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Endstation Brühler
Landstraße

VI. Band der Peter-Merzenich-Reihe

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Ein Kriminalroman von Gereon A. Thelen

Inhalt

Prolog

1. Kapitel: Tatortaufnahme

2. Kapitel: Mordkommission „Jaguar“

3. Kapitel: Eine Begegnung der besonderen Art

4. Kapitel: Ermittlungsgruppe „Turbine“

5. Kapitel: Reza Kermani

6. Kapitel: Gespräch unter Freunden – verzweifelte Wut

7. Kapitel: Auslandseinsatz

8. Kapitel: Eine überraschende Wendung

9. Kapitel: Informationen aus erster Hand

10. Kapitel: Erschreckende Erkenntnisse

11. Kapitel: Der verdächtige Fund

12. Kapitel: Das Video

13. Kapitel: Entwischt

Geständnis

Epilog

Prolog

„Du bist also unser Praktikant? Na dann: Willkommen bei der Mordkommission 3!“, sagte ich zu meinem Gegenüber, einem spindeldürren Mittdreißiger, der mich fast um einen ganzen Kopf überragte, und stieß mit ihm mit meinem Glas Mineralwasser an. Das Auffälligste an Polizeiobermeister Damian Kühnert, unserem „vorübergehenden“ Neuzugang, war seine lange Haarpracht, die er mit einem Pferdeschwanz zu bändigen versuchte. Damian absolvierte bei uns im Rahmen seiner Aufstiegsausbildung zum Kommissar bei unserer Truppe bis Januar ein Praktikum.

„Mensch, Pitter, schön, dich endlich kennenzulernen! Nina, Andríkos und Theo haben mir in den letzten Wochen schon viel von dir erzählt. Wo warst du eigentlich die ganze Zeit?“

Durch den erhöhten Geräuschpegel in dem riesigen Forum unseres Präsidiums verstand ich jedoch kaum ein Wort.

Ich sah mich um: Unzählige Freunde und Kollegen waren erschienen, um mit Kriminalhauptkommissar Karl-Heinz Schütz, dem Leiter der Mordkommission 2 unseres aus fünf ständigen Mordkommissionen bestehenden Kommissariats, seinen sechzigsten Geburtstag – und somit den Tag seiner Pensionierung – zu feiern.

Karl-Heinz hatte sich für seinen großen Tag wahrlich nicht lumpen lassen. Ein Cateringservice hatte in dem riesigen Saal, der nicht nur für Großeinsatzbesprechungen, sondern auch für die alljährliche PP-Karnevalsparty Verwendung fand und dank seiner Bühne an eine Schulaula erinnerte, ein üppiges Büffet aufgebaut. Vor dem Saaleingang hatte er eine Schankanlage installieren lassen, die die durstigen Gäste mit frisch gezapftem Kölsch versorgte – bis auf Theo, unseren Neuen namens Damian und mich. Schließlich waren wir drei als Vertreter unserer Mordkommission mit der Rufbereitschaft an der Reihe. Und das ausgerechnet an diesem Tag …

Ich dachte an die zurückliegenden drei Wochen Urlaub, von denen ich es mir vierzehn Tage mit meinem Kumpel Markus Mottek in Playa del Inglés auf Gran Canaria hatte gutgehen lassen. Zwei Wochen Sonne, Strand, Meer und wilde Partys mit den heißen Engländerinnen. Besonders mit einer, Judy … Mann, wie gerne wär ich direkt wieder zurückgeflogen, statt bei diesem November-Mistwetter auf den nächsten Toten zu warten. Nach dem Stress und den bitteren Enttäuschungen der letzten Zeit hatte ich diese Auszeit dringend gebraucht.

„Ich hatte Urlaub“, antwortete ich Damian lapidar, ohne auf die Einzelheiten einzugehen. Die Erinnerung an diese schöne Zeit wollte ich momentan einfach mit niemandem teilen. Schließlich war es mein erster Arbeitstag und ich war gedanklich noch gar nicht wieder in Köln angekommen.

„Und wo warst du heute?“, fragte ich unseren Praktikanten.

