Für Simon Paul und Alisa Marie
sowie unsere Kolleginnen und Kollegen
im täglichen Dienst

Vorwort:

Dieser Roman beruht auf Tatsachen. Die Ermittlungen und Vernehmungen orientieren sich an der Wirklichkeit des kriminalpolizeilichen Alltags. Auf vielköpfige Kommissionen wurde zu Gunsten der Verständlichkeit und des Handlungsfadens verzichtet. Keine der genannten Personen ist so existent. Namensähnlichkeiten sind daher zufällig. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Geschehnissen sowie mit lebenden oder verstorbenen Personen ist aber nicht immer rein zufällig. Der Roman soll vor allem ein Kriminalistenroman sein, der sich nah an der kriminalpolizeilichen Wirklichkeit orientiert. Deshalb sind einige Textpassagen bewusst streckenweise protokollartig.

Bernhard Hatterscheidt
Ludwig Kroner

Mörderischer
Fastelovend

Kriminalistenroman

Impressum

Math. Lempertz GmbH
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Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus zu vervielfältigen oder auf Datenträger aufzuzeichnen.

4. Auflage Februar 2011
© 2010 Mathias Lempertz GmbH

Text: Bernhard Hatterscheidt
Ludwig Kroner
www.kriminalistenroman.de
info@kriminalistenroman.de

Titelbild: Sarah Matiaschek/Hilga Pauli
Umschlaggestaltung: Ludwig Kroner/Hilga Pauli
Lektorat: Katrin Lux
Satz und Layout: Hilga Pauli

Epub ISBN: 978-3-939284-17-8

PROLOG

Er hatte trotz Karneval ein Taxi bekommen und ließ sich durch die dunkle Nacht nach Köln-Mülheim fahren. Die Straßenlaternen warfen nur ein spärliches Licht auf die wenigen Passanten. Ein kalter Wind blies und es regnete ein wenig. Typisch für diese Jahreszeit. An Karneval fand er es immer am kältesten.

In „Klein-Istanbul“ feierte niemand Karneval. Das Leben auf der Keupstraße spielte sich hinter den hell erleuchteten milchverglasten Fenstern der türkischen Kulturvereine ab. Männercafes, in denen geraucht, geredet und vor allem gezockt wurde.

Er bat die Taxifahrerin an der nächsten Dönerbude anzuhalten. Beim Aussteigen drückte er ihr einen 20-Euro-Schein in die Hand und gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie den Rest behalten könne. Mit der rechten Hand hielt er sich den Kragen zu, um seinen Hals gegen den eisigen Wind zu schützen. Zügig ging er die wenigen Schritte bis zum Imbiss Yalla.

Die Leuchtreklame war beschädigt, passend zu dieser schmuddeligen Gegend im Kölner Vorort. Lediglich das Wort „Imbiss“ war im Dunkeln zu erkennen. Drinnen hingen verblasste Bilder von Atatürk und dem Strand von Alanya. An der Wand und dicht am beschlagenen Fenster standen zwei Stehtische, die einen Wischlappen nur vom Hörensagen kannten. Eigentlich war er mit seinem grauen Nadelstreifenanzug hier fehl am Platz.

Er grüßte den Mann hinter der Theke, welcher mit einem kaum verständlichen „N’Abend“ mit türkischem Akzent antwortete. Dieser hatte die Gelegenheit genutzt, als keine Kundschaft im Laden war, den Inhalt seiner Kasse zu prüfen.

Er bestellte eine türkische Pizza mit extra scharfer Sauce und nahm sich eine Flasche Kölsch aus dem Kühlschrank. Der Flaschenöffner baumelte an einem Bändchen, welches mit Panzerband an der Oberseite des Kühlschranks festgeklebt war.

Während er auf sein Essen wartete, wischte er mit der linken Hand ein Guckloch in die beschlagene Schaufensterscheibe, in der rechten Hand das Kölsch. Auf der Straße konnte er nichts erkennen, nur die Laternen wippten gleichmäßig im Wind.

Die Bedienung stellte ihm das Essen mit ein paar unverständlich genuschelten Worten auf den Tisch. Während er gierig seine Lahmacun kaute, kam ein weiterer Gast herein. Der Mann trug ein Hasenkostüm. Sein Gesicht war hinter der überdimensionalen Nase nicht zu erkennen. Wortlos kam die Person mit schnellen Schritten auf ihn zu.

Gleichzeitig zog sie eine Pistole und richtete die Waffe auf ihn. Geistesgegenwärtig wollte er zur Seite springen, als ihm ein greller Lichtblitz entgegenschlug.

In Sekundenbruchteilen schoss ihm sein gesamtes Leben durch den Kopf. Es war vorbei, er war tot, bevor sein Körper auf dem schmierigen Boden aufschlug.

Die Bedienung hinter der Theke war durch den ohrenbetäubenden Knall zusammengezuckt und stand wie gelähmt, als sich der Mörder zu ihm herumdrehte.

EINS

Paul Westhoven schreckte hoch, als das Telefon klingelte. Mit zugekniffenen Augen blickte er auf die roten Ziffern seines Radioweckers, der neben ihm auf der Nachtkonsole stand. Kurz nach Zwölf. Nicht mal eine halbe Stunde hatte er geschlafen. Seine Frau Anne hatte unbedingt noch die nächste Urlaubsplanung diskutieren wollen. Vorsichtig schob er ihren Arm beiseite. Sie schlief tief und fest, das Klingeln hatte sie nicht gehört. Bevor sich der Anrufbeantworter einschalten konnte, hastete er eilig in sein Arbeitszimmer und hob den Hörer ab.

„Westhoven“, krächzte er in den Hörer. Seine Stimme war irgendwie noch nicht wach.

„Hallo, Paul. Hier ist Willi Schuster von der Kriminalwache. Tut mir leid, dass ich Dich um diese Uhrzeit stören muss, aber auf der Keupstraße in Mülheim ist ein Mann in einem Imbiss erschossen worden. Kopfschuss. Vom Täter keine Spur.“

„Doch nicht in Robins Grill, hoffe ich?“, fragte Paul Westhoven und nahm sich Zettel und Stift.

„Nein, auf der anderen Seite der Keupstraße. In einem türkischen Imbiss, er heißt Yalla.“

Westhoven kritzelte die Notizen auf den Zettel und bat Schuster, seine Kollegen von der Mordkommission zu verständigen.

Als er auflegte, strich er sich seufzend mit der linken Hand durch die kurzen schwarzen Haare. In der Küche steckte er sich schnell einen Riegel Schokolade in den Mund. Am liebsten hätte er sich jetzt eine Zigarette angezündet, doch an Silvester hatte er Anne versprochen, mit dem Rauchen aufzuhören.

Seitdem war er regelrecht schokoladensüchtig geworden. Vielleicht war das die Ursache, dass seine ansonsten sportliche Figur mittlerweile durch einen kleinen Bauchansatz geziert wurde.

Vielleicht lag es aber auch daran, dass er mit seinen 45 Jahren langsam auf die Fünfzig zuging.

