die‘?“, fragte Andreas.

„Die Vandalen vom Weihnachtsmarkt.“

„Ich habe auf der Herfahrt gar nichts von einem Weihnachtsmarkt gesehen.“

„Ach so, ja, der dauert hier Gott sei dank nur einen Tag, der ist nur am zweiten Adventssamstag. Wir haben hier nicht so einen Luxus-Weihnachtsmarkt wie in der Innenstadt.“

„Aha, dürfen wir uns jetzt mal den Fundort ansehen?“

Kurz darauf standen sie am Teich, der vielleicht drei bis vier Meter im Durchmesser maß und rundum von Steinen und winterhartem Grünzeug umgeben war. Mittendrin dümpelte ein schwarz verbrannter Körper mit menschlichen Formen. Man konnte nicht einmal genau sagen, ob er auf dem Rücken oder auf dem Bauch schwamm. Keine Haare mehr, kein Gesicht, nur hier und da etwas, das wie Überreste von Kleidung wirkte.

Andreas schaute auf. In Draches Garten standen jede Menge Bäume, der Schnee schmolz jetzt schneller, so dass Renate sicher keine Fußabdrücke mehr finden würde. Kaum hatte er an sie gedacht, da kam sie auch schon mit Peer und Walter durch die Terrassentür in den Garten spaziert.

Peer, in roter, dicker Steppjacke und schwarzen Lederstiefeln, eilte mit seinem Köfferchen auf sie zu. „Morgen zusammen. Was haben wir denn hier? Ach, die Leiche wurde verbrannt?“ Er klang enttäuscht. „Dann wird’s schwierig.“

„Stimmt“, pflichtete Renate ihm bei und drückte Andreas ein Küsschen auf die Backe. Sie hielt gar nichts von Heimlichtuerei. Andreas waren öffentliche Zärtlichkeiten eher peinlich.

„Und dann schmilzt auch noch ausgerechnet heute der blöde Schnee“, beschwerte sie sich und fing sofort an, den Boden rund um den Teich abzusuchen.

Walter, im olivgrünen Parka, forschte an den Gartengrenzen nach, auf der Suche nach der Stelle, an der die Leiche über einen der Zäune auf Draches Grundstück gehievt worden war.

„Okay, dann tobt euch mal schön aus“, meinte Andreas. „Herr Drache, gehen wir doch wieder ins Haus, da können wir uns weiter unterhalten.“

Frau Drache machte ihrem Mann, Sascha und Andreas sogar frischen Kaffee, zeigte ihnen dann das rote Portemonnaie, das sie auf der Wiese gefunden hatte, und wirkte immer noch sehr aufgeregt über die ganze Situation.

„Frau Drache, wir wissen, dass Frau Hillersheim anscheinend am späten Samstagnachmittag verschwunden ist … Sie können uns aber nicht sagen, seit wann die Leiche in Ihrem Teich liegt?“

„Nein, Herr Kommissar.“ Ihr Blick wanderte unentwegt durch den Raum. „Gestern war doch Nikolaus, und da sind wir ganz früh nach Prüm gefahren, zu unserer Tochter und unseren Enkeln. Ich hab sogar vergessen, die Vögel zu füttern. Wir waren erst spät am Abend wieder hier … Keine Ahnung, ob die Leiche gestern schon in unserem Teich lag.“

Herr Drache nickte und trank Kaffee.

Sascha hatte mitgeschrieben und fragte: „Kannten Sie Frau Hillersheim persönlich?“

Sie warf ihrem Mann einen schnellen Blick zu. „Nur vom Sehen. Aber natürlich haben wir einiges über sie gehört … Für viele im Ort war sie eine Spinnerin, aber manche waren auch ganz begeistert und sagten, sie hätte ihnen geholfen.“ Plötzlich lachte sie verlegen auf. „Mein Mann hielt sie für eine Hexe, die auf den Scheiterhaufen gehört.“

Alle schauten sofort zu Herrn Drache, dessen Gesicht prompt rot anlief. „Heidrun, bist du übergeschnappt? Wie kannst du sowas sagen?“

Alle Köpfe drehten sich zurück zu Frau Drache, die ganz erschrocken guckte.

