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Exitus Venusberg

Ditmar Doerner

„Wie verhält man sich, wenn man weiß, dass die traditionellen Ehrvorstellungen wertlos geworden sind? Wenn man mit Marc Aurel zu der Überzeugung gelangt, dass der Meinung künftiger Generationen kaum mehr Wert beizumessen ist als der gegenwärtigen? Ist es möglich, sich richtig zu verhalten? Ist es überhaupt wünschenswert?“

(Thomas Harris, „Hannibal“)

„Das kann ich Ihnen wirklich nicht beantworten. Ist mir auch egal. Ich hab wirklich genug eigene Probleme!“

(Margot Lukas, Kriminalhauptkommissarin, Bonn)

Inhalt

Teil I

Vortakt

Kapitel 1 Auftakt

Kapitel zwei Margot:

Kapitel 3 Margot:

Kapitel 4

Kapitel 5 Margot:

Kapitel 6 Margot:

Kapitel 7 Margot:

Kapitel 8 Margot:

Kapitel 9 Margot:

Kapitel 10 Margot:

Kapitel 11 Margot:

Kapitel 12 Margot:

Teil II

Kapitel 13 Margot:

Kapitel 14 Margot:

Kapitel 15 Margot:

Teil III

Kapitel 16 Margot:

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19 Margot:

Kapitel 20

Kapitel 21 Margot:

Kapitel 22 Margot:

Kapitel 23 Margot:

Kapitel 24 Margot:

Kapitel 25 Margot:

Kapitel 26 Margot:

Kapitel 27 Margot:

Kapitel 28 Margot:

Kapitel 29 Margot:

Kapitel 30 Margot:

Kapitel 31 Margot:

Kapitel 32 Margot:

Kapitel 33 Margot:

Teil IV

Kapitel 34 Margot:

Nachtakt

Danksagung

I

Das Mädchen spürte das kleine Köpfchen in der Armbeuge, die Feuchtigkeit der Tränen, die den fadenscheinigen Stoff ihres fleckigen, alten Shirt tränkten, und sie hörte das unterdrückte Schluchzen, das sich tief und verzweifelt aus der Kehle der Kleinen emporwürgte. Ihre eigenen Tränen flossen über die Wangen Richtung Kinn, vereinten sich dort und tropften auf das blonde, lockige Haar ihrer Schwester.

Es war Nacht und die Dunkelheit im Zimmer nahezu vollkommen, bis auf das Licht der Laterne draußen, das sich in jene Ecke des Zimmers stahl, in der die beiden Kinder zusammengekauert hockten. Langsam schaukelte das ältere Mädchen ihren Oberkörper hin und her, wiegte sie von links nach rechts und begann das Lied zu summen, das sie seit nunmehr drei Monaten immer wieder sang, wenn ihre kleine Schwester weinte:

„Heile, heile Gänschen, wird alles wieder gut,

die Katze hat ein Schwänzchen, wird alles wieder gut.

Heile, heile Mausezahn,

dann fangen wir wieder von vorne an.“

Ursprünglich hießen die letzten beiden Zeilen:

„Heile, heile Mausespeck,

in hundert Jahren sind wir alle weg!“,

aber diesen Reim mochte sie nicht. Er klang so hoffnungslos und sie wollte ihre Schwester nicht noch trauriger machen, als sie es ohnehin schon war.

Vor der Zimmertüre hörten beide ihren Stiefvater zur Toilette torkeln. Das Geräusch, wie er sich mit der Hand an der Wand abstützte, verriet ihnen, dass er wieder getrunken hatte. Sie drückte ihre Schwester fester an sich.

Vortakt

Es ist arg kalt hier oben, finden Sie nicht auch? Der Herbstwind hat schon so viel Kraft, dass einem Angst und Bange werden kann, aber ich gebe Ihnen meinen Schal, hier, bitte. Für den Moment brauche ich ihn nicht. Also tun Sie mir den Gefallen, leisten Sie mir Gesellschaft und wir betrachten gemeinsam dieses wunderbare Bild. Denn ganz ehrlich, ich finde wirklich, es könnte kaum etwas Friedlicheres geben. Hören Sie nur die Blätter in den Bäumen – es ist fast so, als würden kleine Kinder unter der Bettdecke flüstern. Und erst die Massigkeit der dunklen Stämme: Sie strahlen eine Standfestigkeit aus, als bliebe hier tatsächlich alles so wie es ist, als würde der Zeit die Puste ausgehen.

Selbst das alte Hospital dort vorne – stellen Sie sich vor, bis vor achtzig Jahren ist es einmal eine Kaserne gewesen – wirkt heute Abend idyllisch und einladend. Wenn wir beide uns jetzt diesem alten Backsteingemäuer nähern, so als machten wir einen Krankenbesuch – kommen Sie, stehen wir auf, aber bitte keine Eile – dann sehen wir zuerst das große, von Moos bewachsene weiße Schild an der untersten Stufe der Eingangstreppe. Mich ärgert dieses Schild schon seit Jahren, denn es zerstört die Idylle, finde ich, und die Schrift mit ihren eckigen, kalten Buchstaben ist dermaßen prosaisch, dass es mich fröstelt, wenn ich es betrachte. Vielleicht läuft es mir aber auch deswegen kalt über den Rücken, weil wir uns trotz all meiner Verklärtheit an einem Ort befinden, an dem der gute, alte Gevatter Tod so fündig wird wie sonst nur eine hungrige Biene in einem blühenden Rapsfeld.