„Beim Landgericht in Aachen. Als Zeuge in der Verhandlung gegen ’nen Dealer, den ich letztes Jahr auf der Raststätte Aachener Land Süd hopsgenommen hab. Da konnte ich mich schon gar nicht mehr richtig dran erinnern. Diese Justiz ist echt so was von lahm …“

„Also stimmt das ja wirklich, dass du bei der Autobahnpolizei warst?!“

Damian nickte. „Genauer gesagt beim ET Autobahn in Eschweiler.“

Leicht verwundert schaute ich meinen neuen Kollegen an. Zwar wusste ich, dass sich neben den einzelnen Polizeiinspektionen und unserer Kriminaldirektion auch die Autobahnpolizei einen eigenen Einsatztrupp leistete - in zivil agierende Streifenbeamte, die eigentlich die Straßen- und Drogenkriminalität bekämpfen sollten, aber auch oft für Observationen oder Fahndungsmaßnahmen herangezogen wurden. Aber was es für die Jungs speziell auf der Autobahn zu tun geben sollte, hatte ich mich schon des Öfteren gefragt.

Damian musste gemerkt haben, dass ich ziemlich verdutzt schaute. „Tja, Mann, wir sind das reale Vorbild für ‚Cobra 11‘ - zuständig für die autobahnspezifische Kriminalität: Planenschlitzer, Schleuser, Autodiebe, Drogendealer.“

„Planen-was?“

„Planenschlitzer. So nennen wir die organisierten Banden, die nachts auf den Rastplätzen die Ladung von den Lkws klauen – oder direkt die ganzen Lastwagen. Ist für viele Speditionen ’n Riesenproblem.“

„Ich hab heute gesehen, dass du dich in unserem Büro schon häuslich eingerichtet hast - dabei bleibst du doch bloß ein paar Wochen!“, sagte ich und dachte an die ganzen Poster und Wimpel von Bayer 04 Leverkusen, die Darios Arbeitsplatz seit meiner Rückkehr „verschönerten“.

Tja, der arme Dario. Nach der Neustrukturierung unseres Präsidiums und der K-Wache im Sommer hatte er zu den Ersten gehört, die im Oktober für ein ganzes Jahr aus ihren Stammdienststellen abgezogen worden waren, um den frisch aus der Taufe gehobenen 24-Stunden-Dauerdienst der K-Wache personell zu verstärken. Dario war alles andere als begeistert, als er von Micha, unserem Kommissariatsleiter, dazu verdonnert worden war …

„Ich hoffe, es macht dir als Urkölner nix aus, dass ich ’n paar Fanartikel von meinem Verein aufgehängt hab. Aber die brauch ich halt immer um mich rum.“

„Kannst ganz beruhigt sein. Ich interessier mich nicht sonderlich für Fußball. Obwohl – wenn schon, dann doch lieber der FC als diese bekloppte Pillendreher-Truppe. Wie kommst du überhaupt auf die?“

„Na, ich bin vielleicht Leverkusener?!“

„Auch das noch! Und dann bist du jeden Tag nach Eschweiler gefahren?“

„Deshalb bin ich ja froh, dass ich jetzt hier das Praktikum machen kann. Vielleicht gefällt’s mir ja und ich komm nach der Ausbildung ganz zu euch.“

„Keine Drohungen!“, sagte ich und stieß den Kollegen freundschaftlich in die Seite. Wir mussten beide lachen.

Aufkeimender Applaus lenkte unsere Aufmerksamkeit auf die Bühne, die Karl-Heinz betreten hatte. Er blickte sich leicht verlegen um und nahm das Mikro in die Hand. „Danke, liebe Leute, danke“, sagte er, um den Applaus abzuwürgen. „Tja, was soll ich sagen? Eigentlich wollte ich mich vor einer Ansprache drücken, aber meine Inge meinte, dass sich das unmöglich vermeiden ließe.“

Karl-Heinz blickte liebevoll in die Richtung seiner Frau, die am Rande der Bühne stand und ihn anlächelte. Dann erhob er wieder seine unverkennbare sonore Stimme.

„Sechzig Jahre liegen jetzt hinter mir – davon fast vierundvierzig bei der Polizei. Als ich mit sechzehn bei der Truppe anfing, war ich ein kleiner, schüchterner Junge vom Land, der noch nicht viel von der Welt gesehen hatte. Die Ausbildung bei der Hundertschaft war hart. Manchmal habe ich geglaubt, ich sei bei der Bundeswehr gelandet. Als Ausbilder hatten wir alte Wehrmachtssoldaten, die wohl immer noch glaubten, sich im Krieg zu befinden. Ausbildung an MG und Handgranaten gehörten damals noch zum Standardprogramm eines Anwärters bei der Polizei. Mann, haben die uns gedrillt. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen!