„Aber so hab ich … also das hab ich doch nicht so gemeint“, stammelte sie. „Ich meine … du hast das nicht so gemeint.“

Sascha ging auf diese Plänkelei nicht ein. „Wir werden die Leiche gleich abtransportieren, und dann können Sie auch schon wieder in Ihren Garten. Vorher unterhalten wir uns noch mit Ihren Nachbarn, vielleicht hat einer von denen was mitgekriegt.“

Sie verabschiedeten sich und klingelten beim Nachbarn links von den Draches. Erst einmal tat sich gar nichts, und Andreas dachte schon, niemand sei zu Hause, aber dann öffnete sich doch die Tür, und ein sehr alter Mann mit Glupschaugen, ausgeprägten Tränensäcken und fast keinen Haaren krächzte: „Ja, bitte?“

„Wir sind Montenar und Piel von der Bonner –“

„Nein, danke, ich brauche keine Versicherung.“

Es dauerte ca. zehn Minuten, bis sie dem Mann den Grund ihres Besuchs erklärt hatten. Aber der alte Mann sah schlecht und konnte sehr gut schlecht hören und hatte in der Nacht von Samstag auf Sonntag natürlich nichts mitbekommen von Mördern und Ermordeten.

Und so klingelte Sascha kurz darauf an der Haustür der anderen Nachbarn. Die Tür flog sofort auf, und ein Jugendlicher stand da, im schwarzen Outfit, mit einer dieser neumodischen Frisuren: Das Haar an den Seiten kurzgeschoren, dafür thronte oben eine dunkle Matte, anscheinend schwer mit Gel versorgt.

„Was gibt’s?“, brummte er schlecht gelaunt.

„Wir sind Montenar und Piel von der Kripo Bonn. Sind deine Eltern da?“

Der Junge wandte sich um und rief: „Mama, die Bullen!“

Eine Frau im roten Mantel kam zur Tür gelaufen. „Können Sie sich ausweisen? Was ist denn jetzt schon wieder los? Leon, was hast du angestellt? Hören Sie, wir sind in Eile, ich wollte gerade meinen Sohn zur Schule fahren, er hat den Bus verpasst, und ich will nicht, dass er schwänzt. Und –“

„Entschuldigen Sie“, fiel Andreas ihr ins Wort. „Auf welche Schule geht Ihr Sohn?“

„Auf die Gesamtschule in Beuel.“

„Das trifft sich gut, dann sind Sie ja schnell zurück. Es geht übrigens nicht um Ihren Sohn. Wir reden jetzt mit ein paar anderen Leuten und kommen gleich noch mal bei Ihnen vorbei.“

Die Frau nickte, schnappte sich Tasche und Sohn und eilte zu ihrem Auto. Bevor Sascha und Andreas Alexandra Schulz besuchten, schauten sie noch kurz im Garten der Draches vorbei.

Andreas wandte sich an Renate: „Und, schon was gefunden?“

Renate, die einen weißen Overall über die dicke Winterjacke gezogen hatte, sah ziemlich pummelig aus. Andreas hatte sowieso den Verdacht, dass sie wieder zugenommen hatte in letzter Zeit.

Sie schüttelte den Kopf. „Nee, nichts. Weder Fußabdrücke noch sonst was. Auch am Zaun um das Grundstück ist nichts hängen geblieben.“

Andreas schaute sich um. „Aber das ist doch Maschendrahtzaun, der muss doch irgendwo eingedrückt sein. Vielleicht kann man aus der Art der Eindellung irgendwas schließen.“

Renate guckte beleidigt. „Hallo? Geht’s noch? Wir sind doch hier nicht bei ‚CSI Bonn-Holzlar‘! Vielleicht hat Peer mehr Glück.“

„Okay, bis später.“ Andreas studierte seinen Stadtplan, fand die Straße mit der astrologischen Praxis und entschied, dass man bequem zu Fuß dorthin gelangen konnte. Sie machten sich auf, stapften durch Schneematsch, überquerten kaum befahrene Seitenstraßen und standen schließlich vor einem schön renovierten Fachwerkhaus mit kleinem Vorgarten, der hauptsächlich mit weißem Kies ausgelegt war.

„Hübsch“, meinte Andreas, der durchaus einen Hang zu alten Dingen hatte.

„Na ja, was meinst du, was du in so einem Gemäuer alles ständig reparieren musst“, unkte Sascha und klingelte.

