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INHALTSVERZEICHNIS

Ankunft in Marseille

Vater und Sohn

Die Katalonier

Das Komplott

Die Verlobungsfeier

Der Stellvertreter des Staatsanwalts

Das Verhör

Das Kastell If

Der Verlobungsabend

Beim König

Vater und Sohn

Die hundert Tage

Ein wütender und ein verrückter Gefangener

Nummer vierunddreißig und siebenundzwanzig

Der italienische Gelehrte

Freundschaft im Kerker

Die Geschichte des Schatzes

Der dritte Anfall

Der Friedhof des Kastells If

Die Insel Tiboulen

Die Schmuggler

Die Insel Monte Christo

Der Schatz

Die unbekannte Persönlichkeit

Das Wirtshaus „Pont du Gard“

Caderousse erzählt

Die Gefängnisakten

Das Haus Morrel & Sohn

Der fünfte September

Sindbad der Seefahrer

Das Erwachen

Römische Banditen

Erscheinungen

Die Hinrichtung

Der römische Karneval

Die Katakomben von San Sebastiano

Die Verabredung

Albert und seine Freunde in Erwartung des Grafen

Das Frühstück

Die Vorstellung

Herr Bertuccio

Das Haus in Auteuil

Bertuccios Erzählung: Die Vendetta

Bertuccios weitere Erzählung: Der Blutregen

Der Blutregen

Bertuccios weitere Erzählung: Benedettos Untat

Der unbeschränkte Kredit

Das Apfelschimmelgespann

Ein Wortgefecht

Haydée

Die Familie Morrel

Ein Gespräch durch Gitter

Gift

In der Oper

Spekulationen

Der Major Cavalcanti

„Vater und Sohn“

Noch ein Rendezvous am Gartengitter

Herr Noirtier von Villefort

Das Testament

Der Graf von Monte Christo interessiert sich für Valentines Heiratsabsichten

Ein Mittel, einen Gärtner von den Siebenschläfern zu befreien, die seine Pfirsiche vertilgen

Bertuccio sieht Gespenster

Die Vergangenheit erwacht

Der erpresserische Bettler

Eine eheliche Szene

Heiratspläne

Im Dienstzimmer des Staatsanwaltes

Einladung zum Sommerball

Auskünfte

Der Ball

Salz und Brot

Frau von Saint-Méran

Valentines Versprechen

Ein finsteres Geheimnis im Hause Villefort

Kann Noirtier helfen?

Begräbnis und Heiratsvorbereitung an einem Tage

Das alte Protokoll

Die Fortschritte des jungen Cavalcanti

Haydée

Scheiternde Eheprojekte

„Man schreibt uns aus Janina“

Die Limonade

Der Verdacht

Im Zimmer des ehemaligen Bäckermeisters

Der Einbruch

Die Hand Gottes

Beauchamp als Freund

Das Urteil

Wer war der Verräter?

Die Beleidigung

Ein nächtlicher Besuch

Das Rencontre

Mutter und Sohn

Das Ende des Grafen Morcerf

Es geht um Valentine

Ein Ehekontrakt bleibt ohne die Unterschrift des Bräutigams

Der Weg nach Belgien

Die Baronin Danglars und Villefort

Die Erscheinung

Die Giftmörderin

Valentine

Ein Racheschwur

Danglars stellt Schecks aus

Maximilian

Eine Abrechnung über Millionen und eine Planung mit Tausenden

Der Richter

Im Gerichtssaal

Sühne

Abschiede

Die Vergangenheit

Die Gefangennahme

Luigi Vampas Speisekarte

Die Verzeihung

Der fünfte Oktober

PERSONEN

Edmond Dantes, Offizier auf dem Dreimaster „Pharao“
Louis Dantes, sein Vater

Morrel, Kaufmann und Reeder in Marseille, Eigentümer des
„Pharao“

Julie, seine Tochter
Maximilian, sein Sohn
Emanuel Raymond Herbault, Angestellter bei Morrel
Coclès, Angestellter bei Morrel
Penelon, Seemann auf dem „Pharao“

Danglars, Rechnungsführer auf dem „Pharao“
Hermine geb. von Servières, seine Frau
Eugenie, Tochter der Vorigen
Louise d'Armilly, ihre Freundin

Gaspar Caderousse, Schneider in Marseille
Magdalene geb. Radell, seine Frau, genannt die Carconte
Mercedes, eine schöne Katalonierin in Marseille
Fernand, ihr Vetter, später Graf von Morcerf
Albert von Morcerf, sein Sohn

Gérard von Villefort, Staatsanwaltschaftsbeamter in
Marseille
Noirtier (von Villefort), sein Vater
Renée von Saint-Méran, Villeforts erste Frau
Marquis und Marquise von Saint-Méran, ihre Eltern
Valentine, Tochter aus Villeforts erster Ehe
Heloise, Villeforts zweite Frau
Eduard, Sohn aus Villeforts zweiter Ehe

Abbé Faria, ein gelehrter Italiener

Jacopo, Matrose auf einem Schmugglerschiff

Freunde Albert von Morcerfs:

Franz von Quesnel, Baron von Epinay
Lucien Debray, Sekretär des Innenministers
Beauchamp, Journalist
Baron von Château-Renaud

Luigi Vampa, ein italienischer Banditenhauptmann

Ali, ein nubischer Sklave
Bertuccio, Intendant des Grafen von Monte Christo
Benedetto, sein Pflegesohn
Major Marquis Bartolomeo Cavalcanti

Haydée, eine schöne Griechin

Gräfin G.

ANKUNFT IN MARSEILLE

Am vierundzwanzigsten Februar 1815 signalisierte der Ausguck auf dem Turm von Notre Dame in Marseille die Ankunft des Dreimasters „Pharao“, der von Smyrna, Triest und Neapel kam. Wie stets, so hatte sich auch heute eine Menge Neugieriger am Hafen eingefunden, denn die Ankunft eines Schiffes ist immer ein großes Ereignis in Marseille, zumal wenn es, wie der „Pharao“, einem der Reeder der Stadt gehört.

Langsam und wie zögernd näherte sich das Schiff dem Hafen, so daß die Wartenden sich unwillkürlich fragten, ob ein Unfall es getroffen habe. Gelenkt wurde es mit sicheren festen Bewegungen von einem noch jungen Mann.

Die vage Unruhe, welche die harrende Menge ergriffen hatte, merkte man besonders einem Mann an, der die Einfahrt des Schiffes in den Hafen nicht erwarten konnte. Er sprang in ein Boot und befahl, dem „Pharao“ entgegenzurudern. Als der Führer des Schiffes das Boot kommen sah, verließ er seinen Posten neben dem Lotsen und beugte sich, den Hut in der Hand, über die Brüstung des Schiffes. Er war ein Mann von achtzehn bis zwanzig Jahren, groß, schlank, mit schwarzen Augen und schwarzem Haar. Seine Haltung zeigte Ruhe und Entschlossenheit, wie sie Menschen eigentümlich sind, die seit ihrer Kindheit mit Gefahren zu kämpfen haben.