Als ich nach der Ausbildung zum PP Köln versetzt wurde, war ich von dieser großen Stadt und ihren Menschen einfach nur beeindruckt. Klar, ich hatte unser Kölle schon als Schüler auf Klassenfahrt besucht. Aber ansonsten war es vollkommen unüblich, sich mal eben in den Zug oder ins Auto zu setzen und nach Köln zu fahren, um zu shoppen oder was zu trinken.“

Karl-Heinz, der aus dem beschaulichen Windeck im Siegtal stammte, nahm einen Schluck Kölsch und schüttelte lächelnd den Kopf.

„Ich werde nie meine erste Fußstreife im Stavenhof am Eigelstein vergessen, also dem damaligen kölschen Rotlichtbezirk. Wir hatten den handfesten Streit zwischen einem Zuhälter und einem, sagen wir mal, unzufriedenen Freier mitbekommen. Mein Streifenführer, der Jupp Kürten, war ein alter erfahrener Hauptwachtmeister – und ein urkölsches Original. Der hat die beiden am Schlafittchen gepackt und einfach nur gesagt: ‚Hört jetz endlich ens op met dem Dress! Wat soll dat dann? Mer jon jetz eine suffe un dann es dat he verjesse! Oder wollt ehr leever en et Kittche?‘ Also sind wir zu viert in die nächstbeste Kneipe und haben die beiden Streithähne feuchtfröhlich versöhnt. Ich muss wohl kaum erwähnen, dass Jupp alle unter den Tisch getrunken hat. Als die beiden schon lange weg waren, stand ich mit meinem Kollegen bei Kölsch und Bommerlunder immer noch an der Theke. Den Weg zurück zur Wache habe ich aus eigener Kraft nicht mehr geschafft. Der Jupp hat mich untergehakt und zur Dienststelle geschleppt. Als die anderen fragten, was mit mir los sei, hat er nur gesagt, dass ich was Schlechtes gegessen hätte.“

Wir mussten alle über diese amüsante Episode aus Karl-Heinz’ Berufsleben lachen. Eine Geschichte, die heutzutage in dieser Form undenkbar wäre – wenn man nicht darauf aus wäre, als Sammler von Disziplinarverfahren präsidiumsweite Berühmtheit zu erlangen …

Karl-Heinz setzte seine kleine Zeitreise unbeirrt fort. „Dann kamen die Siebziger. Studentenproteste, RAF-Terror, Rasterfahndung, Straßensperren. Zwangsläufig wurde von den gemütlichen Schutzlück op d’r Eck mehr Professionalität gefordert. Spezialeinheiten wurden aufgestellt, die Ausbildung verbessert. Der militärische Drill in den Polizeikasernen wich immer mehr dem kooperativen Führungsstil. Während es in den Sechzigern noch einen Haarerlass gab, der uns verbot, lange Haare zu tragen, schaute in den Siebzigern eine regelrechte Matte unter den meisten Uniformmützen hervor.

Die Achtziger brachten dann Autonomendemos, Straßenschlachten, die Junkieszene und immer mehr Respektlosigkeit gegenüber uns Polizeibeamten.

In den Neunzigern versuchte man fatalerweise, Schutz- und Kriminalpolizei unter einen Hut zu bringen und in einer gemeinsamen Abteilung Gefahrenabwehr/Strafverfolgung zu organisieren. Jeder sollte alles können – aber nichts richtig. Tja, spätestens seit dem Modellversuch, der seit ein paar Monaten in unserer Dienststelle durchgeführt wird, wissen wir, dass diese beiden Polizeizweige ihre jeweiligen Spezialisten brauchen und kein Beamter, egal, wo er arbeitet, so einfach von heute auf morgen ausgetauscht werden kann.“

Karl-Heinz blickte sich bedeutsam in der Runde um.