Lassen Sie uns trotzdem die alten, ebenfalls bemoosten Stufen zur Pforte hochsteigen, vorbei an diesem kleinen, stickigen Raum links vom Eingangsflur mit seinem klebrigen Schreibtisch, auf dem unzählige Kaffee- und Teeflecken ein Ornament der Unachtsamkeit hinterlassen haben, und seinem ächzenden, alten Stuhl, dessen Beine auf einem abgewetzten Linoleumboden stehen, der aus einem längst vergangenen Jahrhundert scheint. Lassen Sie uns also die bronzefarbene Messingtür mit dem albernen Löwenkopfknauf aufdrücken und vorbeischlendern an dem jungen Pförtner mit den langen Haaren, den es, na ja, das sagt man ja so, den es zu meiner Zeit nicht gegeben hätte. Nun gut, sei es, wie es sei, der junge Kerl hier sortiert zweimal die Woche nachts die Post, wenn er nicht gerade fernsieht oder seine Freundin zu Besuch ist und die beiden sich in irgendwelchen Kellerräumen herumdrücken. Glauben Sie mir, darüber möchte ich gar nicht mehr wissen! Schauen Sie, jetzt ist er gerade wieder sehr beschäftigt, nun ja, vielleicht tut er auch nur so. Er ist ein fauler Hund, glauben Sie mir! Aber was gibt es auch schon groß zu ordnen? Er kann höchstens die Zu- und Abgänge auflisten, Telefonate entgegennehmen, um besorgte oder hysterische Männer und Frauen mit einem der Ärzte zu verbinden und natürlich den Besuchern die Zimmernummern ihrer Angehörigen nennen. Aber lassen Sie uns weitergehen, wir beachten den jungen Menschen hier nicht weiter, er hat uns auch noch nicht entdeckt. Schauen Sie, wie er gähnt, der müde Kerl. Lassen Sie uns – aber bitte ganz langsam, es tut mir leid, aber ich muss auf mein Herz achten, hat der Doktor gesagt, und sein Gesichtsausdruck war dabei in etwa so, als würde er sich frische Hundekacke von der Schuhsohle kratzen – das Treppenhaus hinab in die Untergeschosse der Klinik gehen.

Kommen Sie, kommen Sie, keine Angst, kommen Sie ruhig mit, ich zeige Ihnen etwas, Sie werden es nicht bereuen … Nur keine Angst …

Kommen Sie …

Auftakt

Kapitel 1

Die Neonröhren werfen kaltes, abweisendes Licht quer durch den langen Keller. Jeder Zentimeter ist ausgeleuchtet, sogar das uralte Trichternetz unterhalb der Lüftungsluke erscheint durch den glänzenden Kunstschein fast wie neugesponnen. Dabei ist die letzte Große Winkelspinne hier bereits vor mehr als zwanzig Jahren ausgetrocknet; es gab kein Insekt mehr, das sich in ihren Fangfäden verheddern konnte. Kleine, ausrangierte Nachttischchen aus Patientenzimmern, unzählige alte Vasen, die zum Teil auf dem nackten Boden stehen und auf einem langen Tisch, der voller Flecken schon vor sieben Jahren aus der Station Schurmann aussortiert wurde, füllen eine Längsseite des mehr als zwanzig Meter langen Raumes. Gegenüber steht ein gutes Dutzend alter Krankenhausbetten, überzogen mit dicken, durchsichtigen Plastikbezügen. Kreuz und quer berühren sie die Wand, so als seien sie ohne jegliche Ordnung mit geschlossenen Augen einfach hier hineingeschoben worden, mit einem kleinen Stups vielleicht und der Gewissheit oder Gleichgültigkeit, ihren Platz allein finden zu können.

Nichts regt sich hier unten, die Zeit scheint bereits vor der Jahrtausendwende stehengeblieben zu sein. Doch das stimmt nicht ganz: Bis vor drei Minuten störte ein Geräusch die absolute Stille im Kellerraum und schien das hier vergessene Leben zurückzubringen. Nun aber ist es wieder still, zumindest beinahe.

Von einem der übelriechenden Betten tropft blauer Desinfektionsreiniger herab auf den Boden und vermischt sich dort mit dem Staub der vergangenen Jahre.

Bis vor drei Minuten floss der Reiniger stetiger auf den Boden, aber der Mann, aus dessen Mund die Flüssigkeit quoll, ist nun tot. Er trägt eine weiße Arzthose, ein weißes Polohemd und einen weiten Arztkittel, den er zu Lebzeiten gerne offen trug, da er ihm beim schnellen Gehen durch die Stationsgänge vorbei an Schwestern, Pflegern und Patienten immer die Aura von Wichtigkeit und Vitalität verleihen sollte.

Der Mann ist jung, Anfang dreißig, und sein Gesicht glänzt auch jetzt noch so schweißüberströmt wie seine Brust, auf der sich der Schweiß mit dem blauen Reiniger vermischt hat. An Armen und Beinen ist er mit vier jeweils fünf Zentimeter breiten dunkelbraunen Rindslederriemen fixiert. Seine Glieder sind erschlafft, auch sein Gesichtsausdruck ist entspannt – ganz so, als habe er sich gegen den Tod nicht gewehrt.

Die eher kleine Gestalt auf der linken Bettseite betrachtet den toten Mann mit fast unbeteiligtem Gesichtsausdruck. Sie bückt sich, hebt sorgsam die weiße Plastikflasche vom Boden auf und schraubt den roten Sicherheitsverschluss zu. Ein paar Sekunden verweilt sie neben dem Toten, wirft einen kurzen Blick auf die Lüftungsluke, ohne allerdings das alte Trichternetz der letzten Bewohnerin dieses Raumes zu bemerken, und verlässt ohne jegliche Hast den Raum.

Kapitel zwei

Margot:

Die Balkontür im Mietshaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite öffnet sich und zwei Gestalten schlüpfen kichernd nach draußen. Kurz wird die Musik lauter. „Du ming Kölle!“, höre ich, „du ming Stadt.“ Hinter den Fenstern neben den beiden sehe ich ein Dutzend Gestalten weiter tanzen und schunkeln.

Kurz schließe ich die Augen. Als ich sie wieder öffne, sehe ich, wie sich der Mann tanzend seine Pappnase auf die Stirn setzt und versucht, die Frau im Hasenkostüm zu küssen. Beide kichern und ich hoffe, Fabian kommt, ehe es bei den beiden zum Austausch von weiteren Zärtlichkeiten kommt.

Warum muss ich mitten in der Nacht in dieses Vor-Karnevalstreiben geraten? Warum?

Mein Seufzen war wohl etwas zu laut, die beiden Gestalten auf dem Balkon halten in ihrer Umarmung kurz inne und schauen in meine Richtung. Kichernd drücken sie sich tiefer in die dunkle Ecke des Balkons, halb verborgen hinter einem Wäscheständer.

Obwohl ich erst zwei Minuten im Regen stehe, spüre ich die Nässe in meinem Nacken. Die Aussicht auf die kommenden Wochen, den Beginn des rheinischen Karnevals, macht das Ganze nur noch schlimmer.