„Ah, Sie sind es, Dantes!“ rief der Mann in dem Boot aus. „Ist etwas Besonderes geschehen?“

„Ein großes Unglück, Herr Morrel“, antwortete der junge Mann, „ein großes Unglück besonders für mich. Auf der Höhe von Civitavecchia haben wir unseren braven Kapitän Leclère verloren.“

„Und die Ladung?“ fragte lebhaft der Reeder.

„Ist in Sicherheit, Herr Morrel, und ich glaube, Sie werden in dieser Hinsicht zufrieden sein; aber der arme Kapitän ...“

„Was ist ihm denn passiert?“ fragte der Reeder mit sichtlich erleichterter Miene. „Was ist dem braven Kapitän geschehen?“ — „Er ist tot, er ist unter furchtbaren Qualen einer Gehirnentzündung erlegen.“

„Und wie ist es zu diesem Unglück gekommen?“

„Mein Gott, ganz unvermutet. Nach einer langen Unterredung mit dem Hafenkommandanten verließ der Kapitän in sehr aufgeregtem Zustand Neapel. Vierundzwanzig Stunden darauf wurde er vom Fieber erfaßt, und nach drei Tagen war er tot. Mit den üblichen Feierlichkeiten haben wir ihn bestattet; er ruht eingehüllt in einer Hängematte, eine Kugel an den Füßen und eine am Kopf, auf der Höhe der Insel el Gialio. Darum also“, fuhr der junge Mann mit melancholischem Lächeln fort, „mußte er zehn Jahre lang gegen die Engländer kämpfen, um schließlich nicht einmal in seinem Bett sterben zu können!“

„Gewiß, aber wir sind alle sterblich, und die Alten müssen den Jungen Platz machen; sonst gäbe es auch keine Beförderungen, Herr Edmond, und seit Sie mir versichert, daß die Ladung ...“ „Sie ist in gutem Stande, Herr Morrel, dafür stehe ich Ihnen. Das ist eine Ladung, die ich nicht unter 25000 Franken Gewinn aus der Hand geben würde.“ Dann, als man um den Leuchtturm herumsegelte, gab er das Kommando zum Segeleinholen. Der Befehl wurde mit derselben Genauigkeit ausgeführt wie auf einem Kriegsschiff, und der „Pharao“ glitt fast unmerklich weiter.

„Wenn Sie nun heraufkommen wollen, Herr Morrel“, sagte Dantes; „hier kommt Ihr Rechnungsführer, er wird Ihnen jede Auskunft erteilen. Ich muß für die Ankerung sorgen und auf halbmast hissen lassen.“

Der Reeder ergriff das ihm zugeworfene Tau und schwang sich mit großer Gewandtheit an Bord, wo ihm Danglars, der Rechnungsführer entgegenkam, ein Mann von fünfundzwanzig bis sechsundzwanzig Jahren, mit düsterem Gesichtsausdruck, unterwürfig gegen seine Vorgesetzten und barsch gegen seine Untergebenen. Das waren Eigenschaften, die ihn bei der Mannschaft ebenso verhaßt machten, wie Edmond Dantes bei ihr beliebt war. „Nun, Herr Morrel“, sagte Danglars, „Sie wissen bereits von dem Unglück, nicht wahr?“

„Jaja, der arme Leclère! Ein rechtschaffener Mann!“ — „Und besonders ein vortrefflicher Seemann, zwischen Himmel und Wasser alt geworden, wie es sich für einen Mann gehört, der die Interessen eines so bedeutenden Hauses wie Morrel & Sohn zu wahren hat“, antwortete Danglars.

„Aber mir scheint“, sagte der Reeder und folgte mit den Augen dem eifrigen Dantes, „auch unser Freund Edmond versteht sein Handwerk.“

„Ja“, meinte Danglars, „ja freilich er ist jung und fürchtet nichts. Kaum war der Kapitän tot, so übernahm er das Kommando, ohne jemanden zu fragen, und ließ uns anderthalb Tage auf der Insel Elba verbringen, statt sofort nach Marseille zurückzukehren.“

„Was die Übernahme des Kommandos betrifft“, versetzte der Reeder, „so war das seine Pflicht als Erster Offizier; daß er anderthalb Tage auf der Insel Elba zubrachte, war unrecht, außer wenn das Schiff eine Reparatur nötig gehabt hat.“

„Das Schiff befand sich so wohl, wie ich mich befinde, und die anderthalb verlorenen Tage dienten nur dem Vergnügen, an Land zu gehen.“

„Dantes“, rief der Reeder, „kommen Sie doch mal her!“ — „Verzeihung“, erwiderte Dantes, „bin sogleich zu Ihrer Verfügung.“ Dann gab er das Kommando zum Ankern. Sogleich fiel der Anker, und geräuschvoll rasselte die Kette nach. Dantes blieb trotz der Anwesenheit des Lotsen auf seinem Posten, bis auch das letzte Manöver beendet war, dann befahl er, die Flagge auf halbmast zu setzen.

„Sie sehen“, sagte Danglars, „er hält sich schon für einen Kapitän.“

„Und er ist es auch", erwiderte der Schiffseigentümer.

„Ja, durch Ihre Unterschrift und die Ihres Kompagnons, Herr Morrel.“

„Der Tausend auch, warum sollen wir ihn nicht auf diesem Posten lassen! Ich weiß, daß er jung ist, aber er scheint mir ganz der Richtige und bereits sehr erfahren zu sein.“

„Verzeihung, Herr Morrel“, sagte Dantes hinzutretend, „jetzt, da das Schiff verankert ist, stehe ich zu Ihrer Verfügung.“ Danglars trat einen Schritt zurück.

„Ich wollte Sie nur fragen, warum Sie an der Insel Elba angelegt haben?“

„Es geschah auf einen letzten Befehl des Kapitäns Leclère, der mir sterbend ein Paket für den Oberhofmarschall Bertrand übergab.“

„Sie haben ihn also gesehen, Edmond?“

„Wen?“

„Den Oberhofmarschall.“

„Ja.“

Morrel blickte um sich und zog Dantes beiseite. „Und wie geht's dem Kaiser?“

„Gut, soviel ich mit meinen Augen wahrnehmen konnte.“ „Sie haben ihn also selbst gesehen und gesprochen?“

„Das heißt, er hat mit mir gesprochen, Herr Morrel", entgegnete Dantes lächelnd, „er stellte Fragen über das Schiff, über die Zeit der Abfahrt nach Marseille und über seine Ladung. Ich glaube, wenn ich der Besitzer und das Schiff leer gewesen wäre, so würde er es haben kaufen wollen; aber ich erklärte ihm, daß das Fahrzeug dem Hause Morrel & Sohn gehöre und ich nur der Steuermann sei. Die Morrels sind ein altes Reedergeschlecht, hat der Kaiser gesagt, ein Morrel stand mit mir in einem Regiment in Valencia.“

„Ist das wahr?“ rief der Reeder freudig überrascht. „Das war Policar Morrel, mein Onkel! Dantes, Sie müssen ihm erzählen, daß der Kaiser sich seiner erinnert hat!“ Er klopfte dem jungen Mann auf die Schulter. „Sie haben recht getan, an der Insel Elba anzulegen. Doch wenn man erfährt, daß Sie dem Oberhofmarschall ein Paket ausgehändigt und mit dem Kaiser gesprochen haben — es könnte Ihnen Unannehmlichkeiten bringen.“

„Wieso meinen Sie, daß mir das schaden könnte, Herr Morrel?“ fragte Dantes erstaunt. „Ich weiß nicht einmal, was ich überbrachte, und der Kaiser hat nur unverfängliche Fragen an mich gerichtet. Doch, Verzeihung, hier kommen die Sanitäts- und Zollbeamten; Sie erlauben?“

„Gehen Sie, gehen Sie, mein lieber Dantes!“

Der junge Mann entfernte sich, und zugleich trat Danglars wieder herzu.