„Was ich mit meiner kleinen Geschichte sagen wollte: Ich habe nie bereut, Polizist zu werden. Trotz der Widrigkeiten aus Politik und Gesellschaft und der ständigen Reformen und Umstrukturierungen gibt es in meinen Augen kaum einen abwechslungsreicheren und schöneren Beruf. Und obwohl ich heute sage, dass ich mich auf den nächsten Lebensabschnitt freue, wird mir dieser Verein fehlen. Und dann gibt’s da noch eine Sache, die mich ziemlich belastet: Meinen letzten Fall konnte ich leider nicht zum Abschluss bringen. Ich hoffe, dass du, lieber Ralf, als mein Nachfolger die Ermittlungen weiter vorantreibst und diesen gewissenlosen Täter erwischst!“, sagte Karl-Heinz und prostete seinem Nachfolger als Leiter der Mordkommission 2 zu – Kriminalhauptkommissar Ralf Brambach, einem jungenhaft wirkenden Mann in den Vierzigern.

Ralf hatte unser Kommissariat bei Mordermittlungen als Kaderkraft schon des Öfteren personell unterstützt, obwohl er seit einiger Zeit eigentlich bei der Vermisstenstelle des KK 12 beziehungsweise nach der Neustrukturierung im Sommer beim neugeschaffenen KK 66 arbeitete. Ich freute mich, dass die Wahl für die Besetzung von Karl-Heinz’ Posten auf den sympathischen Kollegen gefallen war, dessen Hilfsbereitschaft schon fast an Selbstlosigkeit grenzte. Neben seiner Erfahrung als Kaderkraft konnte er auch auf eine (wenn auch kurze) Dienstzeit beim KK 11 zurückblicken, die jedoch schon Jahre zurücklag.

„Was meinte der Karl-Heinz denn damit, dass er seinen letzten Fall nicht abschließen konnte?“, fragte mich Damian.

„Hast du denn davon bei den Frühbesprechungen nichts gehört? Im August ist auf einem Waldparkplatz in der Nähe des Decksteiner Weihers eine ukrainische Prostituierte namens Tetiana Bublitschenko tot aufgefunden worden. Die arme Frau wurde erstochen und regelrecht skalpiert, nachdem man sie brutal vergewaltigt und misshandelt hatte. Karl-Heinz und seine Kollegen haben monatelang als MK ‚Parkplatz‘ versucht, den Täter zu finden – aber bis heute leider ohne Erfolg. Wenn du Karl-Heinz besser kennen würdest, wüsstest du, wie nah ihm das geht. Der ist Polizist durch und durch. Und gerade dieser Fall ist ihm ziemlich an die Nieren gegangen. Das Mädchen war mit seinen zweiundzwanzig Jahren genauso alt wie seine jüngste Tochter.“

„Ist ja heftig“, meinte Damian und nippte an seinem Wasserglas. „Aber jetzt, wo du’s sagst, kann ich mich doch daran erinnern, dass Karl-Heinz morgens mal davon erzählt hat. Aber der hat die Ermittlungen nur am Rande erwähnt. Gab ja wohl keine Neuigkeiten in dem Fall.“

Zwischenzeitlich hatten wir beide wohl versäumt, dass Karl-Heinz zum Ende seiner kleinen Rede das Büffet eröffnet hatte. So reihten wir uns in die Schlange vor den dampfenden Kesseln ein und mampften Kasseler mit Püree und Sauerkraut.

Ein hagerer, großer Mann mit hellblonden Haaren, abstehenden Ohren, furchigem Gesicht und Brille trat an unseren Stehtisch. „Und Männer, alles klar bei euch?“, wollte Kriminalhauptkommissar Theo Voß, der Leiter unserer MK 3, wissen. „Wie war überhaupt dein Urlaub, Pitter? Wir hatten ja heute gar keine Zeit, zu quatschen.“

„War ganz okay“, antwortete ich meinem direkten Vorgesetzten kurz angebunden.

„Na dann: Guten Appetit!“, sagte Theo und führte die Gabel mit Sauerkraut zum Mund.

„Hey, Jungs, macht mal Platz!“ Eine Blondine Ende zwanzig mit großen blauen Augen schob mich sanft beiseite. Mit Kriminalkommissarin Nina Lavrović – Nina Ossendorf hatte im Sommer geheirat – war unsere Mordkommission 3 fast vollständig.