Fabian lässt mich warten. Kurz vor drei. Vor gut zehn Minuten hat er mich aus dem Schlaf gerissen und mir am Telefon erklärt, er werde mich sofort abholen, ich solle mich beeilen, er stehe jeden Augenblick vor meiner Türe, wir hätten absolut keine Zeit. Und jetzt? Wo ist er?

Fabian Faust ist mein Partner bei der Kripo. Hauptkommissar wie ich, genauso alt wie ich, aber weitaus begeisterungsfähiger. Bis vor einem Jahr hat er in Südasien gearbeitet, hat in Bangladesch mitgeholfen, eine Polizeieinheit in Dhaka auszubilden, und immer, wenn ich schlecht gelaunt bin, erinnert er mich enthusiastisch daran, wie gut hier doch alles sei.

Davon will er mich auch überzeugen, wenn wir gerade mitten in einem Tatort stehen, wenn auf seinen Überziehern Blutspritzer abperlen, weil er wieder einmal die Arbeit der Kollegen der Spurensicherung behindert. Sein Einweganzug spannt sich dann über seinem dicken Bauch und sein rundes Gesicht strahlt dabei noch eine Zuversicht aus, dass man glauben könnte, die tote Person am Boden würde jeden Augenblick allein durch Fabians positive Ausstrahlung wieder ins Leben zurückkehren. Wenn es soweit ist, gebe ich meinen Job auf.

Ich versuche den Kragen meines Mantels enger an meinen Hals zu drücken, spüre dadurch aber nur umso mehr die Nässe in meinem Nacken. Ich betrachte meine Stiefel, Größe 42. Irgendwie ist alles an mir zu groß: mein Kopf, mein Busen, meine Nase. Das Gefühl, anders zu sein, hatte ich schon in der Schule, ab der dritten Klasse. Seitdem bin ich es nicht mehr losgeworden.

Ein Rhododendron schüttelt sich im aufkommenden Wind und auch auf den andern Sträuchern vor meinem Haus glänzen auffliegende Wasserperlen, beleuchtet von den Straßenlaternen, die den Bürgersteig und die Rilkestraße erhellen. Seit zwei Jahren wohne ich nun schon hier im Bonner Stadtteil Beuel, arbeite bei der Kriminalpolizei und –

Ich höre die Zombies, bevor ich sie sehe. Was aber nicht verwunderlich ist, denn sie singen irgendein anderes dieser unendlich vielen „Ming Kölle am Rhing“-Lieder. Alle ein bisschen in der Melodie abgewandelt, aber alle gleich unerträglich, möge ich mit dieser Meinung im Rheinland auch allein sein.

Sie kommen von der Limpericher Straße, Richtung Beueler Hallenbad. Sie haben mich noch nicht entdeckt, meinen schwarzen Schatten am Ende des Vorgartens neben der kleinen Trauerbirke. Sie sind ganz in ihre Darbietung vertieft. Ming Kölle so schön!

Drei Männer, nicht mehr jung, vielleicht Anfang vierzig, alle drei gut gekleidet, mit langen, schwarzen Mänteln, Bügelfaltenhosen und glänzenden Schuhen, was aber auch am Regen liegen kann. Vielleicht kommen sie gerade von einer Männersitzung, dafür wirken sie aber extrem unkostümiert, vielleicht von einem gelungenen Vertragsabschluss, aber ach, eigentlich ist mir das auch egal.

Mitten im Refrain halten sie inne, die letzte Silbe des Refrains (schön!) bleibt in ihren Bierkehlen stecken, es wird ruhig, ich höre nur die Regentropfen weiter auf meine Jacke fallen. Jetzt haben sie mich entdeckt. Natürlich, sie sind ja auch nur betrunken, nicht blind!

Ich wappne mich innerlich, versuche ruhig zu atmen, mich leicht zu machen, zu entspannen. Vielleicht sind sie ja freundlich, vielleicht haben sie aufgehört zu singen, weil sie mich nicht verschrecken wollen, eine Frau ganz allein mitten in der Nacht an der Straße, vielleicht wollen sie sich ja sogar entschuldigen, akustisch randaliert zu haben. Allerdings bin ich lange genug auf der Welt, um zu wissen, dass dem nicht so sein wird. Ich sehe sie förmlich schnuppern wie Hunde, die versuchen, einen verführerischen Geruch zu orten. Und dann gleich loszujagen.

Sie werden mich nicht ignorieren, nicht freundlich grüßend an mir vorbeigehen, geschweige denn sich für den Krach zu entschuldigen. Stattdessen werden sie mindestens einen dummen Spruch pro Person lallen, mich vielleicht auf einen Drink, oder, wenn sie besonders betrunken oder dämlich sind, direkt zu sich nach Hause einladen („Hasse nich Lust auf ’ne kleine Massasche, Herzchen?“).

Jetzt stehen sie mir fast direkt gegenüber, fünf Meter entfernt, straßenbreit, halten sich aneinander fest, schauen mich aus zusammengekniffenen Augen an, als sei ich das achte Weltwunder, ein sprechender Kirschbaum oder ein fliegender Gartenzwerg (ja, das wäre schön: hurtig direkt in ihre einfältigen Fratzen hinein!).

Sie wanken ein wenig von rechts nach links, drei überdimensionierte Dominosteine, dann beginnen sie erneut ein Liedchen zu brummen, diesmal ist es die Hymne des allenfalls mittelmäßigen Fußball-Clubs hier in der Nähe, der ebenso schlicht ist wie das Vereinsmaskottchen, ein Geißbock.

Ich spüre ihre Aura und weiß, dass sie sich sammeln wie ein Rudel Löwen, das am Wasserloch eine junge Antilope entdeckt hat. Sie warten auf den jeweils anderen, den ersten Schritt zu machen, der Kleinen (haha!) da drüben mal zeigen, wo der Hammer hängt. Gott, wie mich das langweilt!

Zwei der Zombies sind schlank, bei dem Dritten wölbt sich eine dicke Kugel unter seinem Mantel, ähnlich wie bei Fabian. Er ist auch der einzige, der noch dichtes Haar besitzt, bei den beiden anderen fliegen die Strähnen munter im Nachtwind. Sie schieben sich einen halben Schritt hinter den Dickeren, so als wollten sie ihm ganz freundschaftlich den Vortritt lassen, das Bienchen da drüben mal anzutesten, abzuchecken, vielleicht sogar klarzumachen.