„Nun“, sagte er, „er scheint Ihnen gute Gründe für seinen Aufenthalt auf Elba gegeben zu haben.“

„Vortreffliche, mein lieber Herr Danglars. Der Kapitän Leclère selbst hat ihm den Befehl dazu gegeben.“

„Desto besser. Übrigens, hat er Ihnen nicht einen Brief des Kapitäns ausgehändigt?“

„Einen Brief? Nein!“

„Ich glaubte, der Kapitän habe ihm außer jenem Paket noch einen Brief anvertraut.“

„Welches Paket meinen Sie, Danglars?“

„Das Dantes auf Elba abzugeben hatte.“

„Wieso wissen Sie, daß er ein Paket abzugeben hatte?“

Errötend gestand Danglars, daß er an der halbgeöffneten Tür des Kapitäns vorübergegangen sei und gesehen habe, wie dieser Dantes ein Paket und einen Brief übergab.

„Er hat davon nichts erwähnt“, sagte der Reeder, „aber wenn er einen Brief für mich erhielt, wird er ihn mir noch aushändigen.“ In diesem Augenblick kam Dantes zurück.

„Nun, mein lieber Dantes, sind Sie frei?“ fragte der Reeder. „Jawohl, es ist alles in Ordnung.“

„Sie werden mit uns zu Mittag speisen?“

„Entschuldigen Sie mich bitte, Herr Morrel, mein erster Weg führt mich zu meinem Vater. Ich bin Ihnen darum nicht weniger dankbar für die Ehre, die Sie mir erzeigen wollen.“

„Recht, recht, Dantes, ich weiß, daß Sie ein guter Sohn sind." Zögernd fragte Dantes: „Und wie geht es meinem Vater, ist er gesund?"

„Ja, ich glaube, mein lieber Sohn, obgleich ich ihn nicht gesehen habe."

„Ja, er lebt sehr zurückgezogen in seinem kleinen Heim." „Hoffentlich wird es ihm in Ihrer Abwesenheit an nichts gefehlt haben. Aber nach diesem Besuch zählen wir bestimmt auf Sie!“ „Entschuldigen Sie mich nochmals, Herr Morrel, ein anderer Besuch liegt mir ebensosehr am Herzen.“

„Ah, es ist wahr, Dantes, ich dachte nicht gleich daran, daß in der katalonischen Kolonie jemand wohnt, der Sie mit nicht geringerer Ungeduld erwartet als Ihr Vater: die schöne Mercedes! Ah, nun wundere ich mich nicht mehr, daß sie sich dreimal bei mir nach dem ‚Pharao' erkundigt hat! Donnerwetter! Sie sind nicht zu beklagen, Edmond, Sie haben eine bildhübsche Geliebte.“

„Sie ist nicht meine Geliebte, Herr Morrel", sagte der junge Mann ernst, „sie ist meine Verlobte."

„Nun will ich Sie auch nicht länger aufhalten", fuhr Herr Morrel fort, „Sie haben meine Geschäfte so gut besorgt, daß ich Ihnen nun reichlich Zeit für die Ihrigen gebe. Brauchen Sie Geld?“ „Nein, ich danke, ich habe noch mein ganzes Gehalt.“

„Sie sind ein musterhafter Junge, Edmond. Doch, jetzt fällt mir ein, hat Ihnen Kapitän Leclère nicht einen Brief für mich gegeben?“

„Es war ihm nicht möglich zu schreiben, Herr Morrel, aber Ihre Frage erinnert mich, daß ich Sie um einen Urlaub von einigen Tagen bitten wollte, ich muß nach Paris reisen.“

„Gut, gut, tun Sie das. Vor drei Monaten gehen wir nicht wieder in See. Doch zu dem Zeitpunkt müssen Sie zurück sein, denn der ‚Pharao' könnte doch nicht ohne seinen Kapitän absegeln.“

„Ohne seinen Kapitän?“ rief Dantes freudig erregt aus. „Wollen Sie mich wirklich zum Kapitän ernennen?“

„Wäre ich allein, so würde ich Ihnen die Hand reichen und sagen, es ist abgemacht, aber ich habe einen Kompagnon — und Sie kennen das Sprichwort: ‚Wer einen Kompagnon hat, hat auch einen Herrn.' — Doch zur Hälfte ist die Sache abgeschlossen, denn von zwei Stimmen haben Sie bereits eine.“

„O Herr Morrel“, rief der junge Seemann mit Tränen in den Augen, „ich danke Ihnen in meines Vaters und Mercedes' Namen! Soll ich Sie an Land zurückrudern?"

„Nein, ich danke, ich bleibe hier, um die Abrechnung mit Danglars zu machen. Sind Sie mit ihm während der Reise zufrieden gewesen?"

„Das kommt auf den Sinn der Frage an, Herr Morrel. Wenn Sie eine gute Kameradschaft meinen, so glaube ich nein sagen zu müssen. Er kann mich anscheinend seit dem Tage nicht leiden, an dem ich die Dummheit beging, ihn eines kleinen Streites wegen zu fordern. Ich hatte unrecht, ihm diesen Vorschlag zu machen, und er hatte recht, ihn abzulehnen. Fragen Sie mich nach dem Rechnungsführer, so glaube ich, daß nichts an ihm auszusetzen ist und Ihre Geschäfte in guten Händen sind.“

„Aber würden Sie Danglars, wenn Sie Kapitän des ‚Pharao' wären, in Diensten behalten?“

„Als Kapitän oder Erster Offizier würde ich stets die Achtung vor denen haben, die das Vertrauen meiner Reeder besitzen.“

„Schön, schön, Dantes. Also auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen, Herr Morrel, und tausend Dank!“

Der junge Mann sprang in das Boot und befahl, an der Canebière anzulegen.

Der Reeder folgte ihm lächelnd mit den Augen bis an das Ufer, sah ihn auf die Steine des Kais springen und sich in die bunte Menge verlieren, die von fünf Uhr morgens bis neun Uhr abends die berühmte Straße der Canebière belebt.

Als er sich umwandte, erblickte der Reeder Danglars, der seine Befehle zu erwarten schien, aber in Wirklichkeit auch den jungen Mann mit seinen Blicken verfolgte, nur mit dem Unterschiede, daß die seinen haßerfüllt waren.