Zu guter Letzt gesellte sich auch Kriminalkommissar Andríkos Vikelas, neben mir einer der dienstältesten Sachbearbeiter der Mordkommission 3, zu uns an den Tisch und komplettierte unser fünfköpfiges Team. „Jasu“, sagte der Enddreißiger mit den gegelten Haaren und prostete uns mit seinem Glas Kölsch zu.

Der Abend verging wie im Flug.

„Ihr müsst mich jetzt entschuldigen“, sagte Theo um Viertel nach neun und ging zusammen mit den übrigen vier MK-Leitern und dem Leiter des KK 11, Micha Götz, auf die Bühne. Zu den Klängen des wehmütigen Trude-Herr-Songs „Niemals geht man so ganz“ überreichten sie dem modellbahnbegeisterten Karl-Heinz das Geschenk unseres Kommissariats: eine komplette ICE-3-Garnitur von Märklin. Als Karl-Heinz das Geschenk entgegennahm, standen Tränen in seinen Augen.

Als nächster Höhepunkt des Abends stürmten Karl-Heinz’ Kollegen von der MK 2 auf die Bühne. Da sowohl Thorsten Herberts als auch Rudi Antonelli, Marco Dyck und Arnim Böll allesamt kräftig gebaut und/oder groß waren, nannten wir diese Truppe auch „Karl-Heinz und seine schweren Jungs“. Sie überreichten ihm ihr ganz persönliches Abschiedsgeschenk: einen Gutschein für eine Ballonfahrt über das Bergische Land.

Im weiteren Verlauf des Abends hielten sowohl der Leitende Kriminaldirektor Heinz Salm, Leiter der neugeschaffenen Direktion Kriminalitätsbekämpfung, als auch Kriminaldirektor Norbert Fahnenschmidt, Leiter der ebenfalls neu aufgestellten Kriminalinspektion 1, flammende Lobreden auf Karl-Heinz’ erfolgreiches Berufsleben.

Ich sah Fahnenschmidt zweifelnd an: Dieser Mann, der bis zum Sommer schon jahrelang die ehemalige Kriminalgruppe 1 der nunmehr aufgelösten Zentralen Kriminalitätsbekämpfung geleitet hatte, würde sich bis zu seiner Pensionierung Ende Januar wohl nicht mehr ändern. So lange ich ihn kannte, war er ein Wichtigtuer gewesen, der sich gerne in alles einmischte, aber von nichts richtig Ahnung hatte. Auch jetzt hielt er eine mehr als heuchlerische Rede auf Karl-Heinz. Denn schließlich war Fahnenschmidt auf Grund seiner Inkompetenz und ständigen Einmischung in unsere Arbeit bereits öfters mit Karl-Heinz aneinandergeraten. Und jetzt machte er einen auf Harmonie und Kollegialität.

Allerdings fragte ich mich insgeheim, ob wir mit seinem Nachfolger wirklich mehr Glück haben würden.

Die Gerüchteküche besagte inzwischen immer lauter, dass Kriminaldirektor Ulrich Wagemann vom Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf seinen Posten übernehmen sollte. Wenn das tatsächlich stimmte, wäre das nun wirklich alles andere als ein Hauptgewinn: Der Leiter des dortigen Dezernats 12, das für Ermittlungen im Zusammenhang mit Wirtschafts- und Computerkriminalität zuständig war, galt unter seinen Mitarbeitern als kompromissloser und unnahbarer Vorgesetzter, der sich zwar mit dem Gesetz bestens auskannte, dem aber jedes persönliche Wort Unbehagen bereitete.

Tja, wenn man das gegeneinander abwog, wäre wohl eine Arbeitszeitverlängerung unseres „Alten“, wie wir Fahnenschmidt scherzhaft nannten, das kleinere Übel gewesen. Denn eines konnten wir als Bearbeiter von Delikten, die sich gegen das Menschlichste im Dasein eines Menschen, eben das Leben selbst, richteten, nicht brauchen: einen Paragrafenreiter, dem es an jeglicher Sozialkompetenz mangelte.

Aber eigentlich konnte ich mir nicht vorstellen, dass Polizeipräsident Steffenhagen oder unser guter Leitender Kriminaldirektor Salm tatsächlich zulassen würden, dass uns ein solcher Trottel vor die Nase gesetzt würde.