„Was ist passiert. Musst Du schon wieder weg?“, hörte er plötzlich Anne fragen.

Erschrocken drehte er sich herum. Sie stand direkt hinter ihm im halbdunklen Raum. Ihre blonden Haare fielen ihr zerzaust bis auf die Schulter. Noch verschlafen rieb sie sich die Augen.

Westhoven erzählte ihr von Schusters Anruf und spürte sofort, dass Anne enttäuscht war. Es hatte in den letzten Wochen und Monaten oft Zoff wegen seiner Arbeit gegeben. Er verbrachte mehr Zeit mit seinen Fällen als mit ihr.

Ihm kam Maria, seine erste Frau und Mutter seiner Tochter Fiona, ins Gedächtnis. So hatte es damals auch angefangen. Immer war der Dienst vorgegangen. Er selbst hatte es gar nicht gemerkt. Doch plötzlich stand er nach 8 Jahren, kurz vor der Einschulung von Fiona, vor den Scherben seiner Ehe. Als er damals nach Hause kam, fragte ihn Maria, ob er am Mittwoch um fünf Zeit hätte, sie ginge zum Anwalt wegen der Scheidung. Er könne direkt mitkommen. Er war damals der Einzige gewesen, der das schleichende Ende seiner Ehe nicht bemerkt hatte.

„Und was wird aus unseren Urlaubsplänen?“, unterbrach sie mit genervter Stimme seine Gedanken. In knapp zwei Wochen sollte es schließlich in den Süden gehen.

Westhoven zuckte mit den Schultern und verzog dabei das Gesicht: „Sternchen, könntest Du Dich bitte weiter darum kümmern? Du findest schon das Passende“, sagte er und drückte Anne einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

„Typisch, immer dasselbe, es bleibt wieder an mir hängen“, wandte sie sich resigniert von ihm ab und ging zurück ins Schlafzimmer. Im Bad gingen ihm die üblichen Gedanken durch den Kopf. Es waren Überlegungen, die er sich jedes Mal machte, wenn er alarmiert wurde.

Wer war der Tote? Gab es Hinweise auf einen Tatverdächtigen? Gab es Zeugen? Würde sich jemand der Tat bekennen? Die Frage nach dem „Warum“.

Sein letzter Fall ging ihm durch den Kopf. Der 23-jährige im letzten Sommer. Dieser hatte sich mit seiner getrennt lebenden Freundin aussprechen wollen, um sie für sich zurück zu gewinnen. So sagte er es jedenfalls in der Vernehmung.

Tatsächlich aber hatte er seine 19-jährige Freundin mit einer Gasexplosion heimtückisch getötet.

Bevor sie in sein neues Domizil, einen Caravan, einstieg, hatte er die Propangasflaschen im Abstellschränkchen bis zum Anschlag aufgedreht.

Ein paar Minuten später war er dann unter einem Vorwand ausgestiegen und öffnete unbemerkt die Türe des Abstellschränkchens. Das explosive Gas verteilte sich im Innenraum.

Als er einige Meter gegangen war, rief er sie auf ihrem Handy an. Nach dem ersten Klingelton kam es zur Explosion.

Der Rechtsmediziner meinte später, dass sie ihren Tod nicht mal mehr gemerkt haben dürfte. Ihre verbrannten und zerfetzten Überreste fanden sich später blutverschmiert unter den Trümmern des Wohnwagens.

Der Täter wurde bei der Explosion nur leicht verletzt. Nach ein paar Stichen hier und da, konnte er noch in der Ambulanz des Krankenhauses befragt werden.

Er faselte von Stimmen, die ihm befohlen hätten, ein großes Licht zu machen. Nur so könne er seine Freundin zurückbekommen.

Die gleiche Geschichte wiederholte er auch vor einer Psychiaterin. Aufgrund des psychiatrischen Gutachtens konnte er später vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Köln nicht wie ein gewöhnlicher Verbrecher wegen Mordes oder Totschlags verurteilt werden. Stattdessen wurde er in eine forensische Klinik eingewiesen, wo man nach guter Führung die Aussicht haben kann, bereits nach zwei Jahren wieder entlassen zu werden.

Paul Westhoven hatte sich bei der Urteilsverkündung der Magen umgedreht, wenn er daran dachte, dass dieser angeblich Schizophrene wieder frei herumlief und sein nächstes Opfer suchen könnte. Der lachte sich doch innerlich über die Justiz in diesem Land kaputt. Bevor Paul Westhoven das Haus verließ, ging er ins Schlafzimmer. Er nahm Annes Gesicht in seine Hände und drückte ihr noch einen Kuss auf die Wange. Mit knurriger Stimme wünschte sie ihm viel Spaß. Er nickte ohne ein Wort zu sagen. Auf keinen Fall wollte er sie zum jetzigen Zeitpunkt zu einem Streit reizen.

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Durch die Dunkelheit ging er zur Garage und stieg in seinen alten Golf, der ihn noch nie im Stich gelassen hatte. Ihm war kalt, als er sich ins Auto setzte und so schaltete er als erstes die Heizung ein. Er wusste, dass das bei kaltem Motor nichts nützte, aber irgendwie war es beruhigend. Nachdem er den Schlüssel herumgedreht hatte, sah er, dass die Tanknadel im roten Bereich war. Gestern Abend hatte er keine Lust gehabt noch zur Tankstelle zu fahren. „Die paar Kilometer zum Präsidium werde ich schon schaffen“, sagte er leise vor sich hin, ärgerte sich über sich selbst und fuhr aus der Siedlung heraus zur Bergisch Gladbacher Straße.

Beim ersten Halt an der Ampel schaltete er das Radio ein. Aus den Lautsprechern ertönte ein bekanntes Kölner Karnevalslied und so sang er lauthals mit: „Komm loss mer fiere...“, so dass er putzmunter wurde. Aus dem Handschuhfach angelte er ein Stück der dort deponierten Schokolade.

Ein leichter Nieselregen setzte ein und er stellte die Scheibenwischer auf Intervall. Wenigstens hatte er um diese Zeit freie Fahrt. Auf dem Weg zum neuen Polizeipräsidium in Kalk fuhr er über die A4. Die neue Ausfahrt auf der Zoobrücke, führte ihn direkt bis vor das moderne Gebäude.

Er stellte sein Auto auf Ebene 4 des Parkhauses ab und ging schnellen Schrittes zum Haupteingang.

Ein Blick im Foyer nach oben zeigte ihm, dass im Geschäftszimmer des Kriminalkommissariates 11, kurz KK 11, schon Licht brannte. ‚Gut’, dachte er, ‚hoffentlich ist schon frischer Kaffee aufgesetzt’. Kaffee durfte zur ersten Lagebesprechung nicht fehlen. Um wach zu werden, brauchte er immer eine starke Tasse Kaffee und eigentlich auch eine Zigarette.

Er stieg in den Aufzug und fuhr in die vierte Etage. Seine Kollegen Jochen Gerber und Heinz Dember saßen schon im Geschäftszimmer. Heinz musste auch eben erst gekommen sein, denn er hatte seine Jacke noch an.