VATER UND SOHN

Dantes betrat ein kleines Haus auf der rechten Seite der Allée de Meillau, stieg schnell die vier steilen, dunklen Treppen hinauf und blieb, eine Hand auf das klopfende Herz gepreßt, vor einer halbgeöffneten Tür stehen. Hier wohnte sein Vater. Er stand auf einem Stuhl und band mit zitternden Händen Kapuzinerkresse und wilden Wein, die sich an seinem Fenster emporrankten, fest. Plötzlich fühlte er sich umfaßt, und eine wohlbekannte Stimme rief: „Mein Vater, mein lieber Vater!“ Der alte Mann stieß einen Schrei aus und fiel zitternd in die Arme seines Sohnes.

„Was hast du, Vater?“ rief der junge Mann besorgt. „Du bist doch nicht krank?“

„Nein, nein, mein lieber Edmond, mein Sohn, mein Kind, nein; aber ich erwartete dich nicht, und die Freude, die Aufregung, dich so plötzlich zu sehen ... Ach mein Gott, ich glaube, ich muß sterben!“

„Aber erhole dich doch, mein Vater! Ich bin es, ich bin's wirklich. Man sagt immer, die Freude könne nicht schaden, und darum bin ich so unverhofft hier eingetreten. Sieh, ich bin zurückgekommen, und wir werden nun recht glücklich sein.“

„Ah, desto besser, mein Junge", erwiderte der Vater; „aber wie denn, wirst du mich nie mehr verlassen? Laß hören, erzähle!“

„Der Herr mag mir vergeben“, sagte der junge Mann, „daß ich mich über mein Glück freue, das einer anderen Familie Trauer bringt. Aber Gott weiß, daß ich es nie gewünscht habe. Kapitän Leclère ist gestorben, und durch Herrn Morrels Fürsprache werde ich wahrscheinlich seine Stelle bekommen. Begreifst du, Vater, mit zwanzig Jahren Kapitän, ein Gehalt von hundert Louisdor und außerdem Anteil am Gewinn! Ist das nicht mehr, als ein armer Matrose wie ich es nur hoffen durfte?“

„Ja, mein Sohn, ja, das ist ein großes Glück.“

„Von dem ersten Gehalt, das ich bekomme, will ich dir ein Häuschen mit einem Garten kaufen, worin du deine Kapuzinerkresse und deinen wilden Wein pflanzen kannst. — Aber, lieber Vater, was ist dir denn schon wieder, du scheinst wirklich krank?“

„Geduld, Geduld, es wird vorübergehen“, sagte der alte Dantes, aber die Kräfte verließen ihn, und er sank um.

„Schnell, schnell ein Glas Wein; das wird dich wieder stärken, Vater!“

„Ach, suche nicht, du wirst keinen finden.“

„Wie, du hast keinen Wein im Hause?“ fragte erbleichend Dantes, indem er abwechselnd die hohlen Wangen seines Vaters und die leeren Schränke anschaute. „Ich hatte dir doch bei meiner Abreise 200 Franken hiergelassen?“

„Jaja, Edmond, das ist wahr“, sagte der Kranke matt, „aber du hattest vergessen, bei Caderousse eine kleine Schuld zu begleichen. Er forderte sie von mir und drohte, er werde sich sonst an Herrn Morrel wenden. Du wirst begreifen, daß ich da lieber für dich bezahlte.“

„Aber ich war ihm ja 140 Franken schuldig! So hast du während dreier Monate von 60 Franken gelebt?“

„Du weißt, ich brauche so wenig.“

„O mein Gott, vergib mir!“ rief Edmond und warf sich dem alten Mann zu Füßen.

„Du bist nun hier, und alles ist gut.“

„Ja, ich bin hier“, sagte der junge Mann, „mit der Aussicht auf eine schöne Zukunft und mit einigem Geld in der Tasche. Hier Vater, nimm", und er warf einige Goldstücke, fünf bis sechs Frankenstücke und eine Menge kleinerer Münzen auf den Tisch. Das Gesicht des alten Dantes erhellte sich. „Wem gehört das?“ fragte er.

„Nun, mir! Dir — uns! Nimm es, kaufe Vorräte, morgen gibt es mehr.”

„Sachte, sachte“, sagte der Alte lächelnd, „mit deiner Erlaubnis werde ich nur bescheiden deine Börse in Anspruch nehmen, sonst könnte man glauben, daß ich nur auf dich mit meinen Einkäufen gewartet hätte.“

„Wie du willst, Vater, aber vor allem dinge eine Magd; ich will nicht, daß du länger so allein bleibst. Ich habe auch Kaffee und ausgezeichneten Tabak geschmuggelt, das sollst du morgen haben — aber pst! Da kommt jemand.“

„Es wird Caderousse sein, der deine Ankunft erfahren hat und dich endlich begrüßen will.“

Wirklich erschien das dunkle bärtige Gesicht von Caderousse in der Tür. Er war etwa fünfunddreißig Jahre alt und seines Standes ein Schneider.

„Ah, da bist du endlich zurückgekehrt, Edmond!" sagte er in echt Marseiller Mundart und mit einem breiten Lächeln.

„Wie Sie sehen, Nachbar Caderousse, und ich bin auch bereit, Ihnen gefällig zu sein“, antwortete Dantes, seine Kälte unter dieser Höflichkeit verbergend.

„Danke, danke, glücklicherweise brauche ich nichts. Ich habe dir Geld geliehen, du hast es mir zurückgegeben. Dies kommt unter guten Nachbarn vor, und wir sind quitt.“

„Nein, so ist es nicht“, sagte Dantes, „denn wenn ich Ihnen auch kein Geld mehr schulde, so schulde ich Ihnen doch Dank.“

„Nichts mehr darüber! Sprechen wir von deiner glücklichen Rückkehr. Ich war am Hafen, Danglars erzählte mir, daß ihr gut angekommen seid. Ich eilte her, um dir wie einem guten Freunde die Hand zu drücken.“

„Der gute Caderousse“, sagte Vater Dantes, „er hat uns so gern.“

„Es scheint, Junge, daß du reich heimgekehrt bist", fuhr der Schneider fort, indem er einen lüsternen Blick nach dem Geld auf dem Tisch warf.

„Dies Geld“, sagte der junge Mann nachlässig, „gehört nicht mir. Komm, Vater, tu es wieder in deine Börse, wenn nicht etwa der Nachbar Caderousse Gebrauch davon machen möchte; in dem Falle stände es ihm zur Verfügung.“

„Nein, nein, mein Junge“, sagte Caderousse, „ich brauche es nicht. Behalte das Geld, man hat davon nie zuviel. Nun erzähle! Du stehst dich aufs beste mit Herrn Morrel, du Schlaukopf?“

„Herr Morrel ist immer sehr gut gegen mich gewesen, und ich hoffe auch, sein Kapitän zu werden.“

„Um so besser, um so besser, deine alten Freunde werden sich darüber freuen, und ich weiß jemanden da hinter der Citadelle St. Nicolas, der auch nicht unzufrieden darüber sein wird.“

„Mercedes?“ fragte der Vater.