„Hey, Schätzelein, was machst’n so spät noch auffer Straße hier? Hat dein Freund dich versetzt, hm?“ Er lacht erst mich und dann seine beiden dämlichen Kumpels an. Alle drei knuffen sich in die Seite, als sei die Show, die sie hier abziehen, unglaublich ausgefallen und originell. Manchmal ist es mir einfach unbegreiflich, auf was Männer stolz sein können.

Ich spiele kurz mit dem Gedanken, in meine linke Brusttasche zu greifen und ihnen meinen Dienstausweis zu zeigen. Aber irgendetwas hindert mich daran. Vielleicht ist es nur ein Überschuss an Aggressivität, weil mich Fabian aus dem Schlaf gerissen hat, vielleicht einfach nur Neugierde.

Keine Furcht haben zu müssen ist schön. Vor allem dann, wenn das Gegenüber genau das nicht vermutet und vom Gegenteil überzeugt ist. Zugegeben, die Lektion, die ich nun vorhabe, entblößt eine unschöne Seite von mir, aber wer, sage ich mir, ist schon vollkommen?

Der Dicke, der mich angesprochen hat, macht einen Schritt nach vorn. Die Kante des Bürgersteigs macht ihm Probleme, er gerät ins Straucheln, aber ich bemerke, dass er nicht so betrunken ist, wie er mir vorzugaukeln versucht. Ich sehe es im Blick seiner Augen. Sie besitzen etwas Lauerndes, Verschlagenes und sehr Waches. Mitten auf der Straße bleibt er stehen, sein Oberkörper schwingt leicht von links nach rechts, unmerklich wie die Türme von Wolkenkratzern. Er schaut mich an. Sein dickes Gesicht wirkt jugendlich, ohne Falten und rund wie ein Pfannkuchen. Ich achte auf seine Hände, habe sie genau im Blick, auch wenn ich ihm weiter ins Gesicht schaue. Die beiden anderen stehen weiterhin auf der anderen Straßenseite, rühren sich nicht, ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie überhaupt noch atmen. Wahrscheinlich sind sie gerade unsinnig stolz auf ihren Freund, der einfach mir nichts dir nichts mitten in der Nacht fremde Frauen anquatscht, anbaggert, angräbt, ohne jede Scheu. Hervorragender Typ das!

Einer der beiden im Hintergrund ruft plötzlich: „Hey, Manni, sei vorsichtig, die reißt dir die Eier ab!“ Dann lachen beide und betatschen gegenseitig ihre Schultern.

„Süße, ist das wahr, bist du gefährlich?“ Manni lächelt. „Was machst du denn hier, so ganz allein?“

Vielleicht ist es die Tatsache, dass ich nicht zurückweiche, vielleicht passt mein Verhalten nicht in das Muster, das er von Frauen hat, die nachts allein auf der Straße stehen, jedenfalls hindert ihn irgendetwas, näherzukommen. Im günstigsten Falle, sage ich mir, ist es sein gesunder Menschenverstand. Aber ich weiß, dass der nicht die Oberhand behalten wird. Das tut er bei solchen Typen ja nie.

„Für wen gefährlich?“, frage ich, aber die Doppeldeutigkeit meiner Frage erkennt er vermutlich nicht. Ich zögere, will nun doch meinen Ausweis aus der Tasche ziehen, als er langsam bis auf einen Meter an mich herankommt.

„Bist du für’s Gebumse hier auf der Straße nicht ’n bisschen zu alt?“ Er lacht wieder, gluckst fröhlich vor sich hin, als habe er ein wertvolles Spielzeug aus Kindertagen wieder gefunden, und schaut sich wonnetrunken zu seinen Freunden um. Ein schöner Moment, um ihn mit einem Schlag flach zu legen, aber ich lasse ihn vorüberziehen.

Vielleicht kommt Manni ja doch noch zur Vernunft. Ich will ihm nicht weh tun, jedenfalls nicht, wenn es nicht sein muss. Seine Freunde nicken und ich warte nur darauf, dass sie den Daumen hochrecken und ihn anfeuern, weitere geistreiche Bemerkungen abzugeben. Kurz wundere ich mich, dass sie nicht Block und Kugelschreiber gezückt haben, um all dies mitzuschreiben.

Manni dreht sich wieder zu mir. „Schätzelein, wenn du nichts mehr vorhast heut Nacht, und das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dann lass uns vier doch alle zu dir gehen, was meinste?“ Wieder lächelt er mich an, und ich lächle zurück, amüsiert und ungläubig. Ich lasse meine Arme ganz locker herabhängen, entspanne die Beinmuskeln gerade so weit, um leicht, aber doch standfest zu sein.

Ich flüstere: „Zieh Leine, Dicker, sonst schlag ich dich.“

Es ist gut, in einer solch angespannten Situation leise zu reden, es verunsichert das Gegenüber. Der Angesprochene möchte vermuten, sich verhört zu haben, ahnt aber, dass dem nicht so ist und bemerkt, dass sich die Situation anders entwickelt, als er sie geplant hat.

Auch Mannis Lächeln gefriert. Er drückt den Rücken durch, sein Bauch verschwindet fast unter dem Mantel, in dem er allerdings ohnehin nicht kämpfen könnte, selbst, wenn er wollte. Dafür ist er viel zu dick. Er ist einen halben Kopf größer als ich. Seine Arme sind angewinkelt, und seine ganze Haltung hat nun etwas Wütendes und Verkrampftes.

Ich höre seinen Atem. Schnell und kurz zieht er die Nachtluft in die Lunge. Er ist empört! Ich habe ihn beleidigt.

Sollte ich ihm den Tipp geben, ruhig zu bleiben, entspannt zu atmen und stattdessen beginnen zu denken? Ihm vielleicht sagen, dass es häufig verletzter Stolz ist, der Männer zu Verlierern macht?

Seine Augen werden zu Schlitzen. „Was haste gesagt?“, fragt er.