Frau Schulz war an der Tür wie der Blitz. Sie hatte rote Augen, als hätte sie länger geweint, aber jetzt ließ sie ein trauriges Lächeln sehen. „Hallo, da sind Sie ja. Handelt es sich bei der Leiche um Anna?“

„Das können wir leider noch nicht mit letzter Gewissheit sagen“, formulierte Andreas vorsichtig. „Können wir uns irgendwo in Ruhe unterhalten?“

„Natürlich.“

Alexandra Schulz führte sie in ein Zimmer, das vom Flur gleich rechts abging. Die Wände waren lindgrün gestrichen, an den Fenstern hingen Vorhänge in Dunkellindgrün. Ein großer Tisch aus heller Kiefer stand frei im Raum, umgeben von mehreren Stühlen, an einer Wand ein rotes Sofa, große Grünpflanzen an den zwei Fenstern, zwei gut bestückte Bücherregale, mehrere runde Tischchen mit Kerzen in Messingleuchtern, mit kleinen Pyramiden, Drachen und ähnlich esoterischer Dekoration.

„Setzen Sie sich doch.“ Frau Schulz wies auf die Stühle an dem Tisch in der Mitte, auf dem ein Laptop lag. „Möchten Sie vielleicht einen grünen Tee?“

Andreas setzte sich. „Nein, danke.“

„Haben Sie Kaffee?“ Sascha schien auch keinen grünen Tee zu mögen.

„Ja, dauert aber ein paar Minuten.“ Sie verließ das Zimmer, und man hörte, wie sie über knarrende Dielen weiter hinten im Haus verschwand.

Andreas erhob sich wieder und sah sich die Buchtitel in den Regalen an: fast alles nur „Fachliteratur“ über westliche und östliche Astrologie, über Tarotkarten, Selbstheilung und sogar Feng-Shui.

Hinter ihm fragte Sascha: „Meinst du, der Mord an der Hillersheim hat mit ihrer Arbeit zu tun?“

„Na, wenn schon unser guter Herr Drache sie am liebsten als Hexe verbrannt hätte, dann gibt’s vielleicht noch mehr Leute mit solchen Ambitionen.“

„Ist Drache nicht zu alt für einen Mörder?“

Andreas wandte sich um. „Meinst du das ernst? Also, ich schließe niemanden wegen seines Alters aus. Hast du noch nicht mitbekommen, dass nicht nur wir, sondern auch die Täter immer älter werden?“

„Doch, hab ich. Die Gefängnisse werden ja bereits altersgerecht umgebaut.“

Andreas setzte sich an den Tisch. „Ja, super Sache. Wer sich kein Altenheim leisten kann, muss nur mal eben jemanden umbringen, und schon bekommt er einen Platz in einer netten Gefängnis-WG.“

Sascha lachte. „Stimmt.“

Wieder Schritte auf knarrenden Dielen. Frau Schulz kam zurück und balancierte ein Tablett mit zwei Tassen ins Zimmer. Sie stellte es auf dem Schreibtisch ab, reichte Sascha seinen Kaffee, nahm sich ihren grünen Tee und ließ sich auf ihren Stuhl fallen, als sei sie ziemlich fertig. Sie sah unglücklich aus.

„In Annas Ausweis ist doch ein recht gutes Foto – wieso haben Sie sie noch nicht identifiziert … oder muss ich das machen?“

„Nein, das können selbst Sie nicht, Frau Schulz, weil –“

„Nennen Sie mich doch bitte Sandra. Oh Gott, hat der Täter sie verunstaltet?“

„Nicht direkt. Er hat sie verbrannt.“

In ihren dunklen Augen schimmerten schon wieder Tränen. „Was? Er hat sie ermordet und dann verbrannt?“

Hoffentlich in dieser Reihenfolge, dachte Andreas und antwortete: „Ja, leider. Vielleicht können Sie uns einen Kamm oder eine Zahnbürste von ihr mitgeben für einen DNA-Abgleich. Können Sie sich vorstellen, wer Ihrer Freundin so was angetan haben könnte?“

Sie nippte an ihrem Tee und überlegte. „Na ja, wir waren hier im Ort nicht bei allen Leuten beliebt, aber dass jemand so extrem reagiert, glaube ich eigentlich nicht.“

„Könnte es eine ihrer Patienten gewesen sein?“, schlug Sascha vor.

„Wir nennen sie ‚Kunden‘“, klärte Sandra ihn auf. „Sie nehmen doch sicher Annas Laptop mit – da ist eine Liste drauf. Sie sollten sich allerdings auf die Kunden von diesem Jahr konzentrieren … wegen dem Fluch.“

Sascha hob fragend die Augenbrauen. „Was für ein Fluch?“

Sandra erzählte ihnen alles, was sie darüber wusste, von der Fahrt nach Ruppichteroth, von dem umgekippten Traktor und von Annas Überzeugung, sie sei schuld an all den Todesfällen, die sich in so massiver Häufung in diesem Jahr ereignet hatten.

Andreas hörte ungläubig zu, Sascha hatte einen leicht spöttischen Zug um den Mund.

Sandra fügte hinzu: „Ich gebe Ihnen gern ihr Tagebuch mit, da steht alles drin. Sie war übrigens im Herbst bei einem Psychologen in Behandlung, fragen Sie den doch mal, vielleicht weiß er mehr als ich.“

„Das ist ja starker Tobak, das mit dem Fluch“, kommentierte Sascha. „Haben Sie auch daran geglaubt?“

Sandra schaute auf ihre Tasse. „Ich weiß nicht … eigentlich nicht. Aber das mit den Todesfällen, das ist schon merkwürdig, oder?“

Andreas mischte sich ein: „Danke, Sandra, das alles hilft uns vielleicht weiter. Können wir uns Frau Hillersheims Räume ansehen, in denen sie arbeitete und wohnte?“

„Natürlich.“

Die Frau führte sie zuerst in das Zimmer, das auf der anderen Flurseite lag. Es war ähnlich eingerichtet wie ihr eigenes, die Wände in leuchtendem Gelb gestrichen, die Vorhänge ebenfalls gelb. Anna Hillersheims Wohnbereich lag eine Etage höher: Dachschräge mit Gaube, Couchecke, Schlafecke, ein Tisch, auf dem der Laptop sowie ein Handy lagen. Aus einer Kommode holte Sandra das Tagebuch.

„Sie haben also Ihre Freundin am frühen Samstagabend gegen 17.30 Uhr das letzte Mal auf dem Weihnachtsmarkt gesehen?“, hakte Andreas nach. „Wissen Sie zufällig, wer den Markt ausrichtet?“

„Ich meine, das wäre der Holzlarer Mühlenverein. Den finden Sie sicher bei Google.“

„Vielleicht hat einer der Standbetreiber noch was gesehen. Darf ich Sie um Kamm oder Zahnbürste von Frau Hillersheim bitten? Und um den Namen des Psychologen?“

Eine Viertelstunde später standen Sascha und Andreas wieder vor der Tür der Nachbarn der Draches. Hoffentlich war die Frau, die ihren Sohn zur Schule gebracht hatte, schon zurück. Tatsächlich öffnete sie die Tür, guckte aber nicht sehr freundlich. Sie trug einen dicken, roten Pullover und einen sehr kurzen schwarzen Rock, der einen Blick auf ihre ansehnlichen Beine erlaubte.

„Wie schön, dass Sie schon da sind, Frau –“

„Marburg, heiße ich, Odette Marburg“, teilte die Frau ihnen mit. „Kommen Sie rein.“

Sie schritt in ihren fast kniehohen schwarzen Stiefeln vor ihnen her in die Küche, die ein wenig unordentlich aussah.

„Ich hab noch nicht aufgeräumt“, erklärte sie, setzte sich an den Küchentisch und schlug ihre schönen Beine übereinander. Ihr Aufzug hätte billig wirken können, aber da sie so gut wie nicht geschminkt war und überhaupt keinen Schmuck trug, sah sie aus wie eine Frau, die nur ein bisschen auf sich aufmerksam machen will. Ihr langes, blondes Haar hing zum Zopf geflochten über ihren Rücken.

Die Einrichtung der Küche wirkte alt, aber nicht ungepflegt. Sascha setzte sich mit Notizblock und Stift zu ihr an den Tisch.

„Seltener Name, Odette“, fing er an.

„Ja“, meinte sie knapp. „Um was geht es denn eigentlich?“