„Ja, Vater“, sagte Dantes, „und wenn du nichts dagegen hast, mache ich nun den Kataloniern meinen Besuch.“

„Geh, Kind“, sagte der alte Dantes, „und Gott segne deine Frau, wie er mich in meinem Sohne gesegnet hat!“

„Seine Frau!“ sagte Caderousse. „Mir scheint, sie ist es noch lange nicht.“

„Nein“, antwortete Edmond, „aber ich hoffe, daß sie es bald sein wird.“

„Na, na! Du tust gut, dich zu beeilen.“

„Warum das?“

„Weil Mercedes ein hübsches Mädchen ist und es hübschen Mädchen nicht an Liebhabern fehlt. Ihr besonders laufen sie dutzendweise nach.“

„Wirklich?“ sagte Edmond mit einem Lächeln, unter welchem sich eine leichte Unruhe verbarg.

„O ja, und gute Partien sind darunter“, entgegnete Caderousse, „aber du wirst Kapitän werden, und man wird sich hüten, dich abzuweisen.“

„Ach“, sagte der junge Mann, „ich bin überzeugt, daß sie mir, mag ich Kapitän sein oder nicht, treu bleiben wird!“

„Desto besser”, meinte Caderousse. „So verliere keine Zeit und melde ihr deine Ankunft!“

„Das will ich“, sagte Edmond, umarmte seinen Vater, grüßte Caderousse und eilte fort.

Caderousse ging gleich darauf ebenfalls die Treppe hinunter, um Danglars aufzusuchen, der ihn an der Ecke der Straße Senac erwartete.

„Nun, hast du ihn gesehen?“ fragte Danglars. „Hat er dir von seiner Hoffnung, Kapitän zu werden, erzählt?“

„Er spricht davon, als ob er es bereits wäre.“

„Und ist er immer noch in die Katalonierin verliebt?“

„Er ist eben zu ihr gegangen, aber wenn ich mich nicht irre, wird es dort Verdrießlichkeiten geben. Ich habe gesehen, daß Mercedes, sooft sie in die Stadt kommt, von einem großen katalonischen Schlingel, den sie Vetter nennt, begleitet wird.“

„Und du glaubst, daß dieser Vetter ihr den Hof macht?“

„Was, zum Teufel, kann ein langer Bursche von einundzwanzig Jahren bei einem hübschen Mädel von siebzehn Jahren wohl anderes tun?“

„Wie wäre es, wenn wir Dantes auf seinem Wege folgten und uns im Garten der ‚Reserve' zu einem Glas Wein setzten?“

„Ich bin dabei“, sagte Caderousse, „wenn du bezahlst.“

„Gewiß“, sprach Danglars, und beide begaben sich nach dem bezeichneten Wirtshaus. Der Wirt, Vater Pamphile, hatte vor kaum zehn Minuten Dantes vorbeikommen sehen.

DIE KATALONIER

Hundert Schritt von der Stelle entfernt, wo die beiden Freunde den perlenden Lamalguewein tranken, lag hinter einem nackten, sonnigen Hügel die kleine Siedlung der Katalonier.

Auswanderer aus Spanien hatten den Magistrat von Marseille gebeten, ihnen dieses unfruchtbare Vorgebirge zu überlassen, an dessen Fuß sie ihre Fahrzeuge an Land gezogen hatten. Die Bitte wurde gewährt, und bald war ein kleines Dorf erstanden. Diese malerische, halb maurische, halb spanische Ortschaft wird noch heute von Nachkommen jener Männer bewohnt.

In einer Hütte dieser Siedlung stand ein schönes Mädchen mit glänzendem schwarzem Haar und samtartigen Augen an eine Wand gelehnt und zerpflückte mit ihren zarten Fingern eine unschuldige Blüte. Ihre bis zum Ellbogen entblößten, wohlgeformten Arme bebten in einer Art fieberhafter Ungeduld, und sie stampfte mit ihrem zierlichen Fuß den Boden. Drei Schritt von ihr saß auf einem Stuhl ein großer, etwa zwanzigjähriger Bursche und betrachtete sie mit einer begehrlichen, aber mürrischen Miene. Seine Augen ruhten fragend auf ihr, aber der feste Blick des jungen Mädchens beherrschte ihn.

„Nun, wie steht's, Mercedes?“ sagte er endlich. „Ostern ist nah, das ist doch die Zeit, wo man Hochzeit hält.“

„Ich habe dir hundertmal auf diese Frage geantwortet, Fernand, und du mußt wirklich dein eigener Feind sein, daß du immer von neuem darauf zurückkommst.“

„Nun, wiederhole es noch einmal, daß du meine Liebe zurückweist, die deine Mutter billigte. Mach es mir begreiflich, daß mein Leben und mein Tod dir gleichgültig sind. Zehn Jahre lang habe ich davon geträumt, dein Gatte zu werden, Mercedes, und diese Hoffnung soll ich nun auf immer verlieren?“

„Ich bin es nicht gewesen, Fernand, die dich zu dieser Hoffnung ermutigt hat“, antwortete Mercedes. „Immer habe ich dir gesagt: ‚Ich liebe dich wie einen Bruder, aber mein Herz gehört einem anderen.' Ist das nicht wahr, Fernand?“

„Ja, ich weiß es wohl, Mercedes“, antwortete der junge Mann, „du hast mir gegenüber stets das Verdienst grausamer Offenherzigkeit gehabt. Du scheinst aber zu vergessen, daß bei uns Kataloniern das heilige Gesetz besteht, nur untereinander zu heiraten.“

„Fernand, das ist kein Gesetz, sondern eine Gewohnheit. Bedenke auch: Seit im vorigen Jahr meine Mutter starb, lebe ich fast nur noch von der öffentlichen Wohltätigkeit. Zuweilen tust du, als wäre ich dir nützlich, um das Recht zu haben, den Ertrag deiner Fischerei mit mir zu teilen; ich nehme es an, Fernand, weil du mein Vetter bist, weil wir zusammen erzogen worden sind und besonders weil es dir Kummer machen würde, wenn ich es nicht annähme. Aber ich fühle wohl, daß es ein Almosen ist.“

„Was tut das, Mercedes, wenn du, so arm und verlassen du bist, mir besser gefällst als die Tochter des reichsten Reeders oder des stolzesten Bankiers von Marseille. Was haben wir einfachen Leute nötig? Eine rechtschaffene Frau, eine gute Wirtschafterin.“

„Man wird eine schlechte Wirtin, und man kann nicht dafür einstehen, eine rechtschaffene Frau zu bleiben, wenn man einen anderen als seinen Mann im Herzen trägt. Begnüge dich mit meiner Freundschaft, ich wiederhole, ich verspreche nicht mehr, als ich halten kann.“

„Ich verstehe“, entgegnete Fernand, „du erträgst geduldig deine eigene Armut, aber du scheust die meinige. Aber, Mercedes, von dir geliebt, werde ich das Schicksal herausfordern, du wirst mir Glück bringen, und ich werde reich werden. Ich kann mein Fischergewerbe ausdehnen, ich kann als Kommis in ein Kontor eintreten, ja, ich kann sogar Kaufmann werden.“

„Du kannst von alledem nichts unternehmen, Fernand, du bist Soldat, und wenn du noch hier bist, so nur, weil jetzt kein Krieg geführt wird. Bleibe also Fischer und — begnüge dich mit meiner Freundschaft!“