Gerber war seit fast sieben Jahren beim KK 11 und stellvertretender Leiter der Mordkommission 6. Mit seinen 45 Jahren war er ein eher ruhiger Typ, der niemandem auf die Füße treten wollte. Seine Arbeit war stets professionell, sein Auftreten seriös. Darauf legte Gerber großen Wert.

Dember war erst seit zwei Monaten im Team. Er war auf eigenen Wunsch direkt nach der Ausbildung zum Kommissar zur Mordkommission versetzt worden. Er war 30 Jahre alt, ein netter und aufstrebender Beamter, der zu Widerspruch neigte, aber zumindest viel theoretisches Wissen mitbrachte.

„Morgen Männer“, sagte Paul Westhoven, nachdem er den Raum betreten hatte. „Alles frisch?“

„Machst Du Witze, ich war noch gar nicht im Bett“, antwortete Heinz Dember. Die dunklen Ränder unter seinen Augen sprachen Bände.

„Umso besser, dann musstest Du wenigstens nicht aufstehen“, sagte Paul Westhoven in süffisantem Ton.

„Aber Scherz beiseite. Schuster hat mir am Telefon erzählt, dass jemand im Imbiss Yalla in der Keupstraße eine Kugel in den Kopf bekommen hat“, lenkte er auf den neuen Fall. „Mehr weiß ich noch nicht.“

„Der Tote heißt Ralf Baum, 35 Jahre, hat eine dicke Akte bei uns“, warf Gerber ein.

Das Telefon klingelte. Dember saß am nächsten dran und hob den Hörer ab.

„Mordkommission, Dember, guten Morgen.“ Er nickte zustimmend. „Richtig, in der Keupstraße. - Nein, mehr wissen wir noch nicht.“ - „Ja, der steht neben mir, ich reich den Hörer mal weiter.“

„Hier für Dich, Pressestelle“, er hielt Westhoven den Hörer entgegen.

„Westhoven“.

„Walter Schmitz von der Pressestelle. Grüß Dich, Paul. Kannst Du schon was Näheres sagen?“

„Hör mal Walter, wir sind zwar gut, aber wir sind keine Hellseher. Außer dass ein 35-jähriger Mann in einem türkischen Imbiss in der Keupstraße erschossen wurde, wissen wir noch nichts. Wir waren ja noch nicht mal am Tatort.“

Diese frühen Anfragen der Pressestelle nervten ihn immer wieder. Auch wenn er mittlerweile auf zehn Jahre Berufserfahrung als Todesermittler zurückgreifen konnte und ihm im letzten Jahr die Leitung der Mordkommission 6 (MK 6) übertragen worden war - ein Hellseher war er nicht.

Er vertröstete Schmitz auf später und sicherte ihm zu, dass er ihn informieren werde, sobald er einen Überblick über die Lage vor Ort habe.

Paul Westhoven spulte die Routine ab: den Erkennungsdienst alarmieren, den zuständigen Staatsanwalt informieren, seinen Direktionsleiter und den Kriminalinspektionsleiter in Kenntnis setzen. Dann machten sich die Mordermittler der MK 6 auf den Weg.

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Paul Westhoven fuhr den Ford Mondeo, Dember und Gerber den VW Passat der MK-Bereitschaft. Zusammen trafen sie schon nach knapp sieben Minuten in der Keupstraße ein.

Blitzende Blaulichter erhellten die Straße. Es wimmelte von Streifenwagen und neugierigen Presseleuten. Aufgeregte Anwohner und Gäste standen in kleinen, zum Teil heftig gestikulierenden Gruppen trotz Regens auf der Straße.

Unter den wartenden Presseleuten war auch der Lokalreporter Dirk Holm. Er war überall dort, wo sich in Köln möglicherweise Schlagzeilenträchtiges tat. Paul Westhoven mochte ihn nicht. Holm schrieb für den Express. Er war mit allen Wassern gewaschen. Fakten und Tatsachen störten ihn nicht. Ein Wort zu viel zu ihm und man wurde am nächsten Tag im Express grotesk übertrieben zitiert. Das war Westhoven einmal passiert, ein zweites Mal würde es nicht geben. Seitdem ignorierte er Holms Fragen und verwies ihn stur an die Pressestelle. Dort würde Holm sowieso nur Informationen bekommen, die er zuvor abgesegnet hatte.

Uniformierte Polizisten hatten den Tatort rund um den Imbiss mit rot-weißem Flatterband mit der Aufschrift „Polizeiabsperrung“ großräumig abgesperrt.

Paul Westhoven und seine beiden Kollegen stiegen aus ihren Fahrzeugen und gingen rasch hinter die Absperrung. Die Presseleute waren davon wenig begeistert und maulten. Hatten sie doch auf ein erstes Statement gehofft.

Der Regen war inzwischen stärker geworden. Westhoven klappte gegen den eisigen nasskalten Wind seinen Mantelkragen hoch. Ein Beamter kam auf sie zu.

„Guten Morgen allerseits. Jochen Groß, Dienstgruppenleiter in der Polizeiinspektion Nordost. Wir waren zuerst am Tatort. Dem Kollegen von der Kriminalwache habe ich schon alles gesagt. Können wir abbrechen? Wir sind bis auf die Knochen durchnässt.“

„Tut mir leid, aber das geht leider noch nicht“, antwortete Paul Westhoven in ruhigem Ton. „Du siehst doch, was hier los ist. Ihr müsst die Absperrung aufrecht halten. Ohne Absperrung können wir nicht vernünftig arbeiten. Wir sagen euch aber sofort Bescheid, wenn ihr abrücken könnt.“

Paul Westhoven sah den Kollegen von der Kriminalwache halbverdeckt unter seinem überdimensionalen Regenschirm vor dem Imbiss stehen. Er stellte sich dazu. Nach ein paar Sätzen wusste er, dass es einen Augenzeugen gab. Der Besitzer des Imbisses, Mustafa Yalla, hatte als mutmaßlichen Täter einen Hasen beschrieben.

Nachdem er sich Notizen gemacht hatte, ging er zum Imbiss hinüber, um sich einen Überblick über die Tatortsituation zu verschaffen. Das machte er immer so.

Der Imbiss befand sich im Erdgeschoss eines seit seiner Erbauung in der 50er Jahren nicht mehr renovierten Wohnhauses. Rechts vom Imbiss-Eingang befand sich die Haustür. Auf der Klingelleiste waren keine Namen verzeichnet. ‚Tolle Gegend hier’, dachte er sich. Die Leute, die hier wohnten, wollten wohl aus den unterschiedlichsten Gründen lieber anonym bleiben.

Über der beschlagenen Fensterscheibe des Imbisses war das Firmenlogo angebracht. Paul Westhoven fiel auf, dass die Leuchtreklame defekt war.