Ich rieche seinen Atem und bin mir nicht mehr sicher, ob er nicht doch vollkommen betrunken ist. Soll ich nicht einlenken und die Situation deeskalieren, wie ich das in Dutzenden langweiligen Psychoquatsch-Seminaren, die nicht viel mit der Realität zu tun haben, gelernt habe?

„Du hast mich ganz genau verstanden, du Wicht!“, sage ich wieder leise, und vielleicht klinge ich noch böser als beabsichtigt.

Allein durch seine Größe und sein Gewicht wähnt er sich im Vorteil. Dabei weiß er wahrscheinlich nicht, dass Größe und Gewicht bei körperlichen Auseinandersetzungen nur richtig eingesetzt einen Vorteil darstellen.

Mit dem rechten Arm greift er nach mir, tapsig und langsam wie ein Bär. Ich bleibe weiter defensiv und trete einen Schritt zurück. Gleichzeitig denke ich: Fabian, beeil dich, noch ist Zeit, ihn zu retten, komm endlich! Aber Fabian denkt gar nicht daran, pünktlich um die Ecke zu biegen.

Manni rückt einen Schritt nach, jetzt sind wir wieder nur auf Armeslänge getrennt. „Du kleines Flittchen, was fällt dir denn ein, ich werde dich …!“ Er stutzt und schaut auf meine linke Hand. „Hey, was hast’n da gemacht? Da fehlt dir was.“

Hurra, gebt dem Genie einen Schokoriegel! Er hat entdeckt, dass mir links der kleine Finger fehlt. Seine Augen werden groß, als habe er so etwas noch nie gesehen. Er verzieht den Mund zu einem Lächeln „ Dann hab ich ja sogar zwei mehr!“ Er dreht sich zu seinen Kumpels und erwartet Applaus für diese Spitzfindigkeit.

„Ja“, sage ich, „zumindest von der Größe könnte das ungefähr hinkommen, oder?“

Niemand außer meinen Eltern hat mir gesagt, dass ich immer freundlich sein muss.

Diesmal greift er mit dem linken Arm nach mir, aber ich bin gewarnt und weiche mit dem Oberkörper zurück, sodass er beinahe das Gleichgewicht verliert.

Tatsächlich fehlt mir mein kleiner linker Finger. Seit sieben Jahren. Ich bemerke es kaum noch, nur ab und zu, wenn ich nach etwas Schwerem oder Unhandlichem greife, kommt die Erinnerung an den Oktober vor sieben Jahren zurück. Am liebsten würde ich diese vier Tage ausblenden, sie aus meinem Leben streichen, aber das funktioniert natürlich nicht. Meine Träume erinnern mich mindestens drei- bis viermal im Monat daran.

Ich sehe Mannis rechte Hand auf mein Gesicht zutapsen. Langsam und tölpelhaft. Seine Ohrfeige geht ins Leere und durch den fehlenden Widerstand stolpert er an mir vorbei. Ich spüre einen Luftzug, rieche kurz die Reste irgendeines zu herben Herrenparfüms ohne Stil, trete ein paar Zentimeter beiseite und greife sein linkes Handgelenk. Es knackt ein bisschen, als ich es umdrehe und ihm gleichzeitig den Rücken hinaufschiebe. Er knickt nach vorne, jämmerlich jaulend, während ich ihm mit dem rechten Fuß die Beine wegtrete. Weil er so schwer ist, lasse ich ihn einfach fallen und sein dicker Hintern platscht mit einem satten Geräusch auf den Asphalt.

Ein kurzer Blick sagt mir, dass seine beiden Freunde weiter artig auf der anderen Straßenseite stehen. Sie werden den Teufel tun und ihrem Kumpel helfen. Diese Typen haben mehr Angst um ihre Bügelfalten als um ihren Kollegen. Trotzdem hebe ich als Warnung kurz den Zeigefinger in ihre Richtung. Dann hocke ich mich hinter Manni, packe seine Ohrmuscheln und ziehe sie langsam auseinander. „Hör zu, Manni. Du schnappst dir jetzt deine beiden Jecken da drüben und verkrümelst dich schnell nach Hause, ja? Du sprichst keine anderen Frauen mehr an, du singst keine unanständigen Lieder. Du gehst nur brav geradeaus, bis du die Tür erkennst, hinter der du jeden Abend verschwindest, okay?“

Sogar mir kommt der Spruch zu dick aufgetragen vor, aber irgendwie muss ich meinen Überschuss an Adrenalin abbauen. Seine Ohrmuscheln fühlen sich hart und knorpelig an. Manni nickt und ich lasse ihn los. Er rappelt sich hoch und torkelt langsam zurück zur anderen Straßenseite. Die beiden anderen Musketiere nehmen ihn schulterklopfend in Empfang, als sei sein Auftritt doch gar nicht so übel gewesen. Alle drei schauen mich noch einmal an, und als ich das Gefühl habe, Manni möchte noch etwas sagen, lege ich meinen rechten Zeigefinger warnend auf den Mund. „Pssst!“

Alle drei hasten duckend davon, wie Wiesel, die erfolglos versucht haben, einen Hühnerstall zu plündern.

Als ich ihnen hinterher schaue, tasten aus der anderen Richtung die Scheinwerfer von Fabians Geländewagen auf mich zu. Gutes Timing! Vier strahlend helle Lichter, die jedes für sich ein Fußballstadion erhellen könnten. Der Motor des Wagens, ein alter Jeep Cherokee mit extrabreiten Reifen, einem gigantischen Ochsenfänger und über 250 PS unter der Haube, röhrt wie ein Bagger. Fabian hält genau auf meiner Höhe. Die Fensterscheibe surrt herunter und ein grau-weißer Schwall Zigarettenrauch stürzt sich auf mich. Fabian gehört wahrscheinlich zu den hundert letzten Menschen auf dieser Erde, die „Winston“ rauchen. Wahrscheinlich, weil er den ultimativen Werbespruch für die Marke erfunden hat, wie er mich jede Woche mindestens einmal wissen lässt. Er hat sogar einmal an Philipp Morris geschrieben, weil er seinen Slogan „Wie findst’n Winston?“ für unschlagbar hält.