„Du bist hart und grausam, Mercedes, weil du einen anderen erwartest; aber dieser ist vielleicht unbeständig wie das Meer.“

„Fernand“, rief Mercedes aus, „ich hielt dich für gut, aber du hast ein böses Herz, weil du mit deiner Eifersucht den Zorn des Himmels herabrufst. Ich gestehe es — ich erwarte ihn und liebe den, von dem du sprichst. Und wenn er nicht wiederkehren sollte, werde ich glauben, daß er, mich liebend, gestorben ist. Übrigens“, fügte sie mit tränenfeuchtem Auge hinzu, „du hast gesagt, das Meer sei unbeständig. Schon vier Monate ist er fort, und in dieser Zeit hat man viele Stürme tosen hören.“

Fernand blieb ungerührt, er versuchte nicht, Mercedes' Wangen zu trocknen. Und doch hätte er für jede ihrer Tränen einen Becher seines Blutes hingegeben, aber sie flossen ja für einen anderen. Er stand auf, ging in der Hütte umher und blieb dann wieder mit düsteren Augen und geballten Fäusten vor dem Mädchen stehen. „Mercedes, einmal noch antworte mir, steht dein Entschluß fest?“

„Ich liebe Edmond Dantes“, sagte das junge Mädchen, „und kein anderer als er wird mein Mann.“

„Und du wirst ihn immer lieben?“

„Solange ich lebe!“

„Aber wenn er dich verläßt?“

In diesem Augenblick rief draußen vor der Tür eine freudige Stimme: „Mercedes!“

„Ah“, rief das junge Mädchen, vor Freude errötend, „du siehst, daß er mich nicht vergessen hat!“ Sie stürzte zur Tür und riß sie auf mit den Worten: „Edmond, Edmond, hier bin ich!“

Edmond und Mercedes lagen einander in den Armen. Anfangs nahmen sie nichts wahr von dem, was sie umgab; ein unermeßliches Glück trennte sie von aller Welt.

Plötzlich aber erblickte Edmond das düstere Gesicht Fernands. Unwillkürlich griff der junge Katalonier nach dem Messer, das in seinem Gürtel stak.

„Oh, Verzeihung!“ sagte Dantes. „Ich hatte nicht bemerkt, daß wir zu dreien sind.“ Und zu Mercedes gewandt: „Wer ist der Herr?“

„Dieser Herr wird dein bester Freund werden, Dantes, denn er ist mein Freund, mein Vetter, mein Bruder. Es ist Fernand, der Mann, den ich nach dir, Edmond, am meisten auf der Welt liebe. Erkennst du ihn nicht wieder?“

„Doch.“ Ohne Mercedes loszulassen, reichte ihm Edmond seine Hand, aber Fernand, ohne diese freundschaftliche Geste zu bemerken, blieb unbeweglich und stumm wie eine Statue sitzen. Da richtete Edmond einen fragenden Blick auf die zitternde Mercedes, und dieser Blick sagte ihm alles. Der Zorn stieg ihm zu Kopf.

„Ich glaubte nicht, einen Feind hier zu finden, als ich zu dir eilte, Mercedes!“

„Einen Feind“, wiederholte Mercedes mit einem anklagenden Blick auf ihren Vetter, „einen Feind bei mir! Edmond, wenn dir ein Unglück zustieße — ich erstiege sofort das Cap Morgion, um mich kopfüber in das Meer zu stürzen.“

Fernand wurde totenbleich.

„Aber du hast dich geirrt, Edmond“, fuhr sie fort, „du hast keinen Feind hier, dies ist Fernand, mein Bruder, der dir wie einem treuen Freunde die Hand drücken wird.“

Bei diesen Worten heftete das junge Mädchen ihren gebieterischen Blick auf den Katalonier, in dessen Banne sich langsam Edmond näherte und ihm die Hand entgegenstreckte.

Kaum hatte er sie berührt, stürzte er aus dem Hause.

„He, Katalonier, he! Fernand, wohin läufst du?“ hörte er eine Stimme rufen. Der junge Mann blieb stehen, sah sich um und entdeckte Caderousse und Danglars in ihrer Laube.

Fernand blickte die beiden Männer verdutzt an und antwortete nicht.

„He, Katalonier, wie steht’s?“ rief ihn Caderousse noch einmal an. Fernand wischte sich den Schweiß von der Stirn und trat langsam unter die Laube, deren Schatten und Kühle seine Sinne etwas beruhigten.

„Guten Tag!“ sagte er. „Ihr habt mich gerufen, nicht wahr?“ Und dabei fiel er mehr, als er sich setzte, auf einen der Stühle, die um den Tisch standen.

„Du liefst wie ein Wahnsinniger, ich hatte Furcht, du könntest dich ins Meer stürzen“, sagte Caderousse lachend.

Fernand stieß einen tiefen Seufzer aus und ließ den Kopf auf seine Fäuste sinken.

Mit plumper Offenheit ging Caderousse auf sein Ziel los: „Weißt du, du siehst aus wie ein abgewiesener Liebhaber.“

„Ach“, meinte Danglars, „ein junger hübscher Mann wie dieser kann unmöglich in der Liebe unglücklich sein.“

„Fernand“, sagte Caderousse, „Kopf hoch! Es ist nicht liebenswürdig, Freunden, die sich nach deinem Ergehen erkundigen, nicht zu antworten.“

„Mein Befinden ist gut“, sagte Fernand, mit dem Kopf noch immer auf dem Tisch liegend.

„Siehst du, Danglars“, meinte Caderousse und machte ihm mit den Augen ein Zeichen, „so steht es! Fernand, ein guter und braver Katalonier, einer der besten Schiffer von Marseille, ist in Liebe zu einem schönen Mädchen, das Mercedes heißt, entbrannt; aber unglücklicherweise scheint das Mädchen seinerseits in den Steuermann des ‚Pharao' verliebt zu sein, und da das Schiff heute in den Hafen eingelaufen ist ... Verstehst du nun?“

„Nein, ich verstehe nicht!“

„Unser armer Freund wird nun den Laufpaß bekommen haben.“

„Nun, was noch?“ fuhr Fernand auf und richtete seine Augen zornsprühend auf Caderousse. „Mercedes hängt von niemandem ab, nicht wahr, sie kann lieben, wen sie will.“

„Oh, wenn du es so auffaßt“, sagte Caderousse, „so ist das ein anderes Ding. Ich hielt dich für einen wahren Katalonier, und man hat mir gesagt, daß die Katalonier keine Männer wären, die sich von einem Nebenbuhler verdrängen lassen. Man hat sogar hinzugefügt, daß Fernand besonders schrecklich in seiner Rache sein kann.“

Fernand lächelte wehmütig. „Ein Verliebter kann niemals fürchterlich sein“, sagte er.