Als er die Tür zum Dönerimbiss öffnete, schlug ihm der typische Geruch von altem Frittenfett entgegen. Er blieb inmitten des Raumes stehen. Für einige Momente ließ er die Umgebung auf sich wirken. Der Spielautomat war eingeschaltet und machte in unregelmäßigen Abständen mit glucksenden und musikalischen Geräuschen auf sich aufmerksam.

Die Wände waren von Nikotin und Fettschwaden braun verfärbt. Westhoven stellte sich neben das Opfer und schloss für einen Moment die Augen. Dabei nahm er den eisenhaltigen Geruch menschlichen Blutes wahr. Für ihn roch es eigentlich immer gleich, wenn Blut und Gehirnmasse aus dem Kopf getreten waren. Er blickte sich weiter um.

Der Tote lag rücklings auf dem klebrigen Fliesenboden. Sein Gesicht war aufgequollen und blutig verfärbt. Der Belag einer türkischen Pizza mischte sich mit Blut auf dem Gesicht.

Sein rechtes Auge war geplatzt, das linke weit aufgerissen.

Der Mann war groß und wirkte durchtrainiert.

Sein Gesicht war braun gebrannt. Die schulterlangen dunkelblonden Haare waren lockig, seine Kleidung ordentlich. An seinem linken Handgelenk befand sich eine teure Rolex mit schwarzem Armband. Er wirkte in diesem Raum wie ein Fremdkörper.

Michael Drees von der Spurensicherung betrat den Imbiss. „Können wir loslegen?“, fragte er. „Na klar, ich wollte mir nur mal einen Überblick verschaffen.“ Westhoven verließ den Laden und instruierte seine Kollegen Gerber und Dember.

Sie sollten den Tatort aufnehmen. Er selbst bestellte sich den Imbissbetreiber für eine gründlichere Befragung zur Dienststelle im Präsidium.

Dort würde er bei ihm eine Schmauchspurensicherung durchführen lassen. Man konnte ja nie wissen. Schließlich war der Imbissbesitzer bislang der einzige Zeuge.

Mittlerweile war Staatsanwalt Walter Asmus eingetroffen. Westhoven kannte ihn als penibel und alles in Zweifel ziehend und nicht wenige Entscheidungen Asmus hatten ihn schon an den Rand der Verzweifelung getrieben. Westhoven schätzte allerdings dessen Durchsetzungsvermögen; wenn die Schuld eines Täters erwiesen war, wurde Asmus zum Hardliner und erreichte immer das höchstmögliche Strafmaß vor Gericht. Dies hatte ihm den Spitznamen „Der Terrier“ eingebracht. Westhoven wies ihn kurz in den Fall ein und fuhr dann mit ihm zusammen zurück ins Präsidium. Während der Fahrt spekulierten sie über mögliche Tatmotive.

„Was halten Sie von der Sache, Westhoven?“

„Ich weiß noch nicht, aber irgendwie beschleicht mich das Gefühl, dass dies hier geplant war.“

„Sie meinen eine Art Hinrichtung oder ein Exempel?“

„Ja, irgendwie so was in der Art. Wer steht denn schon seelenruhig im Imbiss und wartet darauf, dass jemand hereinkommt und ihn abknallt?“

„Ja, kann sein. Aber vielleicht war das auch ein Zufall. Vielleicht hat das Opfer den Täter provoziert oder so was. Wäre doch auch denkbar.“

„Dann schon eher ein Auftragsmord, Herr Staatsanwalt. Aber fragen wir erst mal den Imbissbesitzer. Vielleicht kann der uns ja was dazu sagen.“

Nach einer Weile war auch Mustafa Yalla im Polizeipräsidium angekommen. In Begleitung zweier Schutzpolizisten betrat er den Raum. Er stand sichtlich unter Schock und blickte abwesend ins Leere. Die Vernehmung gestaltete sich schwierig. Yalla sprach kaum Deutsch, trotzdem wollte Paul Westhoven nicht gerade jetzt auf einen Dolmetscher warten. Die ersten Eindrücke des Zeugen waren besonders wichtig und er sollte sie schildern, solange sie noch frisch in seinem Gedächtnis waren. Deshalb befragte er ihn nur und machte für sich ein paar stichwortartige Notizen.

„Herr Yalla, ich bin Hauptkommissar Paul Westhoven, das ist Staatsanwalt Asmus“, zeigte er auf diesen. „Können Sie uns bitte erzählen, was sie gesehen und gehört haben?“

„Ich versuchen, Herr Polizei.“ Mustafa Yalla war seine Angst anzumerken, Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Aufgeregt und wild mit den Händen gestikulierend begann er zu erzählen: „Also, erschossene Mann kommt rein Imbiss Yalla. Dann bestellen eine Lahmacun. Hasenmann kommen rein und gehen zu Mann. Dann laute Knall und Mann umfallen. Ich erschrocken zu Tode, weißt Du Chefe. Dann Hasenmann rennen weg“.

„Hat der verkleidete Mann etwas gesagt, können Sie ihn beschreiben? Und womit hat er geschossen und in welche Richtung ist er geflüchtet?“, bohrte Westhoven nach.

Mustafa Yalla antwortete nicht. Seine Augen klebten am Boden. „Können Sie sich sonst noch an etwas erinnern?“, hakte Paul Westhoven nach und musterte Yalla mit einem durchdringenden Blick.

Yalla hob seinen Kopf: „Moment bitte Chefe. Hasenmann reden ganz kurz zu erschossene Mann. Leise sprechen er. Ich nix verstehen. Dann Hasenmann schießen mit Revolver Mann direkt ins Gesicht. Einmal. In Gesicht. Dann weglaufen Mann. Wohin ich nicht wissen. Ich Angst haben, Hasenmann mich auch schießen, weißt Du. Ich verstecken hinter Theke. Hasenmann weg, dann ich Polizei rufen.“ Mustafa Yalla verstummte so schnell wie er gesprochen hatte.

Westhoven spürte, dass es das Beste war, ihn jetzt erst zur Ruhe kommen zu lassen. Er stand offensichtlich zu sehr unter dem Eindruck des Geschehens. Er würde ihn später schriftlich vernehmen. Immerhin wusste Westhoven jetzt, dass der Mörder vor der Tat mit seinem Opfer gesprochen hatte.

Westhoven sah auf seine Armbanduhr. Mittlerweile war es 05:30 Uhr. Sein Magen knurrte und er dachte sehnsüchtig an ein Röggelchen mit einer dicken Scheibe mittelaltem Holländer.

Stattdessen setzte er frischen Kaffee in der Kommissariatsküche auf und kramte einen Riegel Schokolade hervor.

Die zwei Streifenpolizisten, die vor der Tür gewartet hatten, brachten den völlig aufgelösten Imbissbesitzer derweil nach Hause.

Die Tasse Kaffee in der Hand wählte Westhoven die Telefonnummer des Pressesprechers. Er informierte ihn und bat darum, zum Tatort zu fahren. Dort warteten noch immer viele Presseleute, die Antworten auf ihre Fragen haben wollten.

Staatsanwalt Asmus hatte sich inzwischen verabschiedet und war in sein Büro in der Luxemburger Straße gefahren.