Er reckt sich ein bisschen in meine Richtung. „Margot, um Himmels willen, was hast’n mit denen gemacht?“

Ich schaue dorthin, wo die drei mittlerweile verschwunden sind. „Nichts“, sage ich und öffne die Beifahrertür, die schon so lange klemmt, wie ich bei ihm mitfahre, also seit einem halben Jahr. Irgendein asiatischer Klangteppich aus Harfe und Flöte aus seinem CD-Player wirft mich fast aus der Bahn. Herrje! Ich bitte ihn, den Mist leiser zu drehen. Das ist ja fast noch schlimmer als „Ming Kölle am Rhing“!

Fabian schaut mich prüfend an. Er kennt mich mittlerweile ziemlich gut und weiß fast immer, wenn ich etwas verschweige. „Na ja, ehrlich gesagt, ich will’s gar nicht wissen. Hätten wir nur wieder einen Bericht schreiben müssen. Bin ja froh, dass du keinen erschossen hast!“ Er lacht.

Ich mache nur „Haha!“, lehne mich zurück und schließe die Augen.

„Wohin?“, frage ich nach einer Minute. Das tiefe Brummen des Cherokees schläfert mich ein, das Adrenalin, das mich bis eben wach gehalten hat, verschwindet langsam. Wir fahren über die Friedhelm-Ebert-Brücke. Dutzende Laternen erhellen die Nordbrücke, wie sie bei den Bonnern heißt, in einem warmen, orangefarbenen Licht.

„Venusberg.“

„In die Unikliniken?“, frage ich. Wir nehmen die Ausfahrt Poppelsdorf und haben Glück mit einer grünen Ampel. Die Luft im Wagen ist grauenhaft, aber wenigstens hat sich Fabian keine neue Winston angezündet. Das schmachtende Asien-Gedudel höre ich kaum noch.

„Ja. Einer der Bereitschaftsärzte. Im Keller gefunden. Irgendjemand hat ihn an ein ausrangiertes Patientenbett gefesselt und dann wahrscheinlich vergiftet. Mateus ist schon da. Eine Schwester hat ihn gefunden. Die liegt jetzt wohl selbst in der Ambulanz. Der Tote hatte Dienst und war plötzlich nicht mehr da. Alle haben nach ihm gesucht, außer den Patienten natürlich.“

Zur Info: Ben Mateus ist der Leiter der Gerichtsmedizin Bonn. Ich mag ihn und arbeite gerne mit ihm zusammen, ein absolut integrer Kollege. Das Auffallendste an Mateus sind seine zurückgegelten Haare. Ähnlich wie bei Dean Martin früher. Nur kann Mateus nicht so gut singen. Mateus liebt seine Arbeit so sehr, dass einem schlecht werden kann. Jedesmal wenn ich notgedrungen in die Pathologie am Stiftsplatz muss, hält er mir einen Vortrag über Leichenflecken und all das, was mich in manchen Nächten verfolgt.

Der Motor brummt und schläfert mich allmählich ein. Ich frage mich, ob ich alle Lichter im Haus ausgeschaltet habe. Außer im Badezimmer. Das muss eingeschaltet bleiben, damit mein Vater, sollte er auf Toilette müssen, den Weg findet. Seit er aus der Rehabilitation entlassen ist, wohnt er bei mir, mittlerweile sind es drei Wochen. Nach einem Schlaganfall lag er wochenlang im Krankenhaus in Waldbröl, anschließend haben ihn die Ärzte weiter in eine Reha-Klinik in Nümbrecht geschickt. Nun ist er bei mir. Mittlerweile kann er wieder ansatzweise gehen, zumindest von einem Zimmer ins andere. Aber eine Dose Erbsen zu öffnen schafft er nicht mehr. Auch An- und Ausziehen ist ohne meine Hilfe unmöglich. Alles, zu dem er zwei Hände braucht, ist so weit weg wie jemals wieder selbst ein Auto zu lenken.

Manche Menschen verabschieden sich mit einem gnadenlosen Schlag von einer auf die andere Sekunde aus dem Leben, mein Vater wird langsam und schmerzhaft gehen müssen. Nur ein kleines Glimmen ist ihm seit dem Schlag geblieben, eine schwache Glut. Manchmal kommt es mir vor, als sei ich verbitterter darüber als er.

Meine Mutter ist schon länger tot. Bis zu seinem Schlaganfall kam mein Vater gut allein zurecht. Wir lebten in verschiedenen Städten, telefonierten ein-, zweimal die Woche und besuchten uns an Feiertagen. Nun sind wir wieder so eng verbunden wie zu meinen Kindertagen. Es ist ein merkwürdiges Gefühl. Es macht mich in manchen Situationen jünger als die Jahre, die ich bin. Seine Gegenwart bringt mich zurück in die Geschichten meiner Kindertage. Das macht mich klein, aber dann auch wieder groß und selbstbewusst.

Der Wagen grollt untertourig, als Fabian ihn durch die Kurven zum Venusberg hinauflenkt. Fabian sagt, er besitze das Auto, weil es das sicherste für seine Töchter sei, aber diesen Quatsch kann er sonst wem erzählen. Natürlich suggeriert ihm dieses Monstrum körperliche Größe. Fabian ist klein, knapp eins siebzig, dafür aber dick. Sein Gewicht ist aber nur selten Thema zwischen uns, und jetzt schon erst recht nicht, seit er seit zwei Wochen weiß, dass er im nächsten Monat das EPLA, das Polizei-Leistungsabzeichen, ablegen muss.

Das wird ausgesprochen unterhaltsam und witzig, zumindest für mich: 3 000 Meter laufen, Weitspringen, in Kleidern schwimmen, mit der Dienstwaffe schießen und Seilspringen. Vor allem letzteres wird ihn wahrscheinlich an den Rand eines Herzinfarkts bringen. Wenn er die erforderliche Punktzahl nicht erreicht, kann er demnächst Schreibtische im Präsidium in Ramersdorf polieren.

Ich beuge mich nach vorne und schalte das Radio ein. Irgendjemand nennt die Uhrzeit, dann höre ich die ersten Klänge eines alten Liedes von Leonard Cohen.

„Wann ist es passiert?“, frage ich. Ich will den Sitz weiter nach hinten schieben, erwische den falschen Hebel und plumpse mit der Rückenlehne zurück. „Himmelherrgott, wer hat denn hier gesessen?“. Ich drehe die Sitzheizung höher und die Hitze krabbelt mir angenehm die Wirbelsäule hinauf.

Fabian lacht und kaut an einem Brötchen, das er von irgendwoher gezaubert hat.

Wahrscheinlich aus einer seiner vielen Jackentaschen. Fast immer hat er irgendwo etwas zu essen dabei. Ich nehme den Geruch von Leberwurst wahr. Mir kommt sein Leistungsabzeichen in den Sinn, bin aber so nett und sage nichts.

Der Weg zu den Unikliniken führt durch einen Laubwald voller Buchen, Erlen und Birken, die mit ihren hellen Stämmen im Scheinwerferlicht hell leuchten. Die schmale Straße schlängelt sich in engen Kurven bergan. Irgendwo hier links im Wald versteckt sich das SWI, das sportwissenschaftliche Institut der Uni Bonn. Dort bin ich immer duschen gegangen, als ich in Endenich in einem kleinen Zimmer wohnte, zur Untermiete bei einem alten Ehepaar, nur mit Waschbecken, Klo auf dem Hof.

Schweigend fahren wir die letzten Kurven des Berges hinauf, bis die ersten Gebäude der Universitätskliniken auftauchen. Fabians Cherokee-Monstrum nähert sich tuckernd dem Pförtnerhäuschen.

Mitten im spärlichen Licht einer kleinen Tischlampe sitzt das Pförtnermännchen. Klein, schmales, langes Gesicht, eine winzige Brille auf der langen Nase. Es scheint zu lesen, sein Blick ist gesenkt, fast so, als bete es. Unwillkürlich muss ich an das tapfere Schneiderlein denken.

Fabian kurbelt die Fensterscheibe herunter. „’n Abend, Polizei.“ Er hält dem Schneiderlein seinen Ausweis entgegen. Das Männchen zieht seine braune Strickjacke enger um die Schultern, kommt mit dem Oberkörper näher an das ovale Loch in der Scheibe des kleinen Kabuffs und blinzelt über seine Brille hinweg ins Auto. Hinter ihm läuft ein Fernseher oder Radio, wir hören jemanden sprechen, dann setzt irgendein Karnevalslied ein, ich tippe auf „Ming Köln am Rhing“.

„Vun de Polizei?“ Die tiefe Stimme passt nicht zu der dünnen Gestalt. Das Schneiderlein runzelt nachdenklich die Stirn. Es schaut an Fabian vorbei zu mir herüber. „Die do och?“ Es nickt in meine Richtung und ich lächle es an. Dabei bemerke ich, wie Fabian krampfhaft geradeaus starrt.

„Ja, die auch!“, sagt er, ohne das Männchen anzuschauen. Sein Blick ist weiter starr nach vorne gerichtet, so als habe er in einem der vielen Fenster in den Kliniken einen Heckenschützen ausgemacht, den er allein durch seine Blicke daran hindern kann, auf uns zu feuern.

„Isch denk, ihr kütt imme mit denne blooe Autos.“ Er lacht über seinen kleinen Scherz, dann fängt er an zu husten.

„Die sind heute alle aus.“ Mein Tonfall ist eisig, was der Kerl aber nicht zu bemerken scheint. Jetzt erinnert er mich an einen Lotsenfisch, der still vergnügt in der Nähe eines weißen Hais nach Fischresten Ausschau hält.

Nichtsahnend beugt sich das Männchen weiter nach vorn, schiebt die Brille wieder seinen glänzenden Nasenrücken hinauf und betrachtet Fabians Ausweis. Aus dem Guckloch des Häuschens schwallt uns schlechte, abgestandene Luft entgegen. „Mir hätt noch keene jett jesaat. Isch sann jraad ees jekumme.“

Er glotzt abwechselnd auf Fabian und dessen Ausweis. „Isch jlöf, da muss isch zoeesch de Bereitschaff aanrofe. Die welle dat emme janz jenau wesse.“

Ich schließe die Augen und beginne langsam bis zehn zu zählen.

„Isch donn dat zoeesch ens affkläre. Ihr künnt do hinge esu lang de Ware affstelle.“

Keine zwei Sekunden später erhebt sich langsam zitternd die rot-weiße Schranke nach oben.

„Na also, geht doch.“ Zufrieden lehnt sich Fabian zurück und fährt langsam an. „Kein Grund zu verkrampfen“, sagt er und tätschelt mein Knie. Selbstverständlich hält er nicht kurz hinter der Schranke, wir fahren weiter auf das Klinikgelände. Wie nennt man so etwas? Passiven Widerstand?

Drei Einsatzwagen und zwei Zivilfahrzeuge stehen vor der chirurgischen Klinik. Blaulicht dreht sich irreal durch die Nacht. Kirmesatmosphäre. Aus einem Dutzend Fenster starren Patienten zu uns herab. Wir sind immer besser als das Nachtprogramm.

Fabian sieht zu den Fenstern und klatscht in die Hände. „Schlafenszeit, meine Lieben, ihr wollt doch alle gesund werden, oder?“ Er schaut erwartungsvoll zu den Glotzern hoch, die sich nicht rühren. Eine Kuhherde ist temperamentvoll dagegen. Fabian zuckt die Achseln, dann steigen wir die Stufen zur Klinik hinauf.

Kapitel 3

Margot:

Der Aufzug spuckt uns aus und wir stehen in einem hell erleuchteten Raum, irgendwo im zweiten Untergeschoss der Klinik. Ich schaue zu den beiden stocksteif dastehenden Kollegen an der gusseisernen Tür. Die Namen der Kollegen kenne ich nicht, aber uniformiert, wie sie sind, wirken sie entschieden fehl am Platz. Wahrscheinlich sollen sie verhindern, dass jemand Unbefugtes den Tatort betritt, wobei ich mich frage, wer das sein soll.

Es riecht nach Desinfektionsmittel und Staub. Ein widerliches Gemisch, das ich auf der Zunge schmecke. Unwillkürlich denke ich an das Foyer unserer Rechtsmedizin. Auch dort möchte ich eigentlich lieber ersticken als durchatmen. Ich nicke den beiden Uniformen zu und versuche ruhig zu werden, alles andere um mich herum auszublenden, so als sei ich mit dem Opfer allein im Raum, im Wald, auf der Straße, wo auch immer wir die Leiche finden. Dann atme ich langsam aus. Geräuschlos presse ich die letzte Luft aus den Lungenflügeln, bevor ich meinen Blick langsam auf den Raum richte, in dem der Tote liegen soll.

Fabian bleibt einen Schritt hinter mir. Ich rieche kalten Zigarettenrauch an ihm, wahrscheinlich der Marke „Wie findst’n Winston?“.

Es ist ein großer Raum, lang und schmucklos. Von irgendwo spüre ich einen Luftzug, der ein Blatt Papier einen Meter vor mir hertreibt, ehe es vom Metallfuß eines alten Nachttisches aufgehalten wird. Ich greife nach dem Blatt, aber es ist leer. Mein Blick richtet sich nach vorne. Rund ein Dutzend Nachttische und ein weiteres Dutzend ausrangierter Patientenbetten füllen den Raum. Alle nur schemenhaft unter einem dicken Plastikbezug zu erkennen, alle bis auf eines. Darauf erkenne ich die Umrisse eines Mannes. Er ist nackt. Seine Arme sind mit Riemen an die seitlichen Metallgitter des Bettes gefesselt. An den Handgelenken haben sich blutige Schürfwunden eingegraben. Vermutlich entstanden, als der Mann versuchte, sich zu befreien. Das zu beurteilen, gelingt mir auch ohne einen Gerichtsmediziner.

Ich stutze, als ich das Gesicht des Toten betrachte. Irgendetwas stimmt nicht. Ich gehe auf die Seite des Bettes, auf der ich das Deckenlicht vor mir habe und besser sehen kann.

Das Gesicht des Mannes ist blau und voller Blasen. Seine Augen sind starr nach oben gerichtet, sein Mund offen.

Ich entdecke eine Kunststoffflasche, die umgeworfen neben dem Bett auf dem Boden liegt.

Plötzlich steht Ben Mateus neben mir, nuschelt mir ein „Fass bloss nichts an, Margot!“ ins Ohr und beugt sich über den Toten.

Ben ist nicht nur ein Mann mit der Frisur von Dean Martin, sondern auch ein Mann der kurzen Sätze. Bei ihm habe ich immer das Gefühl, er rede nicht mit mir, sondern mit seinem Diktaphon. Alles in einer Art Stakkatostil. „Sauerei!“

Er flüstert das Wort, aber anstelle der zu erwarteten Empörung erkenne ich eine gewisse Faszination in seiner Stimme.

Ich nicke mechanisch und spüre, dass ich keinen Speichel im Mund habe. Das Opfer sieht gespenstisch aus. Die Qualen, die es durchleiden musste, will ich mir nicht vorstellen. Einer von Bens Assistenten filmt den Tatort. Das Headlight schmerzt in meinen Augen und ich wende mich ab. Fabian steht bei den beiden Kollegen an der Tür und erkundigt sich, wer den Toten gefunden hat.

Einer der beiden trägt einen buschigen Schnauzbart, der in die Zeit von Langnese-Werbung, Spider Murphy Gang und Magnum passt. Er blättert in einem kleinen braunen Notizbuch. Seine Finger sind nikotinbraun. Er schaut mich direkt an. „Eine Frau vom Reinigungspersonal. Swetlana Tschibill. Sie sitzt an der Pforte mit Susanne und …“

Ich hebe die Hand. „Wer ist Susanne?“ Muss ich seine Liebschaften kennen?

„Ach so“, er lächelt verlegen, „nur eine Kollegin von uns.“

Wer’s glaubt, wird selig!

„Oben an der Pforte sitzt niemand!“, sage ich. Ich erinnere mich an den jungen Mann, der hektisch telefonierte, als wir an ihm vorbei gehastet sind, sonst war niemand oben im Eingangsbereich, zumindest nicht vor fünf Minuten.

„Also, dann ist sie vielleicht raus oder so. Soll ich sie holen?“

Fabian nickt und Magnum drückt auf den weißen, runden Kunststoffschalter, um den Aufzug zu holen. Ist das ein Lächeln auf seinem Gesicht?

„Hey, die Schönheitskönigin ist auch schon da!“ Otto Warzers Stimme dröhnt zu mir herüber. Warzer riecht schlecht aus dem Mund, trägt jedes seiner Hemden drei Tage hintereinander, ist meist unrasiert und stiert jeder Frau hinterher. Seine fettigen Haare fallen ihm ins Gesicht und seine Hemden rutschen ihm dauernd aus dem Bund, sodass man seinen behaarten Schmerbauch sehen muss. Oder seinen beharrten Rücken.

Er winkt mir mit der linken Hand zu, wobei er den kleinen Finger versteckt hält. Wie originell.

Warzer ist einer der Lieblinge unseres neuen Chefs Friedhelm von Blasierow, der wiederum ein adliger Nichtstuer ist, dessen Beine während seiner maximal sechs Stunden Arbeitszeit pro Tag in der ausgezogenen mittleren Schublade seines Schreibtisches liegen, während er bei Fernsehgolf oder Fernsehtennis dem Feierabend entgegendämmert. Wenn er mal nicht dämmert, hat er nichts Besseres zu tun als mir zu meinen aktuellen Fällen weitere Aufgaben zu geben, mit denen ich meist im Vorfeld nichts zu tun hatte, die mich wegen der genauen Recherche aber viel Zeit kosten. Meist sind es kuriose Todesfälle, zu denen ich Blasierow ein Essay schreiben muss.

Erst gestern Morgen lag wieder eine dieser roten, mittlerweile abgewetzten Mappen auf meinem Tisch. „Kümmern Sie sich bitte!“ Blasierows krakelige Handschrift war kaum zu erkennen. Entweder war ihm die Tinte im Kugelschreiber ausgegangen oder er hatte versucht, mir mit einem Stein die Nachricht in das Post-it zu ritzen. Meine Laune stieg auch nicht weiter, als ich den Mappendeckel mit einem Finger anhob. Zögernd, als erwarteten mich darunter Pestbazillen. Was ich auf den ersten Blick sah, war das Übliche: Protokolle, Fotos, Zeugenaussagen, Gutachten, Gegengutachten, noch nicht einmal nach Datum geordnet. Hervorragend!

Der Fall selbst allerdings schien bizarr und interessant: In einem 2 000 m2