„Armer Junge!“ versetzte Danglars anscheinend mit tiefstem Bedauern. „Was willst du, Caderousse, er war nicht vorbereitet, Dantes so plötzlich wieder vor sich zu sehen.“

„Jedenfalls“, erwiderte Caderousse, auf den der feurige Lamalguewein seinen Einfluß auszuüben anfing, „jedenfalls ist Fernand nicht der einzige, dem Dantes' glückliche Ankunft einen Strich durch die Rechnung macht, nicht wahr, Danglars?“

„Nein, du hast recht, und ich wage fast zu behaupten, daß ihm daraus Unglück erwachsen wird.“

„Gleichviel“, versetzte Caderousse, indem er Fernand ein Glas Wein eingoß und das seine zum achten oder zehnten Male wieder füllte, während Danglars das seine kaum berührt hatte, „gleichviel, er heiratet Mercedes, wenigstens kehrt er deshalb zurück. Und wann findet die Hochzeit statt?“

„Oh, das weiß man noch nicht“, murmelte Fernand.

„Nein, aber sie wird stattfinden“, entgegnete Caderousse, „so sicher, als Dantes Kapitän des ‚Pharao' werden wird, nicht wahr, Danglars?“

Danglars zitterte bei diesem unerwarteten Hieb, faßte sich aber und rief, von neuem die Gläser füllend: „Trinken wir auf die Gesundheit des Kapitäns Edmond Dantes, des Gatten der schönen Katalonierin!“

Caderousse hob mit schwerer Hand das Glas an den Mund und leerte es mit einem Zuge. Fernand schleuderte das seine auf die Erde.

„Ei, ei“, sagte Caderousse, „was bemerke ich denn dort auf dem Hügel in der Richtung der katalonischen Kolonie? Schau doch hin, Fernand, schau doch hin, du hast bessere Augen als ich. Fast möchte ich behaupten, zwei Liebende zu sehen, die fest aneinandergeschmiegt einherwandeln. Sie ahnen nicht, daß wir sie sehen, und küssen sich sogar!“

Danglars verlor nicht einen Augenblick Fernand aus den Augen und sah, wie sich dessen Gesichtszüge entstellten.

„Kennen Sie die beiden, Herr Fernand?“

„Ja“, entgegnete dieser finster, „es sind Herr Edmond und Fräulein Mercedes!“

„Ach, sehen Sie“, sagte Caderousse. „Oho Dantes, oho schönes Mädchen, kommt doch näher und sagt uns, wann die Hochzeit sein wird, denn Freund Fernand ist eigensinnig und will es uns nicht mitteilen.“

„Willst du wohl schweigen“, rief Danglars und stellte sich, als wolle er Caderousse zurückhalten, der sich mit dem Starrsinn der Trunkenen aus der Laube bog, „versuche, gerade zu sitzen, und laß die Liebenden in Ruhe. Sieh Fernand an und nimm dir ein Beispiel an ihm, er ist vernünftig.“

Vielleicht hätte sich Fernand, gereizt von den spitzen Reden Danglars, auf seinen Rivalen gestürzt, hätte nicht Mercedes’ ruhiger strahlender Blick ihn davor bewahrt; er erinnerte Fernand an ihre Drohung, sich zu töten, wenn Edmond ein Leid geschähe. Entmutigt fiel er auf seinen Stuhl zurück.

Danglars beobachtete abwechselnd die beiden Männer. „Aus diesen Dummköpfen werde ich keinen Vorteil ziehen“, murmelte er, „der eine berauscht sich an Wein statt an Galle, der andere begnügt sich, zu weinen wie ein Kind, und überläßt dem Rivalen die Geliebte. Entschieden wird Edmond siegen, er wird das Mädchen heiraten, wird Kapitän werden und uns auslachen, wenn ich mich nicht ins Mittel lege.“

„Holla“, rief Caderousse, jetzt halb erhoben, die Fäuste auf den Tisch gestützt, „siehst du denn deine Freunde nicht, Dantes, oder bist du etwa zu stolz, mit ihnen zu sprechen?“

„Nein, mein lieber Caderousse“, antwortete Dantes, „ich bin nicht stolz, aber ich bin glücklich, und das Glück macht blind.“

„Bravo, das ist eine Erklärung, die lasse ich mir gefallen“, sagte Caderousse. „Guten Tag, Frau Dantes!“

Ernst grüßend erwiderte Mercedes: „Das ist noch nicht mein Name, und bei uns sagt man, es bringt Unglück, wenn ein Mädchen mit dem Namen ihres Bräutigams angeredet wird; nennen Sie mich Mercedes!“

„Die Hochzeit wird wohl in aller Kürze stattfinden, Herr Dantes?“ sagte Danglars, die beiden jungen Leute begrüßend.

„So bald wie möglich, Herr Danglars, heute schon liegen die Heiratsverträge meinem Vater vor, und morgen oder spätestens übermorgen findet der Verlobungsschmaus hier in der ‚Reserve' statt. Hoffentlich werden die Freunde bei unserem Fest nicht fehlen. Sie sind eingeladen, Herr Danglars, und auch du, Caderousse.“

„Na, und Fernand?“ sagte Caderousse mit boshaftem Lächeln.

„Der Freund meiner Frau ist auch mein Freund, und wir, Mercedes und ich, würden es aufs tiefste bedauern, wenn er sich in einem solchen Augenblick von uns fernhielte.“

Fernand öffnete den Mund, um zu antworten, aber die Stimme erstarb ihm in der Kehle, er konnte kein Wort hervorbringen. Statt seiner nahm Danglars wieder das Wort: „Heute der Kontrakt, morgen oder übermorgen der Verlobungsschmaus… . Teufel! Sie haben es eilig, Kapitän!“

„Danglars“, entgegnete Edmond lächelnd, „ich muß Sie bitten, mir nicht einen Titel zu geben, der mir noch nicht zukommt, das könnte mir nur Unglück bringen.“

„Verzeihung“, entgegnete Danglars, „wir haben ja Zeit, der ‚Pharao' geht vor drei Monaten nicht in See.“

„Man hat immer Eile, um glücklich zu werden, Herr Danglars, zumal wenn man so lange an seinem Glück gezweifelt hat, aber der Egoismus ist es diesmal nicht allein, der mich treibt, sondern eine dringende Reise nach Paris.“

„Ah, wirklich, nach Paris — und es ist das erste Mal, daß Sie dorthin reisen, Dantes? Haben Sie Geschäfte dort?“

„Keine eigenen, ich muß einen Auftrag unseres armen Leclère erfüllen. Sie begreifen, Danglars, daß mir diese Pflicht heilig ist. Übrigens werde ich schnellstens wieder zurück sein.“

„Jaja, ich begreife“, sagte Danglars laut, und fügte hinzu: „Nach Paris, ohne Zweifel, um den Brief, den ihm der Oberhofmarschall übergeben hat, seinem Adressanten abzuliefern. Dieser Brief bringt mich auf eine ausgezeichnete Idee. Haha, Freund Dantes! Du stehst noch nicht im Register des ‚Pharao' unter Nummer eins.“

Dann rief er Edmond nach: „Glückliche Reise!“

„Danke!“ antwortete Edmond, sich umwendend und mit der Hand grüßend.