Je länger der Abend dauerte, desto müder wurde ich. Während die anderen bei Kölsch und Sekt ausgelassen feierten, mussten sich Theo, Damian und ich uns immer noch mit Wasser begnügen.

Ich beobachtete meinen väterlichen Freund Erich Koslowski, der als alter Weggefährte Karl-Heinz’ auch zu den geladenen Gästen zählte und sich angeregt mit einer jungen Kollegin unterhielt, die ihn so sehr in ihren Bann zu ziehen schien, dass er mich schon den ganzen Abend noch keines Blickes gewürdigt hatte.

Plötzlich griff Theo in die Innentasche seines Jacketts und holte sein Handy heraus. „Ja? … Hm … Ja, ist richtig … Moment, ich geh mal gerade raus …“ Mit versteinerter Miene verließ Theo eiligen Schrittes das zum Partysaal umfunktionierte Forum.

Ich sah Nina, Andríkos und Damian kurz an und zuckte mit den Schultern.

„Tja, das sieht verdammt nach Arbeit für euch aus“, sagte Andríkos in Damians und meine Richtung. „Gut, dass immer nur drei Mann einer MK Bereitschaft haben, was, Nina? Wenn die gleich weg sind, können wir’s so richtig krachen lassen, Süße.“

Aber Nina, seine Bürokollegin, verdrehte nur genervt die Augen. „Spar dir deinen Machoscheiß, Andríkos! Bevor ich hier mit dir abhänge und Party mache, fahr ich lieber freiwillig ’ne Wasserleiche!“, sagte sie energisch und nahm einen kräftigen Schluck Sekt.

Und wieder einmal war Andríkos bei seinem Schwarm Nina abgeblitzt, was so langsam aber sicher an seinem Ego nagte. Schließlich war unser Halbgrieche der größte Weiberheld des ganzen Präsidiums …

Etwa zehn Minuten später war Theo zurück. Er klopfte Damian und mir auf die Schulter. „Leute, das war der DGL1 der K-Wache. Wir müssen sofort abrücken. An der Brühler Landstraße ist eine Leiche gefunden worden. In ’nem abgestellten Auto. Staatsanwaltschaft werd ich gleich unterrichten. Ich sag jetzt erst mal den ED-Kollegen Bescheid, die ja Gott sei Dank auch hier auf der Party sind“, sagte er mit einem Blick auf die beiden Spurensicherer Alwin Scheunemann und Thomas Schwadorf sowie den Tatortfotografen Markus Büttgen. „Einzelheiten gibt’s von der K-Wache vor Ort. Wir fahren mit zwei Wagen, ich bleib ja nicht die ganze Zeit vor Ort.“

Wir verabschiedeten uns von Nina und Andríkos, informierten Micha, Thomas, Alwin und Markus, gingen kurz zu Karl-Heinz und bedankten uns für den schönen Abend.

Nachdem wir unsere Waffen und unseren übrigen Kram geholt hatten, saß ich etwa zwanzig Minuten später neben Damian am Steuer des alten Ford Scorpio.

Vor uns fuhr Theo in unserem zweiten Dienstwagen, einem petrolblauen Vectra B Fließheck, der gerade mal vier Dienstjahre auf dem Buckel hatte und damit zu den neueren Fahrzeugen unseres Fuhrparks gehörte. Hinter uns folgte der Tatortwagen, ein weißer Sprinter-Kastenwagen des Erkennungsdienstes. Wir kämpften uns im Konvoi über die fast leere Autobahn durch die verregnete Nacht. Die abgenutzten Scheibenwischer kratzten turnusmäßig über die verschmierte Windschutzscheibe.

„Ist doch ’ne ganz nette Truppe, oder?“, fragte mich Damian.

„Auf jeden Fall. Und vor allem macht der Job im Großen und Ganzen Spaß.“

„Diese Nina ist ja ’ne ganz Süße …“

„Damian, lass dir von mir ’nen guten Rat geben: Finger weg von Nina! Da blitzt auch unser lieber Andríkos dauernd ab! Die ist glücklich verheiratet!“

Damian hob beschwichtigend die Hände. „Hey, Mann, ich mein ja nur! Ich hab selbst ’ne nette Freundin. Auch wenn die Maike manchmal ganz schön anstrengend ist … Aber tu mir bitte einen Gefallen: Sag wie alle anderen auch Dammi zu mir!“

Ich warf meinem Kollegen einen skeptischen Blick aus dem Augenwinkel zu. „Dammi?! Das hört sich ja fast an wie Crash…“

„…test-Dummy, ich weiß“, fiel mir Kollege Kühnert ins Wort. „Und genauso haben mich meine Kollegen, vor allem mein lieber Chef, der Struppi, nach meinem Unfall im vorletzten Winter auch genannt. Was meinst du, wie mir dieser Scheißspitzname auf den Sack gegangen ist?!“

„Was hast du denn gemacht?“

„Ach, ich hab ’nen Verdächtigen aus Polen verfolgt, der sich der Kontrolle entziehen wollte. Ich mit Vollgas hinterher – und das mit dem Lieblings-5er vom Chef. Tja, hab halt nicht darauf geachtet, dass es glatt war und ’n paar Pirouetten gedreht – mitten auf der A 44. Bis ich dann in die Leitplanke geknallt bin. Das war der erste Unfall seit fünf Jahren bei unserem ET. Kannst dir ja vorstellen, dass mich die Kollegen seitdem gerne ausgelacht haben.“

„Na ja. So lustig ist das ja nun eigentlich nicht.“

„Gott sei Dank ist mir ja nichts passiert. Aber ich hab dir ja gar nicht das Beste der Geschichte erzählt: Der Flüchtige war mit ’nem mit Diebesgut vollbeladenen alten VW LT unterwegs, der nur noch auf drei Pötten lief. Der Typ hat sich mit siebzig über die Autobahn gequält. Und ich Doof schaff’s noch nicht mal, den Heini unfallfrei zu stellen …“

Ich zog die Augenbrauen hoch. „Na gut, dann sieht die ganze Sache natürlich anders aus …“

Wir verließen die Autobahn am Verteilerkreis Süd und fuhren über die Militärringstraße, bis wir links auf die B 51, auf diesem Streckenabschnitt besser bekannt als Brühler Landstraße, abbogen.

1Dienstgruppenleiter

1. Kapitel: Tatortaufnahme

Brühler Landstr., Einmündung August-Wegelin-Str./Am Neuenhof, 50997 Köln-Höningen, Mittwoch, 17. November 2004, 23:41 Uhr

Wir erreichten das kleine Dorf Höningen, das zum Stadtteil Rondorf gehörte und sich entlang der breiten Brühler Landstraße Richtung Meschenich erstreckte.

Unmittelbar hinter einem weiß verputzten Hofgelände entdeckte ich an der v-förmigen Einmündung der kleinen Zufahrtswege August-Wegelin-Straße und Am Neuenhof einen kleinen Parkplatz. Eigentlich kein besonderer Ort – wenn nicht zwei silber-grüne Funkstreifenwagen, ein Zivilfahrzeug und nunmehr der weiße Mercedes Sprinter des Erkennungsdienstes den Platz halbkreisförmig umschlossen hätten. Im Handumdrehen hatten Alwin, Thomas und Markus, die Kollegen von der Spurensicherung, die Stativstrahler aufgestellt, die diesen kleinen Vorplatz taghell ausleuchteten.

Mehrere Pressevertreter, die das von einigen uniformierten Kollegen abgesperrte Areal mit dem Blitzlichtgewitter ihrer Kameras erhellten, machten die Flutlichtstrahler der Kollegen eigentlich überflüssig und warteten – wie die Geier auf das Ableben ihres Opfers – auf ihre Chance, von uns Infos aus erster Hand zu bekommen.

Wir stellten unsere beiden Zivilfahrzeuge neben dem ED-Sprinter ab. Ich sah, wie Kriminalhauptkommissar Thomas Schwadorf, ein erfahrener Spurensicherer, den Aluminium-Spusikoffer aus dem Laderaum des Kastenwagens nahm. Zu dritt gingen wir auf den Kollegen zu.

„Hey, Pitter, was ist hier genau passiert? War das die Mafia? Wer ist der Tote?“, rief eine männliche Stimme, die aus dem Stimmengewirr der Reporter hervorstach und mich das Schlimmste erahnen ließ. Ich drehte mich um und sah in die listigen Augen eines untersetzten Mannes meines Alters. Hannes „Der Schnelle Schäng“ Lüssem, Polizeireporter der Kölner Lokalredaktion der BILD, sah mich erwartungsvoll an – genauso wie sein Fotograf Matze Brandes, der seine Kamera im Anschlag hielt.

„Von mir erfährste ’nen Scheiß, Lüssem! Wende dich gefälligst an die Pressestelle, klar?! Das gilt für euch alle!“, schrie ich den diversen sensationsgierigen Reportern entgegen. Ein enttäuschtes Murmeln ging durch die Menge.

„Aber MIR werden Sie doch was erzählen, Herr Merzenich, oder etwa nicht?! Ich würde Sie ja zu gerne mal unter anderen Umständen treffen. Die Nacht ist schließlich nicht nur zur Tatortaufnahme da …“, gurrte eine Frau mit langen roten Haaren, die Hannes Lüssem unsanft beiseite geschoben hatte.

Aber ich verdrehte nur die Augen. Gaby Möltgen vom EXPRESS, von allen nur „Die Rote Zora“ genannt, war genauso penetrant und aufdringlich wie Hannes – nur, dass sie es immer wieder mit der „männermordenden“ Masche versuchte.

„Wen wollen Sie denn mit dieser billigen Show beeindrucken, Frau Möltgen? Langsam wird’s langweilig. Sie wissen doch, dass das bei mir nicht zieht. Sehen Sie zu, dass Sie sich Ihre Informationen bei der Pressestelle holen! Aber Fakten interessieren Sie ja eigentlich eh nicht!“

Wir setzten unseren Weg zu den Kollegen der K-Wache fort. Ich sah den dunkelgrünen Jaguar XJ8, der mitten auf dem Parkplatz stand und sich im Zentrum der Flutlichtbeleuchtung befand. Der schwergewichtige Tatortfotograf Markus Büttgen hatte sich dort bereits an die Arbeit gemacht und fotografierte die noble englische Oberklasselimousine aus allen erdenklichen Perspektiven.

„Hallo Kollegen“, sagte ein vollkommen ergrauter, großer Enddreißiger. Kriminaloberkommissar Dirk Matthias, einer der erfahrensten Sachbearbeiter der K-Wache 1, sah ziemlich genervt aus. Neben ihm stand mein sonstiger Zimmerkollege Dario Zimmermann, der ja für ein Jahr zur K-Wache abgeordnet war. Er nickte nur stumm, schien müde und wortkarg zu sein.

„Hallo Dirk, hallo Dario. Sagt uns doch mal bitte, was hier passiert ist“, wollte Theo wissen.

KOK Matthias ergriff das Wort. „Also ein Typ namens Mario Volkert, der hier in dem Haus wohnt“, Dirk nickte in die Richtung des älteren Mehrfamilienhauses, das unmittelbar hinter dem kleinen Parkplatz lag, „wollte mit seinem Pitbull durch den Ort Gassi gehen und hat beim Verlassen des Hauses den Toten hier im Auto entdeckt.“

„Wann war das?“

Dirk blätterte sein Notizbuch durch. „Der Anruf ging in der Leitstelle um 22:28 Uhr ein. Ein paar Minuten später waren der Notarzt und die Kollegen der PI Südwest hier vor Ort. Aber leider zu spät. Den Zeugen haben wir zur K-Wache verbracht, der wartet dort auf seine Vernehmung.“

Im Erdgeschoss des Gebäudes konnte ich ein altes Ladenlokal entdecken, dessen große Terrassenfenster verbarrikadiert worden waren. Auf Grund des grün-weiß-rot gestreiften Stoffvordachs, das den Eingangsbereich überspannte, und des Schriftzugs Krombacher Pils über dem Eingang drängte sich mir der Verdacht auf, dass sich hier in besseren Zeiten mal ein italienisches Restaurant befunden haben musste. Der kleine Vorhof, auf dem der Jaguar stand, musste demnach einst der Gästeparkplatz gewesen sein.

„Wissen wir schon irgendetwas über die Identität des Toten und die Todesursache?“

„Die Jungs vom Rettungsdienst haben sich leider wieder als Hobbydetektive betätigt und in den Taschen des Toten nach seiner Krankenversicherungskarte gesucht. Dabei haben sie sein Portemonnaie und seinen Pass gefunden.“

„Gibt’s doch wohl nicht!“, ereiferte sich Theo.