Gegen 07:30 Uhr trafen sich Westhoven, Gerber und Dember im Besprechungsraum der Mordkommission. Sie besprachen das weitere Vorgehen und aßen dabei Brötchen aus der Kantine.

Westhoven berichtete zuerst von der Anhörung des Imbissbesitzers:

„Yalla scheint als Zeuge glaubwürdig zu sein. Er hat angegeben, dass der Täter vor dem Schuss etwas zu Baum gesagt hat. Es könnte also eine Beziehung zwischen Täter und Opfer gegeben haben. Hat die Spurensicherung was am Tatort gefunden?“

„Weder eine Hülse noch eine Waffe“, sagte Gerber.

„Und weitere Zeugen außer dem Imbissmann gibt es leider auch keine. Oder sie haben Angst“, ergänzte Dember.

„Dann überprüfen wir Baums Vorleben. Ein paar Informationen haben wir ja schon. Wir klopfen sein persönliches Umfeld ab. Weiß schon jemand, ob er Familie hatte?“, wollte Westhoven wissen.

„Verheiratet war er nicht, aber wir wissen aus unseren Unterlagen, dass er eine Schwester in Pulheim hat. Elke Schwarz“, sagte Gerber.

„Okay, darum kümmert ihr euch bitte. Ich fahre in die Rechtsmedizin. Die Obduktion beginnt um 09:00 Uhr.“

ZWEI

Paul Westhoven und Staatsanwalt Asmus trafen gleichzeitig auf dem Parkplatz der Rechtsmedizin am Melatengürtel ein. Gemeinsam gingen sie über die Ladezufahrt zum so genannten Lieferanteneingang, dem Hintereingang des Instituts.

Im Sektionsbereich des Untergeschosses mischte sich der süßliche Geruch von Leichen mit dem scharfen Geruch von Desinfektionsmitteln. Der hell gekachelte Sektionsraum strahlte eine sterile Kälte aus. Nach ein paar Minuten Aufenthalt dort nahm man jedoch zumindest den Geruch nicht mehr bewusst wahr.

Der fahle Körper Baums wurde vom Gehilfen des Gerichtsmediziners, dem Präparator Pahl, auf einer Bahre in den Raum geschoben und mit einem ächzenden Geräusch auf den Sektionstisch gezogen. Dr. Elmer, der Gerichtsmediziner, diktierte die Sektionsnummer sowie die Personalien des Opfers in das Mikrofon seines digitalen Rekorders, welches von der Decke baumelte.

Dann folgte die detaillierte äußere Beschreibung des Toten: allgemeiner Eindruck, Bekleidung, Zustand, Gewicht der Leiche und die sichtbaren Verletzungen.

„Im Gesichtsbereich, linksbetont, Blutantrocknungen mit Abrinnspuren in Richtung Ohr sowie Schläfenregion. Eine ausgeprägte Blutanhaftung findet sich im Bereich des rechten Augenwinkels. Die rechte Augenpartie ist deutlich vorgewölbt und kräftig livid verfärbt.“

Pähl spülte das bereits eingetrocknete Blut am Kopf mit einem Wasserstrahl ab. Der Pathologe diktierte weiter: „Auf einem Areal von gut 6 cm Durchmesser in Umgebung des rechten Lidspaltes finden sich unzählige stecknadelkopfgroße schwärzliche Hautverfärbungen mit oberflächlichen Hautdefekten, vermutlich Nahschuss.

Offensichtlich wurde ihm direkt ins Auge geschossen. Es ist aufgeplatzt und stark geschwollen.“

Nach fotografischer Sicherung dieses Befundes drehte Pahl den Toten in die Bauchlage.

Dr. Elmer diktierte die weiteren Befunde: „Die linksseitige Hinterhauptregion ist mit einem fetzigen, gut 1,5 cm durchmessenden Kopfschwartendefekt bestanden. Dieser ist x-förmig gestaltet, mit Gewebsbrüchen in der Tiefe. In Umgebung die Kopfbehaarung, mit weißlichen, gehirnartigen Substanzantragungen.“

Beim Wenden der Leiche entwichen ihr übel riechende Fäulnisgase, aus der Mundhöhle kam ein lautes Gurgelgeräusch. ‚Wer das nicht kennt, fällt vor Schreck bestimmt tot um’, dachte Westhoven. Ihm selbst machte das normalerweise nichts mehr aus, aber nach so einer schlaflosen Nacht hatte er schon manchmal ein sensibles Gemüt und eine empfindliche Nase.

Dr. Elmer blieb jedoch unbeeindruckt und Pahl grinste verstohlen in seinen Mundschutz hinein.

Der Obduzent nahm sein Skalpell und begann mit der Öffnung des Leichnams.

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Das frei stehende Einfamilienhaus in Pulheim-Sinnersdorf glich einer Festung. Um das Grundstück herum verlief ein Zaun, der über mehrere Videokameras an den Eckpunkten überwacht wurde. Dahinter döste scheinbar ein Furcht einflößender Rottweiler an einer langen Leine. Er fletschte die Zähne, als Gerber und Dember an das hohe Gartentor traten und klingelten.

Zwei Porsche Carrera, ein schwarzer Hummer und ein Mercedes Benz der S-Klasse mit getönten Scheiben standen glänzend in der offenen Garage.

„Die scheinen hier eine Menge Kohle zu haben“, meinte Dember zu Gerber, welcher zustimmend nickte.

Eine Frau um die Dreißig im Businessdress öffnete die Tür. Der dunkle Hosenanzug betonte ihre schlanke Figur. Lange, dunkelbraune Haare fielen ihr auf die Schulter.

„Sind Sie Elke Schwarz?“

„Ja, ganz richtig“, antwortete sie höflich. „Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“

„Mein Name ist Gerber. Das ist mein Kollege Dember. Wir sind von der Kripo Köln, Mordkommission. Dürfen wir vielleicht reinkommen?“

„Aber bitte, treten Sie näher“, sagte sie mit leiser Stimme. Elke Schwarz trat einen Schritt zur Seite und machte mit ihrer Hand eine Geste zum Eintreten.

Im Wintergarten, der die Größe einer Sozialwohnung übertraf, bat sie die beiden Beamten auf den exklusiven Korbsesseln Platz zu nehmen.

Gerber teilte ihr sachlich den Tod ihres Bruders und die Umstände mit. Elke Schwarz wurde aschfahl, ihr liefen Tränen über die Wangen.

„Haben Sie vielleicht eine Ahnung, wer einen Grund gehabt haben könnte?“, unterbrach Gerber die bedrückende Stille.

Elke Schwarz schüttelte den Kopf und ihr langes Haar blieb dabei an den feuchten Wangenknochen kleben: „Nein“, schluchzte sie. Gerber reichte ihr ein Päckchen Taschentücher: „Erzählen Sie uns bitte etwas über ihren Bruder.“

„Was soll ich Ihnen denn erzählen?“, fragte sie verunsichert.

„Was war er für ein Mensch? Hatte er viele Freunde? War er verheiratet? Solche Dinge“, half ihr Gerber.

„Fangen Sie zum Beispiel bei Ihrer gemeinsamen Kindheit an.“ Elke Schwarz schloss für einen kurzen Augenblick die Lider, atmete tief durch und redete dann wie ein Wasserfall:

„Ralf hat es nicht leicht gehabt. Unser Vater starb, als er zehn war. Er hat sich erschossen. Unsere Mutter hat uns damals erzählt, dass sich Papa an der Börse verspekuliert hatte und dadurch mittellos geworden war.“

Gerber und Dember wechselten einen Blick. Das war nicht unbedingt das, was sie hören wollten. Aber es war sicherlich besser, sie einfach reden zu lassen.

„Ralf hat das nie verkraftet. Er wurde aggressiv und aufsässig, hat die Schule geschwänzt und auch später nichts zu Ende bekommen. Seine Lehre als Gerüstbauer brach er vorzeitig ab.“ Elke Schwarz schnäuzte sich und sprach weiter. „Das änderte sich, als er mit 19 Jahren Sandra Traupiz kennen lernte. Mit einem Mal hatte er wieder Freude am Leben.

Aber die Beziehung ging vor zwei Jahren plötzlich in die Brüche. Verstanden habe ich das nie. Sandra war von jetzt auf gleich aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Seitdem hatte ich nicht mehr viel Kontakt zu meinem Bruder. Aber mein Mann müsste Ihnen mehr dazu sagen können. Ralf und er waren lange Zeit gut befreundet.“

„Vielen Dank, Frau Schwarz. Das reicht fürs Erste. Wenn sich noch Fragen ergeben sollten, melden wir uns“, warf Gerber ein. Er hatte das Gefühl, dass die Befragung nichts brachte. Gerber zückte sein Portemonnaie und zog eine Visitenkarte heraus: „Unter der fettgedruckten Telefonnummer können Sie mich im Büro erreichen. Und sagen Sie Ihrem Mann bitte, dass wir ihn ebenfalls sprechen müssten.

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Dr. Elmer machte mit dem Skalpell erst vom Hals bis zum Bauchnabel einen langen Schnitt, dann von Schulter zu Schulter. Nachdem er das Brustbein durchtrennt hatte, bog er beide Brusthälften auseinander.

In diesem Moment dachte Paul Westhoven, dass für eine zart besaitete Persönlichkeit das hier keineswegs der richtige Ort wäre. Trotz des flauen Gefühls im Magen musste er sich aber als Angehöriger einer Mordkommission zusammenreißen. Schließlich konnten nur durch die Obduktion der Leiche Rückschlüsse auf die Art der Tötung, den Todeszeitpunkt und ein mögliches Motiv gefunden werden. Paul Westhoven verdrängte das Gefühl im Magen. Als Profi musste er in der Lage sein, an den kalten stählernen Tisch heranzutreten, um sich aus nächster Nähe die Befunde anzuschauen.

Am Leichnam war unter der Hautschicht das maisgelbe, schwach ausgeprägte, etwa 2 cm dicke Fettgewebe zu sehen. Ralf Baum hatte eine prägnante Brustmuskulatur. Seine inneren Organe waren intakt gewesen und im Magen wurde eine breiige, teils unverdaute Masse mit Speiseresten gefunden. Westhoven stieg der Geruch von Alkohol und unverdauten Zwiebeln in die Nase.

Nachdem der Präparator die Kopfhaut gelöst und über das Gesicht geklappt hatte, sägte er das Schädeldach auf. Ein Geräusch und Anblick, welcher schon manchen jungen Kriminalisten aus dem Raum getrieben hatte.

Dr. Elmer benutzte zur Verdeutlichung des Schusskanals eine Sonde aus Metall und steckte sie dort hinein.

Von der Augenhöhle zum Hinterkopf hin, gestaltete sich eine lange Frakturlinie. Das Gehirn war blutig zerfetzt. In der fleischigen Masse lag ein Projektil. Es war stark deformiert.

Nach den makroskopischen Untersuchungen der inneren Organe wurde der Brustraum wieder zugenäht, der Kopf wieder geschlossen. Die Sektion war beendet.

„So meine Herren, Sie wollen jetzt bestimmt von mir die Todesursache wissen?“, fragte Dr. Elmer.

„Deswegen sind wir hier“, antwortete Staatsanwalt Asmus trocken. „Also gut. Wie Sie ja beide sehen und auch von mir während der Befundaufnahme hören konnten, hat der Tote keine sichtbaren Abwehrverletzungen.

Lebensbedrohliche Krankheiten hatte er auch nicht. Im Gegenteil, er dürfte sich bester Gesundheit erfreut haben.

Todesursächlich ist auf jeden Fall die Kopfschussverletzung. Die Kugel hat ihm nahezu vollständig das Gehirn zerstört. Ich mutmaße, dass er den Aufprall auf den Boden nicht mehr gemerkt hat. Diese Verletzung war mit Sicherheit sofort tödlich.“

Dr. Elmer nahm das Projektil, säuberte es und reichte es Westhoven. „Für Ihre weiteren Ermittlungen.“

„Danke, Dr. Elmer.“ Westhoven nahm das Projektil und verstaute es in einer kleinen Plastikdose. Er wollte es so schnell wie möglich beim Landeskriminalamt untersuchen lassen. Vielleicht könnte der Waffentyp oder sogar die Tatwaffe dadurch ermittelt werden.

Mit einem „Danke, ihre Arbeit war wie immer sehr aufschlussreich“, verließen sie die Gerichtsmedizin.

Auf dem Parkplatz des Institutsgebäudes unterhielten sich Paul Westhoven und Asmus noch kurz über das Ergebnis der Obduktion.

„Und, Westhoven? Was halten Sie nun von der Sache?“

„Ich spekuliere nur ungern, aber wenn ich die Aussage von dem Imbissbesitzer und die Erkenntnisse aus der Obduktion betrachte, denke ich, dass wir es mit einer eiskalt geplanten Tat zu tun haben.“ Staatsanwalt Asmus nickte zustimmend und schob dabei seine Unterlippe nach vorn. Dann verabschiedeten sie sich.

Es war jetzt 13.30 Uhr. Der Himmel klarte auf, und der Rest des Karnevalssamstags versprach schön zu werden.

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Gerber und Dember saßen in ihrem Büro und schrieben an ihrem Bericht. Westhoven trat hinzu, erläuterte knapp das Ergebnis der Obduktion und zeigte ihnen das Projektil. Er beauftragte Gerber das Projektil mitsamt dem Antrag zur Kriminaltechnischen Untersuchungsstelle zu bringen.

Gerber nahm das Projektil und erzählte beiläufig von der fruchtlosen Befragung von Elke Schwarz.

„Vielen Dank, Jochen. Wenn Ihr nichts mehr habt, schlage ich vor, dass wir für heute Schluss machen und uns erst einmal ausschlafen.“

„Gute Idee, Paul“, gähnte Gerber.

„Ja, ich bin auch ziemlich am Ende“, schloss sich Dember an.

Paul Westhoven ging zu seinem Golf, startete den Motor, nahm den obligatorischen Schokoladenriegel aus dem Handschuhfach und fuhr langsam los. Die Werbung im Radio nervte, er schaltete es wieder aus.

Nachdem er an der nächsten Tankstelle, der Esso am Rheinufer, voll getankt hatte, nahm er sein Handy und rief zu Hause an. Anne hatte sich über die Karnevalstage frei genommen und war deshalb da. Er sagte ihr, dass er in ungefähr 25 Minuten zu Hause sein werde.

Dann startete er den VW und fuhr gut gelaunt in Richtung Autobahnzubringer. Er freute sich auf seinen langen Feierabend mit Anne.

DREI

Als in der Mittagszeit ihr Kundentelefon klingelte, meldete sich Sanne von Ehlen mit ihrem „Künstlernamen“. „Hallo, hier ist Chantal, was kann ich für Dich tun?“, hauchte sie in den Hörer.

„Ja, also, ich würde gerne ein Date mit Dir vereinbaren“, sagte die männliche Stimme.

Sanne war die Stimme des Anrufers angenehm. Sie klang jung und doch männlich.

„Wann wäre ich Dir denn recht, Süßer?“, hauchte sie stöhnend in den Apparat.

„Geht es heute noch?“

Sanne sah in ihrem Terminkalender nach und antwortete: „Heute Nachmittag um sechs habe ich Zeit für Dich.“

„Da hab ich ja richtig Glück.“

Sie sagte dem Anrufer, dass er fünfmal kurz hintereinander den roten Klingelknopf drücken solle. Dann würde sie wissen, dass er es sei.

Nach dem Gespräch ging Sanne ins Badezimmer und machte sich frisch. Später würde sie sich noch ihre „Arbeitskleidung“ und die Kondome zurechtlegen. Eine Routineprozedur vor jedem Kunden. Sie beschloss vor dem Treffen um 18:00 Uhr bei dem Chinesen um die Ecke noch eine Kleinigkeit zum Essen zu besorgen. Sie mochte die leichte asiatische Kost, am liebsten Curryhuhn mit Reis.

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Zufrieden lehnte er sich zurück, legte das Telefon neben sich auf den Couchtisch und griff zur Schachtel Marlboro. Tief zog er den blauen Dunst in seine Lungen. Dabei starrte er zum Fenster. Für die Verabredung mit Chantal packte er seine kleine schwarze Handgelenkledertasche. Bis zum Treffen hatte er noch ein paar Stunden Zeit.

VIER

Paul Westhoven saß am Karnevalssonntag mit Anne beim Frühstück. Seine Gedanken kreisten um den neuen Fall. Sein Instinkt sagte ihm, dass daran irgendwas faul war. Während er seine Tasse Kaffee genoss, las er im Express die Schlagzeile:

„Mörderhase schoss“

Brutal liquidierte ein Unbekannter im Hasenkostüm den Gast eines Imbisses auf der Keupstraße. Die Polizei steht vor einem Rätsel und tappt im Dunkeln.

Paul Westhoven frühstückte immer sehr wenig. Ihm reichten eine Scheibe Vollkornbrot mit mittelaltem Gouda und eine Tasse Kaffee. Dafür nahm er sich auch nicht viel Zeit. In der Woche musste er stets hetzen und brauchte selten länger als zehn Minuten.

Als er das Haus verließ, wünschte er Anne „Viel Spaß beim Veedelszoch.“ ‚Wenigstens regnet es heute nicht’, dachte er sich. Hoffentlich würde Anne sich gut amüsieren, während er arbeitete. Dass er auch heute zum Dienst musste, machte ihm eher wegen Anne als um seiner selbst etwas aus.

Auf dem Weg zum Polizeipräsidium rief er Staatsanwalt Asmus an: „Guten Morgen, Herr Asmus. Westhoven hier. Wir müssen unbedingt einen richterlichen Beschluss für die rückwirkenden Verbindungsdaten des Opferhandys beantragen. Vielleicht hat er vor der Tat noch telefoniert.“

„Daran habe ich auch schon gedacht, Herr Westhoven. Ich werde mich gleich um einen entsprechenden Beschluss beim Ermittlungsrichter bemühen.“

Gerber und Dember trafen nahezu zeitgleich mit Paul Westhoven im Büro ein, als das Telefon von Gerber klingelte.

„Mordkommission“, meldete sich Gerber.

„Haben Sie mit dem Erschossenen im Imbiss zu tun?“, fragte der Anrufer.

„Ja. Und wie heißen Sie bitte?“

„Hier ist Manfred Schwarz. Meine Frau sagte mir, dass Sie mich sprechen wollen.“

„Gut, dass Sie anrufen. Können Sie in der nächsten Stunde hier erscheinen?“

„So schnell schaffe ich das aber nicht. Geht es auch noch um 17:30 Uhr? Ich habe vorher noch Termine, die ich unmöglich absagen kann“, entgegnete Schwarz.

„Also gut. Aber seien Sie bitte pünktlich. Melden Sie sich bitte unten im Foyer beim Pförtner an und sagen Sie, dass Sie zu mir wollen. Ich hole Sie dann ab.“

„Mache ich. Bis heute Nachmittag, Herr Gerber“, verabschiedete sich Schwarz.

Gerber informierte die anderen über das Telefonat mit Manfred Schwarz. Bis 17:30 Uhr war die Zeit ohnehin mit anderen Ermittlungsansätzen ausgefüllt.

In der Zwischenzeit, so bat Paul Westhoven, sollten sich seine Kollegen um Sandra Traupiz und um die Taxizentrale kümmern. Vielleicht hatte es ja doch eine Fahrt mit einem „Hasen“ gegeben.

Endlich war auch die Kriminalakte über Ralf Baum eingetroffen. Paul Westhoven nahm sie an sich und ging damit in sein Büro. Es war Routine, Akten, wenn vorhanden, von Opfern und natürlich auch von Tätern, genauestens zu studieren. Manchmal ergaben sich gute Hinweise aus den Akten. Dies erhoffte er sich bei Baums Akte auch, zumal dieser so ein ausgedehntes Vorleben hatte.

Dember konnte im Polizeicomputer einiges über Sandra Traupiz herausfinden. Sie war 31 Jahre und wohnte in einem Mehrfamilienhaus in der Rolshover Straße in Köln-Kalk.

‚Prima’, dachte er sich. ‚Das ist ja gleich um die Ecke.’ Gemeinsam mit Gerber machte er sich auf den Weg zu dieser Adresse. Auf halber Strecke fing es wieder leicht an zu nieseln. Dember spannte seinen Schirm auf und bot Gerber an, mit darunter zu kommen.

Oben auf der Klingelleiste klebte ein weißes Schild mit der Aufschrift „Traupiz“. Erst nach langem Klingeln wurde die Haustür endlich aufgedrückt. Dem Klingelschild nach wohnte Sandra im Dachgeschoss. Es schien Gesetzmäßigkeit zu sein, dass aufzusuchende Personen immer mindestens im 5. Stock lebten und dass es entweder keinen Aufzug gab oder dieser nicht funktionierte.

Als die beiden Ermittler oben ankamen, stand ein ca. 40-jähriger, gut durchtrainierter Mann am Treppenabsatz. ‚So ein Angeber’, dachte sich Heinz Dember, ‚da steht der Typ hier im Februar mit Muskelshirt und Boxershorts in dem zugigen Flur.’

Gerber hielt ihm seine Kriminalmarke vor die Nase und erklärte, dass sie von der Mordkommission seien und dringend eine Sandra Traupiz sprechen müssten, als diese neugierig im Türrahmen erschien.

Dember erklärte ihr, dass Ralf Baum erschossen worden war und sie in diesem Zusammenhang als Zeugin vernommen werden sollte. „Was soll ich denn dazu sagen? Ich habe dieses Schwein seit gut zwei Jahren nicht mehr gesehen. Ich kann Ihnen nicht helfen. Lassen Sie mich in Ruhe, ich weiß eh nix“, reagierte Sandra Traupiz impulsiv.

„Hören Sie, wir ermitteln in einem Mordfall. Und Sie sind vielleicht eine wichtige Zeugin. Wenn Sie bei uns keine Aussage machen wollen, dann lassen wir Sie vom Staatsanwalt vorladen. Da haben Sie dann nämlich keine Wahl mehr, sonst kommen Sie mit Ihrer Verweigerung in Beugehaft“, reagierte Gerber bestimmt.

„Also was ist Ihnen lieber?“, mischte sich Dember ein.

Sandra Traupiz zögerte noch einen Moment, dann aber willigte sie zähneknirschend ein, mit den beiden Ermittlern mitzugehen. Sie verabschiedete sich mit einem lang andauernden Zungenkuss von ihrem muskelbepackten Ramboverschnitt.

Nach ein paar Minuten Fußweg erreichten sie den Hintereingang zum Gebäude. Sie fuhren mit der Zeugin im Fahrstuhl in die vierte Etage. Gerber bot ihr einen heißen Kaffee an. Die Stimmung entspannte sich leicht.

Nachdem Dember die persönlichen Daten von Sandra Traupiz ins Protokoll aufgenommen hatte, begann Gerber mit der Befragung.

Sie bestätigte die Angaben von Elke Schwarz. Es schien zu stimmen, dass sie Ralf Baum vor gut zwei Jahren plötzlich verlassen hatte. Den Grund wollte sie aber nicht sagen. Das sei reine Privatsache.

„Sandra, hören Sie mal. Ich habe schon vorhin im Hausflur versucht Ihnen klar zu machen, dass es hier um Mord geht, verstehen Sie?! Also bitte! Arbeiten Sie mit uns zusammen, auch wenn es Ihnen schwer fällt. Sie helfen uns vielleicht mit Ihrer Aussage dem Täter ein Stück näher zu kommen“, versuchte Gerber sie zum Reden zu bringen.

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In seinem Büro studierte Hauptkommissar Paul Westhoven bei einer Tasse Kaffee gründlich die Polizeiakte von Baum.

Seit frühester Kindheit war er immer wieder dem Jugendamt und der Polizei aufgefallen. Schon damals gingen unzählige Diebstähle und Einbrüche auf sein Konto. An zahlreichen Schlägereien war er beteiligt.

Mit 13 Jahren wurde er vor einer Grundschule festgenommen, als er vor den Kindern, die gerade auf dem Schulhof waren, masturbierte.

Danach kam Betrug und Hehlerei hinzu. Offenbar handelte er mit gestohlenen Computern. Nachzuweisen war ihm aber nicht viel. Die Hehlereigeschäfte über Auktionsbörsen im Internet waren gut getarnt. Größere Strafen hatte es deshalb nicht gegeben.

Jedenfalls ging aus der Akte hervor, dass Baum nie wegen einer Haftstrafe eingesessen hatte.

Die Ermittlungen gegen ihn waren entweder ergebnislos verlaufen oder wurden gegen Zahlung einer Geldbuße eingestellt. Seit gut zwei Jahren war kein neuer Eintrag hinzugekommen.

Dies konnte zweierlei bedeuten, entweder, dass Baum ein ehrlicher Mensch geworden war oder dass er seine Taten eben schlauer begangen hatte. Westhoven fand die zweite Variante am realistischsten.

FÜNF

Aus den Lautsprechern dröhnte „Alles neu“ von Peter Fox, als es an der Tür des Appartements von Sanne von Ehlen klingelte. Sie hatte nicht mitzählen können, weil die Musik zu laut gewesen war.

Sanne nahm den Hörer der Sprechanlage und hauchte hinein: „Komm hoch, ich warte schon.“ Gleichzeitig betätigte sie den Türöffner, ließ die Wohnungstür einen Spalt weit offen und ging zurück ins Wohnzimmer. Sie wechselte die Musik, leichte, klassische Musik durchflutete sanft den Raum.

Sanne hatte sich schwarze Dessous und Strapse angezogen, darüber trug sie ein durchsichtiges Negligé.

Ihre blonden Haare fielen ihr bis über die Schulter. Er betrat ohne zu zögern die Wohnung. Warme duftige Luft schlug ihm entgegen. „Hallo Chantal, schön, dass Du Zeit für mich hast. Wie lange haben wir denn?“

„Eine Stunde, wie immer für 150 Euro, cash und im Voraus“, sagte sie ihm näher kommend und fuhr langsam mit der Zungenspitze über ihre knallrot gefärbte Oberlippe.

Aus seiner Manteltasche zog er zwei Scheine, einen 100- und einen 50-Euro-Schein und hielt ihr diese hin.

„Willst Du es Dir nicht bequem machen? Fühl Dich wie zu Hause“, sagte sie die Scheine nehmend und ging durch den kurzen Flur zum Schlafzimmer. Mit einer Geste forderte sie ihn auf, ihr zu folgen. Sanne zog die Nachttischschublade auf und steckte das Geld hinein. Die Matratze auf dem Bettgestell war mit frischem lachsfarbenem Satin bezogen. Direkt über dem Bett hing unter der Decke ein großer Spiegel. Indirekte Beleuchtung schuf die notwendige Atmosphäre. Auf dem Nachttisch stand eine Gipsbüste, ein Abbild von Sanne.

Sie setzte sich mit gespreizten Schenkeln auf die Bettkante, zog ihn an sich heran und öffnete langsam seine Gürtelschnalle. Dabei fühlte Sanne die harte Schwellung in seiner Hose. Routiniert streifte sie ihm ein Kondom rüber. Ein wohliges Stöhnen entwich seinem Mund.

„Warst lange nicht mehr hier“, sagte sie mit leiser Stimme.

„Stimmt. Mach schon, dreh Dich um. Ich will Dich von hinten“, herrschte er sie plötzlich an.

Bereitwillig folgte sie seinem Wunsch, denn sie stand auf seine dominante Art.