DAS KOMPLOTT

Danglars verfolgte Edmond und Mercedes mit den Augen, bis sie hinter einer Ecke verschwunden waren. Dann sagte er zu Fernand, der bleich und zitternd auf den Stuhl zurückgefallen war: „Nun, mein lieber Herr, das ist eine Heirat, die für Sie kein Glück zu bedeuten scheint?“

„Sie bringt mich in Verzweiflung“, sagte Fernand.

„Also lieben Sie Mercedes wirklich?“

„Seit wir uns kennen; ich habe sie immer geliebt!“

„Und Sie sitzen hier, reißen sich die Haare aus, anstatt einen Ausweg zu suchen! Teufel noch einmal! Ich glaubte nicht, daß ein Katalonier so handeln könnte.“

„Aber was kann ich tun?“ fragte Fernand. „Ich wollte den Mann erdolchen, aber Mercedes sagte mir, wenn ihrem Verlobten irgendein Unglück begegnete, würde sie sich umbringen. Und ehe sie sich etwas antut, möchte ich lieber selbst sterben.“

„Das nennt man Liebe“, sagte Caderousse mit schwerer Zunge, „oder ich kenne mich darin nicht aus.“

„Sie scheinen mir ein wackrer Bursche“, sagte Danglars, „und — beim Teufel! Ich möchte Ihnen helfen; aber ...“

„Jaja, laß hören!“ entgegnete Caderousse.

„Mein Lieber, du bist dreiviertel betrunken“, erwiderte Danglars, „trink weiter und misch dich nicht in unser Gespräch!“

„Sie sagten, mein Herr“, nahm Fernand das Gespräch wieder auf, „Sie möchten mir helfen, aber ...“

„ ‚Ja, aber ...', fügte ich hinzu. Dantes soll die, die Sie lieben, nicht heiraten, und das kann geschehen, ohne daß Dantes sterben muß.“ „Der Tod allein wird sie trennen“, meinte Fernand.

„Sie urteilen wie ein unerfahrener Jüngling, mein Freund“, mischte sich Caderousse wieder ins Gespräch.

„Aber Danglars ist ein Schlaukopf, er wird Ihnen beweisen, daß Sie im Unrecht sind. Sag ihm, Danglars, daß Dantes nicht zu sterben braucht, es würde mir leid tun, er ist ein guter Junge. Du sollst leben, Dantes, du sollst leben!“

Fernand erhob sich ungeduldig.

„Lassen Sie ihn schwatzen“, sagte Danglars, „so betrunken er auch ist, so ist er nicht weit von der Wahrheit entfernt. Die Trennung bewirkt ebensoviel wie der Tod. Stellen Sie sich vor, daß zwischen Edmond und Mercedes Gefängnismauern ständen, so würden sie nicht mehr und nicht weniger getrennt sein als durch das Grab.“

„Aber aus dem Gefängnis kommt man zurück“, warf Caderousse mit dem letzten Rest seines Verstandes wieder ein, „und wenn man wieder herausgekommen ist und Edmond Dantes heißt, so rächt man sich.“

„Meinetwegen!“ murmelte Fernand.

„Übrigens, aus welchem Grunde könnte man Dantes ins Gefängnis bringen“, warf Caderousse ein, „er hat weder gestohlen noch gemordet.“

„Schweig!“ versetzte Danglars.

„Nein, ich will nicht schweigen“, sagte Caderousse, „ich will wissen, warum man Dantes ins Gefängnis stecken will, ich habe Dantes gern! — Prost, Dantes!“ Mit einem Zuge leerte er sein Glas.

Danglars verfolgte in den verschwommenen Augen des Schneiders die Fortschritte der Trunkenheit und bemerkte zu Fernand gewandt: „Begreifen Sie nun endlich?“

„Wenn Sie ein Mittel hätten, Dantes festnehmen zu lassen — aber haben Sie eins?“

„Wenn man eifrig sucht“, sagte Danglars, „könnte man eins Einfinden. Aber warum soll ich mich damit befassen, was geht’s mich an!“

„Ich weiß nicht, inwiefern es Sie berührt”, meinte Fernand, ihn am Arm fassend, „aber was ich weiß, ist, daß Sie irgendeinen besonderen Haß gegen Dantes haben. Wer selbst haßt, täuscht sich nicht in den Gefühlen anderer.“

„Auf mein Wort! Ich habe keinen Grund, Dantes zu hassen. Ich habe gesehen, wie unglücklich Sie waren, und ich wollte Ihnen helfen. Wenn Sie aber glauben, daß ich in eigener Sache handeln will, dann adieu, lieber Freund, ziehen Sie sich aus der Affäre, wie Sie wollen!“

Danglars stellte sich, als wollte er weggehen.

„Nein, nein“, rief Fernand, „bleiben Sie! Mir ist es gleichgültig, ob Sie Dantes grollen oder nicht; ich zürne ihm und gestehe es laut. Finden Sie ein Mittel, ich führe es aus, vorausgesetzt, daß nicht sein Tod damit verbunden ist, denn Mercedes würde sich sonst etwas antun.“

Caderousse hob mühsam den Kopf von der Tischplatte und lallte: „Dantes umbringen! Wer will hier Dantes umbringen? Ich will nicht, daß man ihn tötet, er ist mein Freund.“

„Wer spricht denn davon, Dummkopf", entgegnete Danglars. „Trink auf sein Wohl und laß uns ungeschoren!“

„Aber das Mittel, das Mittel“, sagte Fernand, „Sie haben doch darüber nachdenken wollen.“

„Jawohl“, erwiderte Danglars. „Kellner! Feder, Tinte und Papier!“

„Wenn man bedenkt“, sagte Caderousse, und seine Hand fiel auf den Bogen, den der Kellner gebracht hatte, „daß man damit einen Menschen sicherer umbringen kann, als wenn man ihm in einem Gehölz auflauert! Ich habe immer mehr Furcht vor Feder, Tinte und Papier als vor einem Degen oder einer Pistole gehabt.“

„Dieser Kauz ist doch noch nicht so betrunken, wie man denkt“, murmelte Danglars, „schenken Sie ihm noch ein, Fernand!“

Fernand tat es, Caderousse ergriff das volle Glas, leerte es und ließ es auf den Tisch zurückfallen.

„Nun?“ fragte der Katalonier, als er sah, daß Caderousse wieder in seinen Dämmerzustand zurückfiel.

„Nun“, wiederholte Danglars, „ich sage, wenn man zum Beispiel Dantes als bonapartistischen Agenten denunzieren würde?“

„Oh, ich denunziere ihn gleich“, rief lebhaft der junge Mann.

„Ja, jawohl“, sagte Danglars, „aber dann müßten Sie Ihre Erklärungen unterzeichnen. Sie werden mit dem, den Sie angezeigt haben, konfrontiert. Ich schaffe Ihnen zwar die Beweise dafür; aber Dantes wird nicht immer im Gefängnis bleiben, eines Tages wird er freigelassen, und dann wehe dem, der ihn hineinbrachte! Nein, nein, wenn man sich zu so etwas entschlösse, so wäre es besser, einfach die Feder einzutauchen und mit der linken Hand, wie ich es jetzt tue, damit die Schrift unkenntlich wird, etwa folgendes zu schreiben: